© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002


"Ein Konzept von Tory-Demokratie"
Karlheinz Weißmann über Krise und Erneuerung des politischen Konservatismus und die "Meuterei auf den Golfplätzen"
Moritz Schwarz

Herr Dr. Weißmann, ein Interview des brandenburgischen Innenministers und CDU-Landeschefs Jörg Schönbohm mit dieser Zeitung (JF 47/02), in dem Schönbohm die Union an ihr konservatives Profil erinnert hat, blieb trotz großen Presseechos in den Reihen der eigenen Führung ungehört. Angesichts des strammen Durchmarsches der Union in die politische Mitte, der verheerenden Niederlage der Schill-Partei bei der Bundestagswahl und des Scheiterns des Bundes Freier Bürger und der Republikaner im vergangenen Jahr, steht keine erfolgversprechende konservative Formation mehr im politischen Wettbewerb. Ist der politische Konservatismus in der Bundesrepublik Deutschland damit gescheitert?

Weißmann: Bevor ich diese Frage beantworte, müßte geklärt werden, ob ihre Grundannahmen stimmen: Ich habe schon vor zwei Jahren meine Skepsis im Hinblick darauf geäußert, daß in absehbarer Zeit eine nichtlinke Partei außerhalb der Union zu etablieren sein wird. Der Grund dafür ist ganz einfach: das (Wahl-)Volk will so eine Partei nicht. Die Stabilität des Parteiensystems hat etwas von angelsächsischen Verhältnissen angenommen. Das muß nicht so bleiben, aber unter den gegebenen Umständen wäre eine von der CSU geführte Bundesregierung das beste gewesen, was uns hätte passieren können. Stoiber war sicher die stärkste politische Potenz, die das bürgerliche Lager seit den Zeiten Adenauers aufgeboten hat. Und bayerische Verhältnisse im Bundesmaßstab, - was für eine Verbesserung gegenüber den jammervollen Zuständen, die wir schon haben und denjenigen, die uns noch bevorstehen. Die Zukunft des Konservatismus in Deutschland ist meiner Meinung nach aber erst in zweiter Linie davon abhängig, wie Wahlen ausgehen oder welche Mehrheitsverhältnisse im Parlament herrschen.

Einerseits wurde der Anpassungskurs Edmund Stoibers, wie der äußerst geringe Stimmenzuwachs der CDU beweist, vom Wähler nicht belohnt, andererseits ziehen, bis auf Schönbohm, die Eliten der Union den Schluß daraus, der Anpassungskurs sei einfach nicht konsequent genug gesteuert worden, obwohl eine Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung (siehe JF 43/02) das Gegenteil besagt. Warum zieht die Union diese falschen Schlüsse aus dem Wahl-Debakel?

Weißmann: Meiner Meinung nach darf man die politische Elite nicht unterschätzen. Was diese Leute in ihre Positionen gebracht hat und erklärt, warum sie dort sind - und keiner von uns beiden - hängt nicht nur mit ihrem Opportunismus zusammen, sondern mit ihrem Instinkt für die Gegebenheiten der Macht. Praktische Politik heißt immer, auf diese Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen, und sie nimmt keine Rücksicht auf die Konservativen, weil diese keine Macht haben, denn sie stellen keine Gruppe von Belang dar. Das liegt nicht an der geringen Zahl, sondern an dem Mangel an Organisiertheit, an Lautstärke und Empörungsbereitschaft. Angesichts dessen sind die Schlüsse der Unionsführung nicht "falsch", zumal ich vermute, daß die Gruppe der Älteren, also doch der Alt- oder Uraltachtundsechziger, die jetzt das Renten- oder Pensionsalter erreichen, wahrscheinlich in dem schlechten Sinne "konservativ" ist, daß sie an ihren früheren Irrtümern festhält.

Warum ist die Geschichte des politischen Konservatismus jenseits der Union, von der Deutschen Partei (DP) und dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) in den fünfziger Jahren bis zur Schill-Partei heute, eine Geschichte des Scheiterns? Gibt es einen immer wiederholten Fehler?

Weißmann: Mindestens spielte immer die Unfähigkeit eine Rolle, die eigene Klientel wirkungsvoll zu formieren und die angeblich rechte Kardinaltugend "Disziplin" zur Geltung zu bringen. DP und BHE litten sicherlich zudem an einem traditionellen Defekt deutscher Konservativer: rückhaltlos gouvernementaler Ausrichtung. Aber es gab auch Zeitumstände, die hier wie in allen modernen Ländern wirksam waren und einer genuin konservativen Partei die Basis entzogen. Ob man die Partei Rechtsstaatlicher Offensive in diesem Zusammenhang nennen darf, scheint mir übrigens zweifelhaft: Die versucht ja bewußt, ohne weltanschaulichen Überbau auszukommen und in erster Linie die "alte Mitte" für sich zu gewinnen, das heißt, in Hamburg zielt sie vor allem auf traditionelle Stammwähler der Sozialdemokratie.

Wenn die Union auf unabsehbare Zeit keine konservative Politik machen wird, wie werden darauf die konservativen Wähler reagieren? Werden sie mit der Union weiter nach links wandern, oder werden sie das politische Reservoir für eine neue Rechtspartei?

Weißmann: Mir ist nicht klar, ob wir dieselbe Klientel meinen, wenn wir von den "konservativen Wählern" sprechen. Traditionell waren das die kirchengebundenen Schichten, die Vertriebenen, die Bauernschaft und bestimmte Teile des Bürgertums. Die Bedeutung aller dieser Gruppen hat abgenommen, wie überhaupt die Geschlossenheit von sozialen Milieus eine schwindende Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Wenn sie an die Sammlung dieser Reste - innerhalb oder außerhalb von CDU und CSU - denken und sich davon etwas versprechen, ist Ihnen nicht zu helfen. Es gehen von diesen Gruppen keine Impulse aus, und sie haben sich eigentlich mit ihrer Bedeutungslosigkeit abgefunden - denken Sie doch nur an die verzweifelten und etwas peinlichen Bemühungen des BdV, sich wieder ins Spiel zu bringen. Wenn man heute etwas für die konservative Position tun wollte, müßte man wohl das wiederholen, was Benjamin Disraeli mit seinem "One-Nation"-Programm gemacht hat und ein Konzept von Tory-Demokratie vorlegen, das in einer neuen Weise attraktiv und zukunftsorientiert wäre. Aber das hätte natürlich ganz anders auszusehen, als dieses Gerede von "Wir-Gesellschaft" und "Neuer Sozialer Marktwirtschaft" einerseits oder die Begeisterung für Musikantenstadl und den Bild-Zeitungs-Konservatismus andererseits.

Vor wenigen Monaten noch sah es so aus, als ob Europa durch eine "Welle" von rechtsoppositionellen Parteien erneuert werden würde. Die Projekte in Holland und Österreich scheinen vorerst gescheitert, und in Frankreich ist mit dem zunehmenden Alter Le Pens Ähnliches zu erwarten. Wie ist das Brechen dieser europäischen Welle zu erklären?

Weißmann: Die Hauptursachen sind meiner Meinung nach die, an denen auch die meisten populistischen Bewegungen der Vergangenheit gescheitert sind: mangelnde ideologische Konsistenz, zu starke Fixierung auf einen charismatischen Führer, ein großer Anteil catilinarischer Existenzen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Jede moderne Partei - ob nun die Sozialisten oder der politische Katholizismus - wies zu Anfang populistische Züge auf, aber irgendwann mußte die Überführung in einen neuen Zustand folgen. Diese Überführung ist zwangsläufig mit Frustrationen verbunden: man braucht eine Elite, die Einsicht in das Notwendige hat, man ist gezwungen, den Bewegungscharakter abzustreifen und aus der Verneinung des Bestehenden zur Bestimmung positiver Ziele weiterzugehen. Insofern war auch die Entwicklung der Grünen nicht einfach ein Bruch mit dem Idealismus der Gründerjahre, sondern mehr oder weniger zwangsläufig. Übrigens wird der Nährboden für den Populismus wohl auch in Zukunft fruchtbar bleiben. Thomas Schmid hat unlängst in einem Leitartikel der FAZ darauf hingewiesen, wie regelmäßig die bürgerlichen Parteien in Europa eines populistischen Partners bedurften, um angeblich festgefügte linke Mehrheiten zu brechen.

Also vielleicht eine Chance für eine Möllemann-Partei?

Weißmann: An dieser Spekulation möchte ich mich ungern beteiligen. Um es noch einmal zu betonen: Ich halte nicht viel von der Fixierung auf die Frage der Partei oder der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. Die SPD, die heute die Regierung führt, ist eben nicht dieselbe wie die Brandt-SPD oder die Schmidt-SPD. Die Köpfe sind von anderer, minderer Qualität, aber vor allem haben sich die Ideen, die als "sozialdemokratisch" vertreten werden, geändert. Mich interessiert diese Änderung und die Frage, wie sie bewirkt wurde. Ich bin, wenn Sie so wollen, an geistigen Majoritäten interessiert.

Sehen Sie denn Möglichkeiten, solche Majoritäten zu gewinnen?

Weißmann: Nur dann, wenn die kommende Entwicklung nicht einfach eine Fortsetzung der gegenwärtigen bedeutet. Dabei gehe ich persönlich von einem grundsätzlichen Wandel der Verhältnisse aus, hervorgerufen von drei Tendenzen: der Vollendung der kulturellen Hegemonie des linken Liberalismus bei immer weitergehender Fragmentierung der bestehenden ideologischen Lager und gleichzeitiger Zersetzung der ökonomischen Grundlagen. Die Vollendung der kulturellen Hegemonie des linken Liberalismus ist vor allem an der repressiven Toleranz zu erkennen, die überall Platz greift. Die öffentliche Debatte ist nur noch ein Spielplatz und der herrschaftsfreie Diskurs einer, von dem jeder, der ein anderes Spiel spielen möchte, und erst recht jeder ausgeschlossen wird, der Anstalten macht, nach dem Sinn der geltenden Spielregeln zu fragen. Die Unterwerfung unter die "politische Korrektheit" macht dumm, und das wird auf die Dauer unerträglich sein. Ein alter Achtundsechziger wie Bernd Rabehl sagte mir mal: "Es wird nirgends mehr über die Sache gesprochen." Derartige Zustände sind in der Geschichte an sich nicht ungewöhnlich, aber sie kommen auch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ans Ende - so wie in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern irgendwann ein Kind ruft "Der Kaiser ist nackt". Rabehl habe ich hier angeführt, weil er mir ein typisches Beispiel für die angesprochene Fragmentierung zu sein scheint. Wenn ich ihn richtig verstehe, dann ist er kein Renegat, sondern seinem Selbstverständnis nach ein authentischer Linker, der sich aber lieber mit den Rechten streiten will, wenn das in der "Sache" weiter führt. Solche Auseinandersetzung ist nicht müßig, wenn man sich die wirtschaftliche, aber nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung ansieht. Die ökonomische Krise zwingt ja sowieso zu der Einsicht, daß die goldenen Neunziger vorbei sind, sie führt aber auch zu der wohltuenden Erkenntnis, daß dauerhaft aus Dreck kein Geld gemacht werden kann.

Und inwiefern sollen sich aus alledem Chancen für einen wie immer gearteten Konservatismus ergeben?

Weißmann: Wir stehen da eigentlich noch vor demselben Problem, das Ernst Jünger mit der Bemerkung umriß, es sei nötig, den Begriff "konservativ" zu ersetzen, allerdings werde ein neues, glaubwürdiges Wort nicht erfunden, sondern "geboren". Nun, eine solche Geburt hat noch nicht stattgefunden, aber vielleicht gibt es Hinweise auf das Kreißen ...

Was meinen Sie damit?

Weißmann: Ich meine damit das wachsende Unbehagen an den Verhältnissen. Man muß gar nicht die großen Ernstfälle nennen, wie den 11. September oder jetzt die Geiselnahme in Moskau, - alles Hinweise darauf, daß die Barbaren schon diesseits der Wälle sind. Es genügen die kleinen, wie die wirtschaftspolitischen Absichten der neuen Regierung oder die Bildungskatastrophe, die im Gegensatz zur sogenannten in den sechziger Jahren ihren Namen verdient. Und dann nehmen Sie dazu die Symptome für eine Zersetzung der herrschenden Sprachregelungen. Etwa die verblüffenden Einsichten von arrivierten Vertretern des Kulturbetriebs, zum Beispiel Joachim Kaiser, den sie unlängst interviewt haben, und der sich in seinem Zorn über die Dekadenz gar keine Zurückhaltung mehr auferlegt, und sie können natürlich auch den ganzen Überdruß an dem neuen Werk von Goldhagen anführen. Da ist viel, auf die Dauer zuviel, Kraftanstrengung nötig, um die Fassung zu bewahren.

Gehört in diesen Zusammenhang auch die seltsame Revolutionsstimmung, die sich unlängst in der FAZ breitmachte? Das Blatt rief zum "Systemwechsel" auf. Arnulf Baring forderte dort kurz darauf: "Bürger, auf die Barrikaden!", Frank Schirrmacher am vergangenen Freitag gar ein "zweites 1989". Wirkt diese "Meuterei auf den Golfplätzen"(JF 48/02), der gepflegte Protest des saturierten Bürgertums, nicht lächerlich?

Weißmann: Glauben Sie etwa, es wäre von größerem Belang, wenn die Schlechtweggekommenen im Stillen oder die Unentwegten in den Hinterzimmern murren? Wenn Baring, der mir immer wieder Zurückhaltung und Besonnenheit gepredigt hat, glaubt, daß es jetzt an der Zeit sei, das Vaterland in Gefahr zu erklären, dann höre ich ihm aufmerksam zu. Er hat sich im Hinblick auf die Lageeinschätzung schon oft als urteilssicher erwiesen.

Aber hat es nicht etwas von Hofnarretei, so etwas nur im schöngeistigen Kontext des Feuilletons zu verbreiten? Soll nicht, wer nicht bereit ist, sich politisch zu exponieren, von Revolution besser schweigen?

Weißmann: Wenn Ihre Vorstellungen von "Revolution" etwas weniger romantisch wären - übrigens: wie viele Barrikadenkämpfer haben schon brauchbare Staatsmänner abgegeben? -, dann wüßten Sie, daß eine wichtige Voraussetzung für jede durchgreifende Veränderung der Dissens innerhalb der herrschenden Klasse ist. Das sind Bewegungen, die man mit Aufmerksamkeit beobachten muß und aus denen sich überraschende Handlungsmöglichkeiten ergeben könnten.

Und wie soll man darauf reagieren?

Weißmann: Klug.

Das heißt?

Weißmann: Entscheidend ist zuerst: Die Analyse der Situation, dann die Suche nach Verbündeten und dann die Ausweitung der Kampfzone. In der Analyse der Situation sehe ich meine - auch politische - Aufgabe.

 

Dr. Karlheinz Weißmann gehört zu den profiliertesten konservativen Denkern in Deutschland. Geboren wurde er 1959 im niedersächsischen Northeim. Er studierte Geschichte und evangelische Theologie und promovierte mit einer Arbeit über die Entwicklung der politischen Symbolik der deutschen Rechten. Seit 1983 arbeitet er als Studienrat an einem Göttinger Gymnasium. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Ideengeschichte der Rechten. Gerade erschienen: "Mythen und Symbole" in der Edition Antaios.

 

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