© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002

 
Fließende Übergänge
Neue Forschungen zum "Modethema" Verbrechen der Wehrmacht
Gerd Zimprich

Ein Text ist wie ein Krieg - man weiß nie, "was hinten rauskommt". Das klingt nach kruder Mischung von Carl von Clausewitz und Helmut Kohl, preußischer Prägnanz und pfälzischem Saumagen. Doch jeder, der Gedanken in Worte faßt, kann diese Kontigenzerfahrung machen, wenn er seine vermeintliche auktoriale Macht als, um mit Hermann Lübbe zu sprechen, Improvisationskompetenz erfährt.

Angewendet auf die hausierende Textproduktion zum Thema "Verbrechen der Wehrmacht" heißt das, daß hoffnungsfrohen Junghistorikern, die sich auf diesem Terrain qualifizieren wollen, die Plausibilität simpler Anklagen oft unter der Last ihres sperrigen Materials verloren geht. Dafür finden sich Anzeichen selbst auf dem einstigen Flaggschiff der DDR-Historiker, der halbgewendeten Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, deren Autoren, unter ihnen "Hannes" Heer, nur widerstrebend ideologische Scheuklappen ablegen. So scheint der im Oktoberheft publizierte Aufsatz des Freiburger Zeithistorikers Bernd Boll schon im Titel ("Die Wehrmacht und der Beginn des Holocaust in Galizien") dem notorischen Reemtsma-Duktus zu huldigen. Und Boll gibt sich alle Mühe, die Massenmorde des NKWD zwar nicht der Wehrmacht in die Schuhe zu schieben, aber die vor allem dank Bogdan Musials Forschungen (JF 38/00) unbezweifelbare Verantwortung von Stalins Geheimpolizei so beharrlich zu verschweigen oder sie als Produkte der Goebbels-Propaganda auszugeben, daß der konditionierte Leser natürlich "deutsche Täter" anzunehmen bereit ist. Kein Wunder daher, daß unter dieser Prämisse General Karl-Heinrich von Stülpnagel als "Unterstützer" der SS-Einsatzkommandos in Bolls Fadenkreuz gerät. Obwohl Stülpnagel "durchaus kein Parteiträger der Nazis" gewesen sei und seit 1938 zum "inneren Kreis des militärischen Widerstandes" gehört habe, konnte er Distanz zu Hitler mit jener "antisemitischen Einstellung" vereinbaren, die seine Indolenz gegenüber den Morden der SS erkläre. Da Boll aber letztlich eine direkte Tatbeteiligung von Heereseinheiten an Massenmorden nicht nachweist, bleibt es beim mageren Befund, Stülpnagel habe Himmlers Todesschwadrone "grundsätzlich" gewähren lassen und trage "zumindest indirekt" Verantwortung.

Mit derartig dürftigen Resultaten muß sich Peter Lieb nicht begnügen. Lieb ist im Rahmen des Projekts "Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur" am Münchner Institut für Zeitgeschichte beschäftigt und stellt nun das Ergebnis seiner Auswertung des Tagebuchs des Obersten Carl von Andrian vor, dessen Regiment in Weißruthenien an Massenerschießungen von jüdischen Zivilisten beteiligt war (Vierteljahreshefte Zeitgeschichte, 4/02). Der Aufsatz liest sich wie eine Abfolge von Relativierungen: Nicht die Wehrmacht war in Verbrechen verwickelt, sondern wenige Einheiten wie - und dies ist unbestreitbar - die "berüchtigte 707. Infanteriedivision", in der Andrian zwischen 1941 und 1943 ein vornehmlich bei der Partisanenbekämpfung eingesetztes Regiment befehligte. Soziologisch repräsentierte die 707. ID, an der Heer und Christian Gerlach ihre Thesen von der Ununterscheidbarkeit zwischen SS und Wehrmacht zu exemplifizieren versuchten, aber kaum "die militärische Gesellschaft des Dritten Reiches". So war der extreme Antisemitismus des Divisionschefs eher singulär, seine "Befehle gegenüber der jüdischen Bevölkerung innerhalb der Wehrmachtsgeneralität einzigartig". Auch für Oberst Andrian habe es überdies den "fließenden Übergang" zwischen Geiselerschießung und systematischer Extermination nicht gegeben, den die Forschung annimmt - "zu Recht", wie Lieb im krassen Kontrast zur eigenen Quellenauswertung meint. Für Andrian bestand "genau an diesem Punkt eine Grenze", da es für ihn einen Unterschied machte, ob Juden als Feinde (Partisanen) oder "ohne ersichtlichen Grund" erschossen wurden. Ob diese Einstellung "wahrscheinlich typisch" für Wehrmachtsoffiziere war, und "nur" die "partielle Einbindung" oder sogar die "Beteiligung am Holocaust" bedingte, ist aufgrund der von Lieb angedeuteten großen Forschungsdefizite auf dem Gebiet der Mentalitätsgeschichte des deutschen Offizierskorps aber alles andere als hausgemacht.


 
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