© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002


"Moralisch kompromittiert"
Der britische Luftkriegshistoriker Sir Max Hastings über den alliierten Bombenkrieg gegen Deutschland
Moritz Schwarz

Sir Hastings, das Buch von Jörg Friedrich "Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945" hat nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in Großbritannien eine Diskussion über die Frage entfacht, ob es sich beim alliierten Luftkrieg gegen die deutschen Städte um ein Kriegsverbrechen gehandelt hat. Sie selbst haben darüber mit Herrn Friedrich in einer Diskus-sionsrunde des britischen Fernsehens gestritten.

Hastings: Ich bin mit Herrn Friedrich weitgehend einer Meinung, doch der Verwendung des Wortes "Kriegsverbrechen" kann ich nicht zustimmen. In unserer Gesprächsrunde sagte er allerdings, er habe das Wort tatsächlich nie verwandt und zeigte sich sehr verärgert, daß britische Autoren ihm das unterstellt haben.

Auch wenn Friedrich den Begriff nicht ausdrücklich gebraucht, so legt die Lektüre seines Buches diese Wertung doch nahe.

Hastings: Dennoch beharrt Friedrich darauf, diese Wertung nicht vorgenommen zu haben. Es ist der Begriff "Kriegsverbrechen" der hier einem Verständnis dessen, was gemeint ist, im Wege steht. So bin ich durchaus der Auffassung, daß die alliierten Bombenangriffe auf Deutschland ein "Kriegsverbrechen" gemäß den Standards des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg darstellen. Andererseits aber wurde die Luftoffensive nicht als Verbrechen unternommen, sonder in dem Glauben, sie könne den militärischen Sieg über Nazi-Deutschland bringen. Doch diese Annahme erwies sich als falsch.

Sie sind einer der renomiertesten Militärhistoriker Großbritanniens und gehen in Ihrem Buch "Bomber Command" selbst mit der alliierten Luftkriegsführung ins Gericht.

Hastings: Ja, denn die Kriegsziele der Alliierten wurden durch die Flächenbombardements deutscher Städte moralisch kompromittiert.

Handelt es sich nun um ein Kriegsverbrechen oder nicht?

Hastings: Der Fehler der Alliierten war, in Nürnberg die Verantwortlichen des deutschen Luftkrieges gegen Großbritannien und andere Länder Europas wegen Aktionen wie der Bombardierung von Rotterdam oder dem "Blitz" gegen London anzuklagen. Man kann Luftwaffenchef Göring vieles vorwerfen, aber zum Beispiel nicht die Bombardierung Rotterdams.

Weil Sie formal dem Kriegsrecht entsprach.

Hastings: Nach den Maßstäben, die in Nürnberg gesetzt worden waren, waren auch die alliierten Luftangriffe auf Deutschland ein "Kriegsverbrechen".

Man hat also mit zweierlei Maß gemessen?

Hastings: Die Alliierten haben sich in Nürnberg moralisch ambivalent verhalten, um es vornehm auszudrücken.

Es ging Churchill und Luftmarschall Arthur Harris, dem Chef des Bomber Command und Planer des strategischen Luftkrieges gegen Deutschland, gar nicht um militärische oder militärindustrielle Ziele, sondern um die Tötung von Menschen und die Vernichtung der Städte, mit dem Ziel den Gegner so lange zu terrorisieren, bis er um die Kapitulation bittet. Das gilt nicht erst seit dem Nürnberger Tribunal als Kriegsverbrechen.

Hastings: Nun, die ursprüngliche Hoffnung war, die Angriffe würden einen entscheidenden Einfluß auf die Fähigkeit Deutschlands haben, diesen Krieg weiter fortsetzen zu können. "Bomber Harris", wie sein Spitzname war, schrieb einmal an Churchill, er sei überzeugt, den Krieg bis zum 1. April 1944 beenden zu können, wenn es ihm nur ermöglicht werde, genug Bomber über Berlin zu bringen. Natürlich war das verrückt und militärischer Unsinn. Es besteht aber kein Zweifel daran, daß Harris selbst daran glaubte.

Als die Amerikaner 1943 in den Luftkrieg gegen Deutschland eintraten, akzeptierten sie zunächst die britische Strategie der geplanten Massenvernichtung nicht, sondern beharrten auf der Bombardierung militärischer Punktziele.

Hastings: Die Amerikaner sind Heuchler. Es trifft zu, daß sie der britischen Luftkriegsführung widersprachen und eine andere Sicht der Dinge präsentierten. Die Wirkung des Bombardements der amerikanischen Luftstreitkräfte war für die deutschen Zivilisten am Boden allerdings die gleiche wie die britischer Bombardements.

Die alliierte Luftoffensive erscheint als eine fatale Verquickung von Verbrechertum und Logik des modernen Krieges, aus der man die Schuldhaftigkeit nicht einwandfrei isolieren kann: Weder um die Alliierten gänzlich zu verdammen, noch um sie freizusprechen und ihren Luftkrieg als reine Reaktion der Briten auf den "Blitz" gegen London erscheinen zu lassen, wie es die populäre Geschichtsdarstellung in der Bundesrepublik Deutschland heute tut.

Hastings: Was den Menschen heutzutage nicht in ausreichendem Maße klar ist, ist, daß die Alliierten bis 1944/45 zu Gefangenen der industriellen Entscheidungen geworden waren, die sie 1941/42 gefällt hatten. Spätestens 1944 wurde jedem vernünftigen Menschen klar, daß die alliierte Luftoffensive nicht das erreicht hatte, was sie erreichen sollte, nämlich Deutschlands Industriekapazität zu zerstören. Ich halte es für einen Fehler Churchills, angesichts dieser Ergebnisse die Kampagne gegen die deutschen Städte 1944 nicht eingestellt zu haben. Doch die alliierte Kriegsindustrie produzierte inzwischen mit einem Drittel ihrer Kapazität Bomber. Und Churchill war zu diesem Zeitpunkt durch so viele andere bedeutende Fragen - denken Sie an die bevorstehende Invasion in der Normandie - beschäftigt, daß er der Luftoffensive nicht mehr genug Aufmerksamkeit schenkte. Es ist bedauerlich, das sagen zu müssen, aber so war es.

Die Deutschen von heute haben ihre Maßstäbe von Moral im Krieg nicht am Pragmatismus der Realität gebildet, sondern aus einem rigorosen Moralismus heraus, der der ideologischen Frontstellung gegen den Nationalsozialismus entspringt. Können Sie verstehen, daß die Deutschen nun auch das Verhalten der Alliierten an diesen Maßstäben messen?

Hastings: Herr Friedrich hat völlig recht, wenn er dazu auffordert, ein jedes Land solle sein Verhalten im Zweiten Weltkrieg reflektieren. Nur ein Beispiel: Nach dem Krieg wurde ruchbar, daß ein britischer U-Boot-Kommandant, der sich im Mittelmeer verdient gemacht und sogar das Victora-Kreuz erhalten hatte, nach der Torpedierung deutscher Schiffe die hilflos im Meer treibenden deutschen Soldaten mit Maschinengewehren bestreichen ließ. Nun gab auch in den deutschen Streitkräften einen U-Boot-Kommandanten, der Schiffbrüchige unter Feuer nehmen ließ, dieser wurde jedoch nach dem Krieg in Nürnberg angeklagt und verurteilt. Unser U-Boot-Kommandant dagegen gilt immer noch als Kriegsheld. Das bedaure ich sehr. Altkanzler Helmut Schmid - er war bekanntlich im Krieg Offizier der Luftwaffe - antwortete mir einmal auf meine Frage, nach seiner Beurteilung des Verhaltens der Roten Armee in Ostpreußen, er werde dieses Verhalten nicht mit dem vergleichen, was die Deutschen in Rußland angerichtet haben. Das war eine sehr staatsmännische Antwort, denn es gibt zwar keinen Zweifel über das entsetzliche Walten der Roten Armee in Ostpreußen, aber ich bewundere den Feinsinn, den er mit dieser Antwort zum Ausdruck gebracht hat. Ich stimme mit vielem überein, was Jörg Friedrich sagt, aber es beunruhigt manche in Großbritannien, daß eine neue Generation von deutschen Autoren nach moralischen Parallelen zwischen der Bombardierung Deutschlands und den Konzentrationslagern und anderen nationalsozialistischen Verbrechen sucht.

Welchen Charakter hat die Diskussion um Friedrichs Buch in Großbritannien?

Hastings: Sie wird nicht aggressiv geführt, wie sie vielleicht in Deutschland glauben mögen, auch wenn es natürlich viele ältere Menschen doch aufregt, wenn ausgerechnet ein deutscher Historiker einen Vergleich mit Nazi-Verbrechen nahelegt. Ich würde die Diskussion mit dem Wort "irritiert" umschreiben.

Wie reagieren die Briten von heute auf die damalige englische Luftkriegsstrategie der totalen Vernichtung?

Hastings: Da zeigt sich ein Generationsunterschied: Die älteren Menschen in Großbritannien sagen mehrheitlich, die Deutschen haben nur bekommen, was sie verdient haben...

... und meinen damit zum Beispiel die Vernichtung Coventrys durch die deutsche Luftwaffe.

Hastings: Zum Beispiel. Die jungen Leute sind in dieser Frage aber entspannter. Nicht nur, weil sie die Zeit des Krieges nicht selbst erlebt haben, sondern auch, weil junge Menschen meist eher dazu neigen, eine Sache moralisch statt pragmatisch zu betrachten. Wenn ich zum Beispiel über die Ermordung deutscher Kriegsgefangener durch alliierte Soldaten geschrieben habe, reagierten viele ältere Menschen aufgeregt und fragten, warum ich so etwas schreiben würde. Die Antwort ist: Nun, weil es passiert ist...

Tatsächlich aber war die britische Luftoffensive keine Reaktion auf die Vernichtung Coventrys und die Bombardierung Londons?

Hastings: Sie war nicht vom Gedanken der Rache inspiriert, auch wenn damals viele Briten Rachegefühle hegten. Großbritannien griff aus zwei Gründen zum Mittel des strategischen Luftkriegs: Erstens, weil man 1940 keine andere Waffe zur Verfügung hatte, um dem Kriegsgegner Deutschland zu schaden. Zweitens, weil die britische Luftkriegsführung nach dem Ersten Weltkrieg grundsätzlich davon ausging, künftige Gegner durch eine strategische Bomberwaffe in ihrem eigenen Land zu besiegen. Diese Strategie erwies sich zwar letztlich als lächerlich, und das hatten damals schon viele Soldaten der Royal Army und Navy vorausgesagt, gleichwohl glaubte man in der Royal Air Force an dieses Konzept. Unglücklicherweise hatten die britischen Luftkriegsplaner spätestens in den dreißiger Jahren eine Art Sendungsbewußtsein entwickelt, sie würden mit ihrer Strategie der totalen Vernichtung den nächsten Krieg entscheiden - und zwar allein.

 

Sir Max Hastings ist Journalist und Militärhistoriker, war Herausgeber des Daily Telegraph und Londnon Evening Standard und veröffentlicht heute in verschiedenen britischen Zeitungen. Der ehemalige Kriegsberichterstatter hat zahlreiche Bücher vor allem zum Zweiten Weltkrieg veröffentlicht. Er zählt zu den renommiertesten britischen Luftkriegshistorikern und bot dem deutschen Autor Jörg Friedrich im englischen Fernsehen Paroli. Geboren wurde Hastings 1945 in London.

 

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