© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002

 
"Eine halbe Million muß getötet werden"
Nachwirkende Geschichte: Der alliierte Bombenkrieg gegen Deuschland verursacht bis heute Phantomschmerzen
Doris Neujahr

Wieder wird das Wort "Tabubruch" bemüht, diesmal, um Jörg Friedrichs Buch "Der Brand", das die Zerstörung der deutschen Städte durch alliierte Bomber beschreibt, zu charakterisieren. Doch dieser Begriff, zum Reklame-Gag geworden, verzerrt die Bedeutung von Buch und Thema. Bereits 1997 war der Tabubruch ausgerufen worden, als der Schriftsteller G. W. Sebald die Abwesenheit des Luftkriegsthemas in der deutschen Literatur monierte. Seebald irrte. Zum Beispiel hatte der Schriftsteller Gerd Ledig 1956 im Roman "Vergeltung" einen Luftangriff auf München geschildert. Er war vergessen worden. Ein Grund: Ledig hatte ein gutes Buch geschrieben, aber das Thema, an das er sich gewagt hatte, war außerordentlich. Um ihm gerecht zu werden, hätten auch die literarischen Mittel außerordentlich sein müssen. So aber blieb die Stelle, wo ein Romanklassiker hingehörte, wie er in hundert Jahren nur einmal gelingt, leer.

In seiner "Deutschen Geschichte" nannte Golo Mann 1958 die Bombardements "nächtliche Massenmorde an der Zivilbevölkerung" und Churchill ab 1942/43 einen "bequemen, hartherzigen, zynischen" Kriegsherrn. Zum Luftkriegskonzept: "Die Welt schien rasch auf die Ebene herabzusinken, die der Unmensch (Hitler) vom ersten Tag an beherzt betreten hatte." Keine Frage war, wer den Krieg angefangen hatte, doch das machte die Bomben nicht anständiger. Es ging um "bedingungslose Kapitulation", nicht um "Befeiung", und dazu war "jedes Mittel recht".

Die angemessene Begrifflichkeit ist also längst formuliert. Wahr aber ist, daß der Luftkrieg selten thematisiert wird. Warum? Wer ein Bombardement erlebte, fühlte sich "geprügelt, geprügelt, immerfort des letzten Prügels gegenwärtig", so Gerhart Hauptmann, ein Augenzeuge des Dresdener Infernos. Wer diese Folter erlebt hatte, mußte sie, um weiterleben zu können, in sich verkapseln. Das ist der zweite Grund, warum Ledigs Roman ignoriert wurde. Aber es gab, in gegenläufiger Bewegung, die Erzählungen im Familienkreis. Oder die Großmütter, die beim Herannahen eines Gewitters in Hysterie verfielen. Und: Der Bombenkrieg bleibt manifest in der Häßlichkeit unserer Städte.

Wer aus Prag nach Dresden reist, wird sich dort über den Wiederaufbau der Frauenkirche und die rokokohaften Brühlschen Terassen herzlich freuen, doch sobald er "Elbflorenz" mit der unversehrten Moldau-Metropole vergleicht, erscheint es ihm als ein Unfallkrüppel, unvollständig wiederhergerichtet, Scham auslösend. Gleiches wiederfährt einem in Kassel, Hannover, Magedeburg, Münster, Stuttgart - überall in Deutschland. Der Bombenkrieg hat uns dazu verurteilt, häßliche, vergangenheitslose Städte zu bewohnen. Man kann sie nicht rückhaltlos lieben. Das ist eine Demütigung, die sich fortpflanzt.

Der Bombenkrieg prägt also auch die Nachgeborenen, er treibt sie in Kompensation, Sublimierung, Neurose. Wir sind Weltmeister im Reisen, um der Häßlichkeit zu Hause zu entkommen. Wir orientieren uns, um den Verlust zu vergessen, an knallharter Effizienz und finden die Schnellstraße wichtiger als den dafür geopferten Restbestand an Altbauten. Denjenigen, die in schöneren Städten leben, sollen wenigstens wissen, daß sie ohne unsere Nettozahlungen arme Schlucker wären. Oder wir flüchten uns in Selbsthaß. Weil wir den Mord an unseren Städte nicht ungeschehen machen können, soll er wenigstens eine historische Gerechtigkeit ausdrücken.

Und es gab und gibt politische Interessen. Für Adenauer stand die Westbindung im Vordergrund, später ereiferte sich die politische und intellektuelle Linke, der Holocaust würde relativiert. Die Bombentoten werden als Kollateralschäden der alliierten Befreiungsbewegung verbucht. Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede vom 8. Mai 1985 den Bombenkrieg lediglich in einem Halbsatz ewähnt - ein Beispiel der wohltemperierten Verlogenheit, die die öffentliche Sprache beherrscht. In der DDR war vom "angloamerikanischen Bombenterror" die Rede, aber auch dort ging es nicht um die Toten, sondern um den Haß gegen den Westen.

In der Zeit sieht Volker Ullrich, ein Goldhagen-Trommler der allerersten Stunde, mit dem Friedrich-Buch seine Felle davonschwimmen. Verzweifelt fragt er, ob denn Thomas Mann nicht recht gehabt habe mit der Feststellung: "Aber ich denke an Coventry, und ich habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß." Von Thomas Mann gibt es, von Brecht bezeugt, noch viel schlimmere, inoffizielle Äußerungen, die diesen abgründigen Satz erläutern, zum Beispiel: "Ja eine halbe Million muß getötet werden in Deutschland."

Brecht sah die Maske des kultivierten Bürgers verrutschen und moralisches Gangstertum zum Vorschein kommen. "ganz und gar bestialisch", notierte er, und: "der stehkragen sprach. kein kampf war erwähnt, noch in Anspruch genommen für diese tötung, es handelte sich um kalte züchtigung, und wo schon hygiene als grund viehisch wäre, was ist da rache (denn das war ressentiment vor dem tier)." Das Ressentiment vor dem Tier: Es kann und darf nicht länger Grundlage sein für unser Geschichtsbild! Es ist eine erschütternde Pointe, wenn Ullrich am Ende seiner Rezension bekennt, er selber sei in einem Hamburger Luftschutzkeller geboren worden, 1943, im Gomorrha-Jahr der Stadt.

Der alte Günter Grass hat das Flüchtlingsdrama "Krebsgang" vor allem für sich selber geschrieben, um das eigene Haus zu bestellen. Der Historiker Jörg Friedrich ist Privatgelehrter, kein Universitätsprofessor. Die interessanten Impulse kommen von den Rändern des Betriebs, nicht aus der Mitte. Vor Worten wie "Durch-" oder "Tabubruch" sollte man sich, wie gesagt, hüten. Eine Tür ins Freie aber ist wohl geöffnet.

Und auch das muß klar sein: Die Bombentoten sind kein Zahlungsmittel zum Begleichen alter Rechnungen. Hoffen wir auf die grenzüberschreitende, verbindende Einsicht, daß die Wunden, die damals geschlagen wurden, Verletzungen der gemeinsamen Humanitas sind, und daß moralischer Hochmut und Servilität geringer werden.

Hoffen wir auch, daß die Neubesinnung beginnt, die 1989/90 behauptet wurde, aber dann partout nicht eintrat. Damals war die Bundesrepublik stark genug, die DDR ohne Aufhebens zu absorbieren. Ihr Wirtschafts- und Sozialsystem erschien so überwältigend erfolgreich, daß auch ihre Mythen über Geschichte und Gesellschaft die Evidenz in sich selber trugen. Wegen dieses engen Konnex' führt die Krise des rheinischen Kapitalismus' nun in eine Sinnkrise. Um da herauszufinden, fragen wir nach unseren Wurzeln. Nach denen, die bis heute lebendig sind, und nach denen, die verbrannt sind, aber einen wilden Phantomschmerz hinterlassen.


 
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