© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
"Ich wollte Mönch werden"
Heinrich Lummer, ehemaliger Berliner Innensenator und Bürgermeister, will seinen siebzigsten Geburtstag nicht feiern, bietet dafür aber einige überraschende Einsichten
Manuel Ochsenreiter

Abtauchen will Heinrich Lummer an seinem Siebzigsten. Keine Feier, kein Aufsehen. Dies habe es schließlich bereits zum Fünfundsechzigsten gegeben, das reicht erst mal. Wohin er abtauchen will, verrät er natürlich nicht.

Zwischen alten Ölgemälden, Madonnenstatuen und allerhand kuriosen kleinen Erinnungen in den Regalen serviert Lummer in seiner Altbauwohnung Tee und Gebäck. Zuweilen schmunzelnd, überrascht der am 21. November 1932 in Essen geborene frühere Innensenstor Berlins mit manchen unerwarteten Einblicken in sein Leben.

"Heimat" zum Beispiel, das sei für ihn, der im Sauerland aufgewachsen ist und später in Berlin Wurzeln schlug, vor allem Ostpreußen. Wie das? Über die sogenannte Kinderlandverschickung kam er aus dem alliierten Bombenterror ausgesetzten Ruhrgebiet nach Ostpreußen, wo er am Rande der Rominther Heide einige "schöne Jahre" verbringen durfte. Insofern fühle auch er sich als "Heimatvertriebener".

1948 beginnt Lummer eine Lehre als Elektromechaniker bei einem sauerländischen Elektroapparate-Bau. Er arbeitet nach der Ausbildung allerdings "nur relativ kurze Zeit" in dem Beruf. Auf einem Abendgymnasium in Dortmund macht Lummer sein Abitur. Allerdings nicht, um in der Politik Karriere zu machen, sondern um Theologie zu studieren.

"Ich wollte eigentlich Mönch werden, Franziskaner." Lummer lacht. Es macht ihm sichtlich Freude, in erstaunte Gesichter zu sehen. Doch weshalb die Abwendung vom Kloster und die Hinwendung zur Politik? "Na, die Umstände im Leben..." wird Lummer auffällig unkonkret, und wie von höherer Gewalt geschickt, bewahrt ihn das Klingeln seines Telefons vor nachbohrenden Fragen.

Den Wunsch in die Politik zu gehen, sieht Lummer als "naheliegend" an. Schließlich ginge es dort auch darum, "Menschen zu gewinnen und zu beeinflussen". Ein Diplom-Studium in Politischer Wissenschaft kann damals in Deutschland nur an der Berliner Hochschule der Politik absolviert werden - und so kommt Lummer als Erstsemester im Sommer 1957 nach West-Berlin. Mit einigen Kommilitonen gründet er den "Studienkreis für staatsbürgerliche Arbeit" und zieht - finanziert vom Bundespresseamt - politische Vorträge haltend durch die Berliner Vereinslandschaft. Für die dazu gehörenden Filmvorführungen macht er sogar den "Filmvorführerschein". "Und so sind wir durch die Vereine gezogen und haben gepredigt" - da war er also wieder, der Mönch.

Dies zieht sich bei Heinrich Lummer durch wie ein roter Faden. Wo er ist, missioniert er, predigt er. Da ist es für ihn nur ein kleiner Unterschied, ob er als Priester von einer Kanzel predigt, oder als moderierender Filmvorführer in den späten Sechzigern beim Heimkehrerverband.

Sein Diplom macht Lummer in für heutige Verhältnisse fast rekordverdächtigen acht Semestern. Zwischen 1962 und 1964 arbeitet er am Institut für Politische Wissenschaft der Freien Universität und plant eigentlich eine Karriere in der Wissenschaft.

Das Angebot, als Fraktionsgeschäftsführer der CDU im Abgeordnetenhaus zu arbeiten, beendet die Universitätslaufbahn. Ab 1965 beginnt für den 1953 in die CDU eingetretenen Lummer eine steile Parteikarriere. Zuvor predigte er allerdings schon ein Jahr als Leiter des Besucherdienstes des Bundeshauses Berlin zu angereisten Touristen- und Besuchergruppen. Er wird Mitglied des Abgeordnetenhauses, CDU-Fraktionsvorsitzender und schließlich von 1981 bis 1986 Innensenator und Bürgermeister Berlins. Von 1987 bis zu seinem politischen Ruhestand 1998 ist er Mitglied des Bundestages. Seine Zeit als Innensenator brachte ihm den Ruf eines ruppigen "Hau-drauf-und-schluß" ein. In dieser Zeit läßt er zahllose besetzte Häuser in West-Berlin räumen. "Die wollten den Staat herausfordern", und Lummer vertritt den Staat, indem er sicherstellt, daß ein Haus nach dem anderem von den Besetzern geräumt wird. Gerne wird er in dieser Zeit - als Anspielung auf seine Körpergröße sowie auf das bis dahin ungewohnte staatliche Durchgreifen - vor allem von der linken Presse als "Berliner Napoleon" tituliert.

Die politische Laufbahn Lummers enthält allerhand farbige Tupfer und Skandälchen, die ihm allerdings schnell verziehen wurden. Da war beispielweise in den siebziger Jahren eine Romanze mit einer Ost-Berliner Stasi-Agentin oder ein paar Jahre zuvor eine Geldspende an eine rechte Gruppe, damit diese nicht konkurrierend zur CDU zur Abgeordnetenhauswahl antrat.

Lummer ist gläubiger Christ, präziser noch: Vollblutkatholik. Trotz aller "Schwächephasen" der institutionellen Kirche ist sein Glaube an den Katholizismus unerschütterlich. "Wenn dieser Sauladen 2000 Jahre bestanden hat, dann wird schon was dran sein. Das muß erst mal einer nachmachen", zitiert er süffisant einen Jesuitenpater und schenkt Tee nach.

Heinrich Lummer ist trotz seiner vehementen Kritik an den politischen und kulturellen Zuständen wohltuend zufrieden - kein Schimpfer. Er strotzt geradezu vor innerem Gleichgewicht. Man spürt, daß er für sich "den Sinn des Lebens" gefunden hat, wie er erklärt. Und ohne daß man es bemerkt predigt Heinrich Lummer wieder.

Seine Wohnung ist weniger die eines Polit-Pensionärs, als die eines Philosophen. Der CDU-Stammtischwimpel ist in die Küche, hinter den Teekessel verbannt. Inmitten der klassischen Malereien, Statuen, Monstranzen und Kelche fällt eine fernöstliche Tusche-Zeichnung eines Pferdes auf. Ein Freundschaftsgeschenk eines Generals Tschiang Kai-schecks, welches dieser in wenigen Minuten in Taipeh für Lummer zeichnete. Im Regal liegen völlig zerlesen die Werke Shakespeares und Goethes als Reclam-Ausgaben. An der Biographie Ceausescus lehnt die von Richard III.

Als Politiker lebte er von der Substanz, nun nutze er, der heute gerne Klavier spielen können würde, allerdings in seiner Jugend nur einige Gitarrengriffe lernte, die Phase zur "Regeneration". Diese zeigt sich durch eine schwindelerregende Vielseitigkeit, die man kaum hinter jemandem vermuten würde, der von den Medien nur allzu gerne auf den "CDU-Stahlhelmer" reduziert wird. "Wenn ich eines nicht kenne, dann ist es Langweile", lacht er, wenn er danach gefragt wird, was er denn den lieben langen Tag so mache. Er ist kein orchideenzüchtender Polit-rentner.

Lummer studiert Kunstgeschichte an der Freien Universität, liest Klassiker, moderierte für ein Jahr auf dem Lokalsender TV-Berlin eine Talkshow, ist leidenschaftlicher Shakespeare-Fan und bespricht schon mal für Freunde und Bekannte Kassetten mit berühmten literarischen Monologen - und dies in erstaunlicher Professionalität. Bereits als Schüler konnte er dafür üben - als Mephistopheles-Darsteller in einer Faust-Inszenierung des Schultheaters.

Ungewöhnlich auch einer seiner Lebensträume. Lummer, der sich als Innenpolitiker seinen "Law-and-Oder"-Ruf erwarb, wäre am liebsten Staatssekretär im Auswärtigen Amt geworden. Warum nicht Außenminister? "Ich bin doch kein Hochstapler", flachst Lummer - aber schaut ernst dabei. "Wer dem Staat dient, muß dahin gehen wo er gebraucht wird", überrascht der katholische Ruhrgebietler mit preußischer Staatsauffassung. "Ein anständiger Konservativer sagt wie Paulus: Was immer du tust, mache es richtig und vernünftig!" findet Lummer wieder für kurze Zeit zum Ton des Predigers zurück, ohne dabei aufdringlich zu wirken.

Sein anderer, nun vor ihm liegender Lebenstraum klingt da schon etwas anders. Er wolle anständig und bewußt sterben dürfen, im Gleichgewicht eben. Doch auch selbst bei solch ernsten Themen verliert Lummer nicht seine Gelassenheit.

Depressionen scheinen ihm, der nächstes Jahr sein 50jähriges Parteijubiläum bei den Christdemokraten feiern darf, völlig fremd. Und so verabschiedet er seine Gäste auch nicht - wie man es jetzt wohl erwarten würde - mit schwer im Magen liegenden Zitaten zum Nachdenken, sondern mit einem "Gentlemen, es war mir ein Vergnügen."


 
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