© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
Nichts war ihm fremd
Der letzte große Entdecker: Vor fünfzig Jahren starb der deutschfreundliche Asienforscher Sven Hedin
Wolfgang Saur

Im Königreich Schweden wurde die letzte Nobilitierung 1902 ausgesprochen. Betrachtete man das Wappen des Geehrten, so zeigte es auf goldenem Schildgrund einen Globus, der Asien ins Blickfeld rückte, als Bekrönung einen Wanderfalken und darunter die Maxime: "Durch Willen und Arbeit". Sinnig charakterisierte die Emblematik ihren Träger, verdankte dieser seine Rangerhöhung doch eigener Kraft und Anstrengung, mit welcher er unerhörte Reisen unternommen, extremen Gefahren getrotzt und sie einem staunenden Publikum mitgeteilt hatte. Dieser illustre Abenteurer und Forscher war Sven Hedin. Man nennt ihn als den letzten einer Reihe großer Entdeckerfiguren seit der frühen Neuzeit, die aus faustischem Tiefendrang oder imperialer Phantasie die Welt eurozentrisch durchforscht und erobert haben. Freiheitsdrang und Wagemut, Wissensdurst, Einbildungskraft und poetische Ader, soziale Kompetenz, Unternehmergeist, schließlich Glück mußten hier zusammentreffen.

Sven Hedin wurde am 19. Februar 1865 in Stockholm als Sohn eines Architekten in einer großbürgerlich-musischen Familie geboren. Schon in der Schule fällt seine geographische Obsession auf, als er 1878 riesige Landkarten und einen Weltatlas in sechs Bänden akribisch anfertigt. Das trägt ihm eine erste Asienreise zu. Er kommt nach Baku ans Kaspische Meer und gelangt von dort aus nach Persien (1885/86), was im Jahr darauf seine erste Publikation schilderte: "Durch Persien, Mesopotamien und Kaukasien". Gleichzeitig studiert er im Schnellverfahren vier Semester Geologie, Mineralogie, Kristallographie, Zoologie und Latein. Von einer zweiten (diplomatischen) Iranreise (1890/91) unterbrochen, vertieft er seine wissenschaftliche Ausbildung als Schüler des Geographen Ferdinand Richthofen in Berlin seit 1889 und promoviert 1892 in Halle. Wichtig werden daraufhin die Jahre 1893 bis 1897, in die seine erste zentralasiatische Expedition fällt; sie durchquert Wüsten, sucht ins tibetische Lhasa vorzudringen und wird erfolgreich durch ihre epische Bilanz ("Durch Asiens Wüsten", 1899).

Hedin ist jetzt ein prominenter Zeitgenosse, Schriftsteller und Medienereignis. Er reist zwischen Petersburg und London umher und hält zahlreiche Vorträge, trifft die Mächtigen und etabliert sich als angesehener Großautor, der seine Leser zu bedienen weiß: nicht nur die Fachleute mit Statistik und tiefschürfenden Problemlösungen und das bürgerliche Publikum mit fesselnden Schmökern, sondern auch die Jugend mit altersgemäßen Abenteuern. Märchenhaft seine Produktivität: 88 Bücher, die in 23 Sprachen übersetzt werden. Hedin schreibt schnell, konzentriert und immerfort; auf den Reisen hält er alles im Tagebuch fest, seinem Reservoir, aus dem er später mit unheimlicher Vorstellungskraft schöpft, um anschaulich dicht die kolossalen Vorkommnisse literarisch zu gestalten. Dabei leitet ihn die Vielschichtigkeit der Erscheinungen. Gleich der älteren Kosmographie Alexander Humboldts verschmilzt er mit der Naturforschung die Anthropologie der bereisten Regionen und bringt ein wahres Universum von Daten und Erlebnissen literarisch gewaltig zu einzigartiger Anschauung. Ob in Europa oder Asien unterwegs, immer durchdringt er Naturkunde mit Geschichte, Sozialkunde, Sprache, er besucht alle Denkmäler, schildert Kunst und Religion, das Brauchtum, Landwirtschaft, nichts Lebendiges scheint ihm fremd zu sein. Daß er an den Extremtouren weder scheiterte, noch als Literat im Stoff ertrank, erweist seinen "auctorialen" Standort als Mensch und Intellektueller - exotisch in einer Zeit, welche Relativität, Perspektivismus und Fragment als modernes Kulturschicksal erlitten und thematisiert hat.

Hedins grenzenloses Weltvertrauen, sein unerschütterliches Selbstgefühl und seine sprachliche Virtuosität faszinieren im Rückblick auf die Verstörungen der Epoche: das Zerbröckeln der Erfahrung, die tiefe Sprachskepsis und das Verschwinden des bürgerlichen Subjekts. Von da aus kann ein böser Blick auf solch unverwüstliche Souveränität fallen und das "Heldenleben" seitens heutiger Kafka- oder Tucholsky-Fraktionen schlechte Karten kriegen. Um so mehr, als sich Hedins Genialität bisweilen tatsächlich verband mit gründerzeitlicher Attitüde und "cäsaristischem" Feldherrnblick. "Ich traute mir zu, eine große Schlacht zu schlagen und ganz Asien erobern zu können (...)", er benehme sich "wie einer der größten Staatsmänner des Jahrhunderts". Was Wunder, daß heutige "Ideologiekritiker" ihn gerne demontieren, um so mehr, als der Schwede den politischen Versuchungen des Jahrhunderts sämtlich auf den Leim ging: Autokratie, Nationalismus, Antikommunismus, Germanophilie, Anti-Versailles usw. In dieser politkorrekten Perspektive schrumpfen dann seine Verdienste auf monströse Selbstinszenierung und Übermenschenmythos, zu einer reaktionären "Gipfelkunde".

Richtig beobachtet ist allerdings der literarische Konstruktionsaspekt seiner Bücher. Oft orientiert sich deren Komposition an ästhetischen Mustern, wie denen des Abenteuerromans, die etwa Hedins Dramaturgie der Krisenmomente und Katastrophenszenarien strukturieren. Weltliterarisch prominent ist die Schilderung seines Überlebenskampfs in der Wüste Takla-Makan 1895. Grenz-erfahrungen spielen bei Hedin eine große Rolle, doch artikuliert sich hier weniger der seine Wirkung knallhart kalkulierende Autor als vielmehr der Freiheitsdurstige, der Selbstüberwindung als initiatisches Ereignis provoziert.

Hedins zahlreiche Expeditionen setzten sich bis 1935 fort. Er entdeckte die Quellgründe von Indus und Brahmaputra, realisierte den Transhimalaya als zusammenhängendes Gebirgssystem und enträtselte den Lop-nor als wandernden See. Den gewandelten Forschungsverhältnissen waren seine letzten Unternehmungen durch die Mongolei, Wüste Gobi und Ostturkestan angepaßt: Nicht mehr der heroische Einzelkämpfer leistete nun das Programm ab, sondern ein komplettes Team. Hedin war nur mehr Chef und Koordinator einer "wandernden Universität", eines Stabes von 28 internationalen Spezialisten, die 34 Diener und 292 Kamele mit sich führten.

Doch gibt es nicht nur Sven Hedin, den obsessiven Globetrotter, sondern auch den Zeitzeugen und politisch Engagierten. Hier "schwankt sein Charakterbild in der Geschichte". Sehr begreiflich, haben die Zeitumstände seine persönliche Weltläufigkeit doch konterkariert durch die säkularen Turbulenzen des politischen Globus. Die Verwerfungen zumal des "europäischen Bürgerkriegs" machten Konflikt und Parteilichkeit so oder so unausweichlich. Das begann schon mit seinem heimischen Patriotismus und dessen Losung: Für König, Volk und Vaterland. Er griff in die Rüstungsdebatte 1905 ein, engagierte sich für den Flottenbau, pries die Monarchie und verachtete den Sozialismus. Er wurde ein Gegner Rußlands, zumal als dort der Bolschewismus die Weltrevolution anheizte. Dem englischen Cant war er mißtrauisch und gereizt auf der Spur; das Empire, als die imperialistische Ordnung der Zeit, bestimmte noch das internationale System. Seine Ablösung durch die USA begriff er wohl, Roosevelt haßte er als Initiator der mißlungenen Versailler Friedensordnung.

Freundschaftlich fühlte er sich den Deutschen verbunden. Hier wirkte Hedins akademische Sozialisation prägend. Lebenslang pflegte er engen Kontakt zum Richthofen-Kreis und der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin. 1914 hatte er als Befreiung von der Einkreisung verstanden. Er wirkte propagandistisch für die deutsche Politik, indem er den "Haß gegen Deutschland, das mehr als jedes andere Land der Menschheit hohe ideelle Werte, Entdeckungen, Erfindungen und Gedanken geschenkt" habe, publizistisch bekämpfte ("Ein Volk in Waffen", 1915). 1918 verzweifelte er und hoffte doch auf eine große Zukunft seiner zweiten Heimat. Hatte es schon Kontakte mit Wilhelm II. und mit Weimarer Regierungsstellen gegeben, verkehrte er später mit der NS-Elite auf intimem Fuß - Begegnungen, an die er sich in "50 Jahre Deutschland" (1938), "Ohne Auftrag in Berlin" (1949) und "Große Männer, denen ich begegnete" (1951/52) erinnert hat.

Als Hedin einst aufbrach zu seiner ersten Expedition, empfand er, daß "mehr als tausend und eine Nacht voll Einsamkeit und Sehnsucht" vor ihm lägen; das Schicksal sei ungewiß, doch die "die ganze Welt offen" und "ich hatte fest beschlossen, alles zu tun, was in meiner Macht stand, um die Aufgabe, die ich mir gestellt, zu lösen". Das hatte sich nun erfüllt. Im Februar 1952 war Knut Hamsun gestorben, und jetzt, am 26. November, machte sich auch Sven Hedin auf seine letzte Reise.


 
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