© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
"Eine Diktatur ist besser als kein Staat"
Im Gespräch: Heinrich Lummer über die CDU nach der verlorenen Bundestagswahl, die Würde des Staates und die Orientierung am Gemeinwohl
Thorsten Thaler / Moritz Schwarz

Herr Lummer, der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, bescheinigt dem bügerlichen Wählerblock in Deutschland, insbesondere also der CDU, den "Verlust der strukturellen Mehrheit". Teilen Sie diese Einschätzung?

Lummer: Das politische Koordinatenkreuz hat sich nach links verschoben. In der Tat gibt es zur Zeit links von der CDU eine Mehrheit. Ob das nun bereits strukturell, das heißt auf lange Zeit nicht mehr änderbar ist, das weiß ich nicht.

Wo sehen Sie die Ursachen für diese Verschiebung des Koordinatenkreuzes?

Lummer: Diese Verschiebung hat ganz gewiß etwas mit den Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit zu tun. Die CDU ist groß geworden mit dem Begriff Freiheit, das war der dominante Begriff in den fünfziger, auch noch in den sechziger Jahren. Heute dominiert der Begriff Gleichheit, hinter dem sich nicht zuletzt ein ausgemachter Neidkomplex verbirgt. Dieser Komplex ist stärker geworden im Westen Deutschlands, besonders ausgeprägt aber ist er im Osten. Dort denken viele immer noch in den alten Kategorien. Statt jedem das Seine, wollen sie für jeden das Gleiche.

Ist die Union also ein spätes Opfer der Wiedervereinigung?

Lummer: So können Sie das sehen. Die letzte Bundestagswahl ist in Mitteldeutschland verlorengegangen.

Das klingt so, als ob Sie trotz aller Freude über die Wiedervereinigung auch mit einer Träne im Auge der alten Bonner Republik nachtrauerten.

Lummer: Nein, so würde ich das nicht ausdrücken. Es dauert eben eine Generation, bis auch die geistige Spaltung überwunden ist.

Aber hat das schwache Abschneiden der CDU bei der Bundestagswahl nicht auch mit ihren unklaren Konturen in vielen inhaltlichen Fragen zu tun?

Lummer: Natürlich muß die Union ihre Positionen vertreten und darf nicht immer darüber nachdenken, wie sie es jedem recht machen kann. Wenn die Wähler das dann nicht wollen, wählen sie eben ihren Untergang. So einfach ist das. Heute ist wirklich Wählerbeschimpfung angesagt. Wie kann man so eine Regierung ein zweites Mal wählen? Ich bitte Sie!

Machen Sie es sich nicht ein bißchen zu einfach? Die Union hat doch kaum mehr Standpunkte, die sie von der SPD unterscheiden.

Lummer: Sicherlich hat es auch etwas damit zu tun. Aber ich muß immer noch überlegen, was das kleinere Übel ist, wenn ich an das Vaterland denke. Aber richtig ist, daß die CDU ihre Positionen deutlicher und schärfer hätte vertreten müssen. Die Leute honorieren das auch.

Warum betreiben Sie dann eine so massive Wählerschelte?

Lummer: Sie neigen dazu, immer zuerst die CDU zu beschimpfen.

Danke für das Kompliment. Tatsächlich hat die Union doch früher schon den Fehler begangen, jede Partei, die sich "rechts" von ihr zu etablieren versuchte, wegzubeißen.

Lummer: Es hat sich gezeigt, daß keine Partei eine reelle Chance hat, auf Bundesebene eine absolute Mehrheit zu bekommen. In dieser Situation muß man nach einem Koalitionspartner Ausschau halten und notfalls sogar versuchen, ihn sich selber zu schaffen. Das war der Gedanke bei Kreuth 1976. Aber die Union hat es nicht gewollt, sie hat immer gesagt, rechts von der CDU/CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben. Das halte ich für nicht richtig. Auf der anderen Seite muß man sehen, daß zum Beispiel die Republikaner sich selbst kaputt gemacht haben, ebenso Manfred Brunner mit seinem Bund Freier Bürger, und daß diese Versuche nicht sehr professionell angelegt waren.

Die Erfolglosigkeit rechter Parteien spricht noch nicht gegen die strategische Überlegung, daß der Union neben der unzuverlässigen FDP ein zweiter potentieller Koalitionspartner fehlt.

Lummer: Richtig. Aber ich kann es nicht ändern, ich kann nur dafür werben.

Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm hat die Union vor der Verschleuderung ihres konservativen Tafelsilbers gewarnt. Ist dieses Tafelsilber nicht schon längst an den Zeitgeist verkauft worden?

Lummer: Ich weiß nicht, was Sie unter Tafelsilber verstehen, das müßte man erst mal klären. Jedenfalls ist es für mich nicht allein die konservative Position zur Familienpolitik. Es sieht im Moment ein bißchen so aus, als erschöpfe sich das darin. Für mich ist das vor allem die Erhaltung der Nation. Dazu gehört zwar auch die Familienpolitik, denn wenn eine Nation keine Kinder mehr kriegt, dann bricht die Dekadenz aus. Aber es hat natürlich auch mit Zuwanderung zu tun, mit Identitätsbewahrung angesichts einer Massenzuwanderung, mit Selbstbewußtsein und Interessenvertretung. Da sehe ich den Schwerpunkt.

Für eine Mehrheit in der Union scheint das kein wichtiges Thema mehr zu sein.

Lummer: Ich bin überzeugt davon, daß die Mitglieder und Wähler der CDU/CSU weitgehend Menschen sind, die an der Identität der Nation ebenso festhalten wollen wie an traditionellen Wertvorstellungen im Hinblick auf Familie, Gesellschaft und Staat. Richtig ist wohl, daß in bestimmten Führungsbereichen eher eine Anpassung an den vermeintlichen Zeitgeist existiert.

Vor fünfzehn Jahren haben Sie in Ihrem Buch "Standpunkte eines Konservativen" prognostiziert, der Konservativismus werde die bestimmende Strömung im 21. Jahrhundert sein. Hand aufs Herz: Müssen Sie heute nicht eingestehen, daß da mehr der Wunsch der Vater des Gedankens war?

Lummer: Daß der Wunsch dabei eine Rolle gespielt hat, räume ich gern ein. Aber warten Sie mal ab, wir stehen ja erst am Anfang des 21. Jahrhunderts.

Die bisherige Entwicklung spricht nicht gerade dafür, daß Sie recht behalten.

Lummer: Das können Sie ja gern behaupten. Ich glaube immer noch daran, daß die Menschen darauf kommen werden, daß nur so Überlebenschancen für die europäischen Nationen und für Europa vorhanden sind.

Was, bitte schön, gilt es denn heute noch zu bewahren?

Lummer: Wichtig ist, daß die Leute nicht das Gefühl bekommen, der Staat sei nicht in der Lage, sinnvolle Führung wahrzunehmen. Wenn man am Staat zweifelt, dann geht der Weg nach Wild West bis hin zur Selbstjustiz. Der Staat ist bei uns im Begriff, seine Würde zu verlieren, weil er sich in jeden Kappes einmischt. Was hat der Staat zum Beispiel mit Ladenöffnungszeiten zu tun?

Das tut er nicht erst seit gestern.

Lummer: Es wird immer noch ausgedehnt. Dabei kann der Staat nur verlieren. Deswegen muß er sich auf seine Hoheitsfunktionen und die Gestaltung von Rahmenbedingungen für den Sozialstaat zurückziehen. Die Errungenschaft der Moderne ist nicht zuletzt ein Staat mit dem Gewaltmonopol, der Ordnung und Sicherheit garantiert. Den brauchen wir. Und er muß akzeptiert sein. Deshalb darf er sich nicht selbst entwerten. Ganz schlimm ist es in jenen Ländern, wo die Staatlichkeit faktisch verloren ist und warlords das Geschehen bestimmen. Denken Sie an Kolumbien, das Afghanistan der Taliban oder den Libanon des Bürgerkrieges. Wer das vor Augen hat, versteht den Satz: Selbst eine Diktatur ist besser als gar kein Staat.

Nun sind die Repräsentanten des Staates alles andere als beispielgebend.

Lummer: Natürlich spielt das eine Rolle. Deswegen muß man von Politikern im Grunde mehr erwarten.

Die Deutschen haben doch kein Interesse mehr am Staat, wie sich an der Hinnahme von Zuwanderung zeigt.

Lummer: Deswegen bin ich auch so interessiert daran, daß die Identität des Staates erhalten bleibt. Massenzuwanderung über längere Zeiträume ist geeignet, diese Identität zu zerstören. Wenn sich die Zuwandernden nicht integrieren und sich nicht mit dem Staat identifizieren, kommt es zur Zerstörung des Staates durch eine multikulturelle Struktur.

Meinen Sie, es ängstigt die Deutschen, daß sie in Zukunft keinen eigenen Staat mehr haben werden?

Lummer: Ich bin vorsichtig bei Ihrer Verallgemeinerung, aber ich glaube, daß eine Mehrheit der Deutschen genau das befürchtet.

Muß man nicht auch Verständnis für diejenigen haben, die sich angesichts der politischen Klasse und des desolaten Zustandes unseres Landes immer reservierter dem Staat gegenüber verhalten?

Lummer: Es gibt doch nur die Alternative, sich in die Nische zurückzuziehen oder auszuwandern. Sich in die Nische zurückzuziehen heißt für mich, sich nicht mehr am Gemeinwohl zu orientieren. Das finde ich unerträglich. Zum Mitmachen gibt es keine Alternative.

Wie und wo sollte man sich heute politisch engagieren? Die Parteien sind nicht attraktiv ...

Lummer: Dann müssen Sie eine neue gründen. Ich werde Sie dann beraten.

Darauf kommen wir später zurück. Aber das führt uns zu der Frage, ob Ihnen die aktive Politik eigentlich fehlt?

Lummer: Mir fehlt sie nicht, aber manchmal denke ich in aller Bescheidenheit, daß ich ihr fehle, wenn ich sehe, was in der Berliner CDU los ist.

Sie scheinen nicht sehr zufrieden mit Ihren politischen Enkeln zu sein.

Lummer: Nein, ich bin nicht zufrieden mit der Berliner CDU, wahrlich nicht.

Haben Sie noch persönlichen Kontakt zur jetzigen Führungsriege?

Lummer: Nein.

Hat der im Moment starke Mann der Berliner Union, Fraktionschef Frank Steffel, Sie mal angerufen und um Rat gefragt?

Lummer: Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Steffel oder andere Jungpolitiker kommen, um sich beraten zu lassen, obwohl das manchmal sehr nützlich wäre. Ich würde auch gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen, kostenlos, aber da fragt keiner nach.

Schmerzt Sie das?

Lummer: Mich schmerzt es nicht persönlich, sondern für die Partei und für das Land, denn die Partei ist nicht für sich selber da, immer nur für das Gemeinwesen. Doch ich habe inzwischen gelernt, daß jede Generation ihre Fehler selber machen will, sie wollen erst aus schlechten Erfahrungen klug werden, und nicht aus den Erfahrungen, die andere Generationen schon gemacht haben.

Foto: Heinrich Lummer im Gespräch mit den JF-Redakteuren Manuel Ochsenreiter (l.) und Thorsten Thaler: "Erhaltung der Nation"

 

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