© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002


Der Mief der Fünfziger roch nach Freiheit
Legendenbildung: Die publizistischen Attacken Rudolf Augsteins auf den Adenauer-Staat werden zu Unrecht glorifiziert
Carl Gustaf Ströhm

Die Nachricht vom Tode Rudolf Augsteins ließ mich einen Augenblick innehalten, obwohl ich nicht sagen kann, ich hätte ihm oder seiner Erfindung, dem Spiegel, besonders nahegestanden. Aber dieser Spiegel war die Lektüre meiner Jugend im damals elenden Nachkriegsdeutschland. Irgendwann 1947 kaufte ich das erste Exemplar an einem Kiosk des Bahnhofs Weiden (Oberpfalz) und verschlang das Heft, das auf miserablem Nachkriegspapier gedruckt und viel dünner war als heutige Spiegel-Exemplare.

In den tristen Nachkriegsalltag brachte der Spiegel eine ungewohnte Frische, Schnodderigkeit und Keckheit. Das imponierte mir, dem damals Halbwüchsigen. Ein bißchen weite Welt, ein paar Skandale - und dazu eine Sprache, die ich im nächsten deutschen Aufsatz zu kopieren trachtete, was mir die Mißbilligung meines mir sonst wohlgesonnenen Deutsch-Studienrates, eines Sudetendeutschen, eintrug. "Ströhm", sagte er kopfschüttelnd, "Ihnen fehlen die sittliche Reife und die religiöse Gnade." Dieses schockierende Urteil war also das erste Resultat meiner Begegnung mit Rudolf Augstein, dessen faksimilierte Unterschrift in gotischen Buchstaben mir noch aus der Rubrik "Briefe des Chefredakteurs" in Erinnerung ist.

Der Spiegel dieser früher Jahre, bis über die Währungsreform im Juni 1948 hinaus, ist mir als ein Magazin in Erinnerung, das durchaus deutschnationale (oder nationaldeutsche) Positionen bezog, sich auch gegenüber den Besatzungsmächten etwas traute. Zwei Serien sind mir im Gedächtnis geblieben: Die eine, mit der Überschrift: "Ich bitte erschossen zu werden" schilderte das Schicksal deutscher Offiziere in sowjetischer Gefangenschaft. Die bezog sich auf einen Wehrmachtsoffizier, der die sowjetischen Verhör-Spezialisten aufforderte, ihn doch gleich an die Wand zu stellen, weil er Demütigung und Folterungen nicht mehr ertrug. Die andere Serie lautete "Das Spiel ist aus - Arthur Nebe". Nebe war der Chef der Kripo (Kriminalpolizei) im Dritten Reich und wurde vom NS-Regime später ermordet. Aus der Spiegel-Serie erfuhr ich, daß sich unter den Verschwörern des 20. Juli 1944 auch ein hoher SS-Offizier befand: der Polizeipräsident von Berlin, Graf Helldorf, der gleichfalls hingerichtet wurde.

Diese beiden Serien haben tiefen Eindruck auf mich gemacht, weil ich durch sie lernen konnte, wie differenziert die jüngste deutsche Geschichte verlief und wie hell und dunkel unmittelbar nebeneinander und miteinander in der gleichen Person existierten. In diesem Sinne bin ich dem ehemaligen Wehrmachtsleutnant, der zum Spiegel-Lizenzträger der britischen Besatzungsmacht avancierte, bis heute dankbar: Im Gegensatz zu späteren Jahrzehnten, als Augsteins Magazin sich unter Druck oder Opportunismus immer mehr ideologisierte, waren die ersten Spiegel-Jahre irgendwie unverdorben, fast könne man sagen: naiv, und zwar in einem durchaus positiven Sinne.

Kommentare gegen die Westpolitik Adenauers

Meine erste leise Enttäuschung über den Spiegel stellte sich ein, als ich den unglaublichen Haß Augsteins gegen die junge, im Entstehen begriffene Bundesrepublik in Bonn registrierte. Plötzlich waren die flapsige Leichtigkeit und die Unmittelbarkeit verschwunden. Das Blatt begann einen wahren Kreuzzug (sofern man das von einer derart säkularen Institution sagen kann) gegen den Bonner Adenauer-Staat. Unter dem Pseudonym "Jens Daniel" erschienen damals messerscharfe Kommentare gegen die Westpolitik des ersten deutschen Nachkriegskanzlers. Hier aber konnte ich dem Spiegel und Augstein keineswegs folgen. Meine Familie hatte bei der Flucht aus dem Osten blutige Verluste zu beklagen. Ich selber, meine Mutter und meine Schwester waren in letzter Minute der sowjetischen Feuerwalze entkommen.

Meine Familie - oder das, was davon übrig blieb, wußte noch aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs, was Bolschewismus bedeutete. Uns erschien dieser Adenauer als Garant von Freiheit und eines halbwegs normalen Lebens nach all den schrecklichen Jahren. Aus diesen Erfahrungen heraus waren wir für die deutsche Wiederbewaffnung und für die Westintegration. Für den nach 1949 aufkeimenden deutschen Neutralismus - sei er linker oder rechter Provenienz - konnten wir, die gebrannten Kinder aus dem Osten, nichts übrig haben.

Gewiß trägt jeder Blick zurück die Versuchung in sich, die Dinge zu idealisieren. Ich gehörte damals zu der jungen Generation, die aus Krieg und Untergang, aus Armut und Barackendasein in einen geordneten Staat hineinwuchs. Daher halte ich die Aussage, die Adenauer-Ära sei voller Mief und Unfreiheit gewesen, für eine der großen Geschichtslügen und Mystifikationen unserer Zeit.

So fand ich auch den Zorn und die Verachtung - anders kann man es wohl nicht ausdrücken - die Augstein und der Spiegel für den Adenauer-Staat an den Tag legten, befremdlich, ja abstoßend. Es war der Ton, der mir nicht behagte. Er enthielt etwas Selbstzerstörerisches: eine intellektuelle Auto-Destruktion. Das kulminierte dann in der Spiegel-Affäre des Jahres 1962. Damals stellte ich mich - in erster Linie aus professioneller Solidarität - in der konservativen Redaktion von Christ und Welt auf die Seite Augsteins und der anderen Verhafteten.

Aber der Sieg, den Rudolf Augstein damals über den Staat erfocht, und der öffentliche Triumph waren bereits Vorboten des 68er-Aufruhrs, der den Untergang des Adenauer-Staats besiegelte. Das mag unvermeidlich gewesen sein - aber nachträglich ist es zu bedauern. Es kam nämlich nichts Besseres nach. Die 68er haben die politische Atmosphäre dieses Landes nicht befreit, sondern vergiftet. Die Folgen spürt man bis zum heutigen Tag.


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