© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002


Grobe Verlogenheit
Deutscher Bundestag: Die Unionsfraktion will der Bundesregierung in einem Untersuchungsausschuß "Wählertäuschung" nachweisen
Fritz Schenk

Die neue Legislaturperiode beginnt mit einer Prozedur, mit der der deutsche Parlamentarismus bisher eher zweifelhafte Erfahrungen gemacht hat: Ein Untersuchungsausschuß des neuen Bundestages zum Thema "Wahlbetrug" soll klären, ob Mitglieder der Bundesregierung in der Haushaltssondersitzung knapp eine Woche vor der Bundestagswahl vorsätzlich gelogen haben.

Der Ausschuß sei nötig, weil er SPD-Finanzminister Hans Eichel unter Strafandrohung zur Wahrheit verpflichte, meinte Unions-Fraktionsvize Friedrich Merz letzten Dienstag. Der CDU-Abgeordnete Peter Altmaier forderte sogar, die Arbeit des Ausschusses müsse zu einem "Ehrenkodex" für künftige Wahlkämpfe führen. Die Regierungskoalition will im Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages zwar noch die Verfassungsmäßigkeit des Gremiums prüfen lassen, doch das verzögert allesfalls dessen Arbeitsaufnahme.

Nun könnte man ausgiebig darüber spekulieren, wie denn das Ergebnis der Ermittlungen eines solchen Untersuchungsausschusses sein wird und - einmal angenommen, das Ergebnis lautete: "Jawohl, grobe Verlogenheit und Wählertäuschung"! - welche Konsequenzen denn dann gezogen werden sollten? Rücktritt der Regierung und Neuwahlen?

Der Ausschuß allein könnte das nicht veranlassen. Von sich aus wird diese Regierung bestimmt nicht zurücktreten, sondern mit einem Gegenbericht die Ausschußfeststellungen zu widerlegen versuchen. Also alles nur Schau, von vornherein zwecklos und im Grunde nur von der anderen Seite, und das heißt aus Sicht der durch den Wahlausgang enttäuschten und vergrätzten Opposition, ein ebenso auf Wählertäuschung angelegtes Polittheater?

Solche Betrachtung verkennt den Ernst des Hintergrundes, der nach dieser Bundestagswahl durchaus "nachgearbeitet" werden sollte. Das kann nicht nur in den Sitzungen des Parlaments geschehen. Dort werden Beschlußvorlagen beraten und Kontroversen zwischen Regierung und Opposition immer nur zu Teilbereichen ausgetragen. Was mit und durch diese letzten Bundestagswahlen jedoch geschehen ist, hat viel tiefergreifende und längerwirkende Konsequenzen, als das in den vorangegangenen vierzehn Bundestagswahlen der Fall war. Zudem steht die parlamentarische Opposition mit dem Vorwurf der Verlogenheit und groben Wählertäuschung gegenüber der rot-grünen Koalition und insbesondere Bundeskanzler Schröder nicht allein. Aus allen Gazetten, dem Fernsehen, ja selbst aus der Mitgliedschaft der Regierungsparteien - von den enttäuschten Wählern ganz zu schweigen - ertönt empörte Kritik über den "Wahlbetrug", wie ihn vor allem der medial omnipräsente Bundeskanzler betrieben habe.

Es sind besonders zwei Schwerpunkte, an denen Regierungsvertretern ganz bewußt ausgesprochene Unwahrheiten nachgewiesen werden können. Das sind in der Innenpolitik die Wahlkampfaussagen über unsere Wirtschafts- und Finanzsituation und in der Außenpolitik das Thema Kriegsgefahr bezüglich des Irak. Obwohl seit dem Frühsommer (und das heißt deutlich vor der Flutkatastrophe im Elbe- und Donaugebiet) von der parlamentarischen Opposition, allen einschlägigen Instituten, dem Sachverständigenrat, den Fachverbänden und der Fachpresse mit genau den Zahlen, mit denen die Bundesregierung nun unmittelbar nach den Wahlen ebenfalls operiert, auf die katastrophale Finanzlage und die stagnierende Wirtschaftsentwicklung hingewiesen wurde, haben das vor allem Schröder, Eichel und Müntefering als Panikmache und Brunnenvergiftung zurückgewiesen.

Uns allen klingen noch die Beschwörungen Schröders im Ohr, "unser schönes Land von der Opposition und ihren 'Kettenhunden' nicht schlechtreden und miesmachen zu lassen". Genauso beharrlich wurde beteuert, daß die Renten "sicher seien" und es weder Steuer- noch andere Abgabenerhöhungen oder Einschränkungen bei Sozialleistungen geben werde. Die Zusatzlasten durch die Hochwasserkatastrophe im August versprach die Regierung allein durch das Aufschieben der nächsten Stufe der Steuerreform ab 2003 "schultern" zu können und bezeichnete alle Voraussagen, daß das Staatsdefizit deutlich die Drei-Prozent-Grenze des Maastrichter Stabilitätspaktes überschreiten werde, als "bewußte Wählertäuschung". Jetzt kommt die Bundesregierung nicht nur mit den ihr vorausgesagten "Folterwerkzeugen" an zusätzlichen Steuer- und Abgabenlasten heraus, sondern auch mit viel weitergehenden Sparmaßnahmen, das heißt Leistungskürzungen, im Sozialbereich und auf anderen Gebieten, als das im Wahlkampf überhaupt angesprochen worden war.

Dies alles kann durchaus in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß aufgeklärt werden. Denn nach seiner gültigen Rechtsverfassung ist ein solcher Ausschuß befugt, neben dem Bundeskanzler, Ministern, Staatssekretären und Abgeordneten auch leitende Beamte und Parteifunktionäre zu befragen. Falschaussagen vor dem Ausschuß sind strafrechtlich zu verfolgen. Da würde ohne Zweifel einiges ans Tageslicht befördert, was vor dem 22. September hinreichend bekannt gewesen ist, und nicht minder würde interessieren, von wem und mit welcher Begründung der bekannte Sachverhalt vor der Öffentlichkeit ungenannt, verheimlicht oder bewußt falsch dargestellt oder interpretiert werden sollte.

Niemand macht sich Illusionen hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit und Einsichtswilligkeit dieser Regierungskoalition und insbesondere ihres Kanzlers. Aber für die Wiederherstellung der politischen Kultur und zur Vorbeugung vor einer weiteren Verwilderung der politischen Sitten in Deutschland könnte ein solcher Ausschuß ganz Wesentliches bewirken. Noch vor seiner Bestallung wird er bereits von den Regierungsparteien als "Wahlkampfmanöver" der Union vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen heruntergeputzt. Doch da zu erwarten ist, daß er vor diesem Wahltermin am 2. Februar nächsten Jahres weder richtig zu seiner Arbeit noch zu einem Ergebnis gekommen sein wird, wird eine erneute niedrige Wahlbeteiligung möglicherweise darüber Aufschluß geben, in welchem Maße sich die Bevölkerung bereits von unserem durch verkommene Wahltaktiken in Mißkredit geratenen politischen System abgewandt hat.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen