© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002


Meldungen

Aufregende Funde am Meeresgrund der Ostsee

WISMAR. Nach der letzten Eiszeit stieg der Meeresspiegel nur ganz allmählich an, so daß er noch über Jahrtausende erheblich tiefer lag als heute. Da menschliche Siedlungen zu allen Zeiten mit Vorliebe in Gewässernähe angelegt wurden, kann deshalb davon ausgegangen werden, daß einige der ältesten Spuren halbwegs dauerhafter Besiedlung in vom Meer überspülten Gebieten entlang der früheren Küstenlinien zu finden sind. Eine Forschergruppe aus Mecklenburg-Vorpommern, die sich seit 1998 mit der geologischen Entwicklung und Besiedlungsgeschichte der Region beschäftigt, machte unlängst vor der Insel Poel einen aufsehenerregenden Fund, der diese Hypothese einmal mehr bestätigt. Am Rand einer Untiefe wurden neben einzelnen Knochen- und Geweihgeräten vor allem Feuersteinartefakte wie etwa mit großer Präzision hergestellte schlanke Klingen, Kernbeile und Pfeilspitzen gefunden, die in die Zeit zwischen 5400 und 5100 v. Chr. datiert werden konnten und sich der nach einem Fundort in Dänemark benannten Ertebölle-Kultur zuordnen lassen. Bei den Fundstücken aus der mittleren Steinzeit handelt es sich um Überreste des ältesten bislang entdeckten Siedlungsplatzes an der südwestlichen Ostseeküste (Archäologie in Deutschland, Heft 5/2002).

 

Kollektive Erinnerung als Triebfeder der Identität

BERLIN. Entgegen einer Perspektive, die nationale Identität als "falsches Bewußtsein" der Menschen "entlarvt", schließt die Sozialwissenschaftlerin Lena Ruthner mit ihrem Aufsatz "Der tschetschenische Partisanenkampf zwischen Tradition und Moderne", der eine Analyse der Kampfstrategie und politischen Legitimation des tschetschenischen Widerstandes der Jahre 1994 bis 1996 (Erster Tschetschenienkrieg) beinhaltet, zweifellos eine Lücke. Ausgehend von den theoretischen Klassikern mit ihren idealtypischen Konzepten des "Partisanen der Revolution" (Mao Tse-tung, Che Guevara) und des "Partisanen der Tradition" (Carl Schmitt, Ernst Jünger) zeigt sie auf, daß der Separatismus der Tschetschenen weder als gegen die Moderne gerichteter Aufstand eines archaischen Stammes, noch als primär von Eliten gewünschtes abstraktes Projekt einer Staatsgründung adäquat beschrieben ist. Entgegen dem gängigen Bild der tschetschenischen Gesellschaft als einer vormodernen, traditionellen Gemeinschaft müsse vielmehr davon ausgegangen werden, daß durch Jahrhunderte russischer Herrschaft die tschetschenische Identität sehr wohl modernen Einflüssen unterlag. Entscheidend für die Mobilisierung zum Kampf sei die diskursiv vermittelte kollektive Erinnerung an eine lange Geschichte der gewaltsamen Unterdrückung gewesen, die durch die Erfahrung der älteren Generation mit der Deportation unter Stalin 1944 unmittelbar bestätigt wird. Der analytische Begriff der "Identitätskonstruktion" hat also seine Berechtigung, wenn er nicht auf eine vermeintliche Illusion verkürzt wird, sondern Identität als dialogischen Prozeß beschreibt (Berliner Debatte Initial, Heft 4/2002).


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