© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002

 
Europa an die Kette legen
EU-Beitritt der Türkei: Die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union würde wirtschaftlich, kulturell und außenpolitisch weiter geschwächt - zum Nutzen der USA
Alexander Griesbach

In einer kontrovers geführten Bundestagsdebatte über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei hat Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang Dezember nochmals die Haltung der rotgrünen Regierung bekräftigt, der Türkei auf dem kommenden EU-Gipfel in Kopenhagen eine Perspektive für die EU-Mitgliedschaft eröffnen zu wollen. Entscheidend sei, so das unablässig wiederholte Argument der rotgrünen Befürworter eines derartigen Beitrittes, das Land noch "stärker an den Westen anzubinden", damit es "nicht abdriftet in den islamischen Fundamentalismus". Ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion, in dem gefordert wird, in Kopenhagen auf jede Festlegung in bezug auf einen EU-Beitritt der Türkei zu verzichten, wurde von Schröder scharf kritisiert. Zu den Trommlern für einen Beitritt der Türkei gehört auch Bundesaußenminister Joseph Fischer, der eine europäische Perspektive für die Türkei als Teil des Kampfes gegen internationalen Terrorismus verklärte. "Es wird entscheidend sein, ob ein islamisches Land den Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft gehen kann oder nicht", erklärte Fischer. "Wenn es der Türkei gelingt, wird das der größte Erfolg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus sein."

Notfalls gilt der Kampf gegen den Terror als Argument

Eine krude Logik, die ein beredtes Zeugnis für die rhetorischen Verrenkungen ist, mit denen die rotgrüne Regierung den Deutschen fremde Interessen als "im deutschen Interesse" liegend zu verkaufen sucht. Wenn alle Argumente nicht mehr hinreichen, dann bleibt immer noch der Kampf "gegen den internationalen Terrorismus", der inzwischen jede noch so fragwürdige politische Entscheidung rechtfertigt.

Ähnlich wie Fischer äußerte sich die ehemalige Parteivorsitzende der Bündnisgrünen, Claudia Roth, in einem Interview mit dem Deutschlandradio: "Man sollte der Türkei alle Unterstützung geben, damit die politische Dynamik der Veränderung hin zu mehr Menschenrechten, hin zu einer Demokratisierung und einer Zivilisierung, hin zur europäischen Integration, hin zu einer Zypernlösung, tatsächlich funktioniert." Täuscht der Eindruck, oder wollte Roth hier tatsächlich zum Ausdruck bringen, daß die Türkei erst "zivilisiert" werden müsse?

Dessen ungeachtet ist Roth der Überzeugung, daß es "keine Alternative zu der EU-Perspektive für die Türkei" gebe. Die Europäische Union sei jetzt "dran, ihre Zusagen und Versprechen gegenüber der Türkei einzuhalten, immerhin das Land, das schon seit 1963 auf eine europäische Perspektive drängt".

In der Tat kann die Westorientierung als eine durchgehende Konstante der Politik der Türkei identifiziert werden. 1948 war die Türkei Gründungsmitglied der OECD (Organization for European Economic Cooperation, der OEEC, später OECD), ein Jahr später eines der ersten Mitglieder des Europarates. 1952 trat die Türkei schließlich der Nato bei. 1959 folgte der Antrag auf Assoziierung mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Seitdem steht immer wieder einmal das Thema EU-Vollmitgliedschaft der Türkei auf der Tagesordnung. So zuletzt 1997, als der Europäische Rat der Türkei nach heftigen Debatten beschied, daß dieser die Reife für eine Vollmitgliedschaft "derzeit" noch fehle. Ankara reagierte auf diese Ablehnung mit heftigen Beschimpfungen in Richtung EU.

Nichtsdestoweniger erging 1999 eine weitere Offerte für Beitrittsverhandlungen der EU an die Türkei. Damit hat sich die EU mehr und mehr in eine Falle manövriert, aus der sie wohl kaum noch ohne nachhaltigen Schaden herauskommen dürfte. Davon zeugt auch das jüngste Übereinkommen zwischen Schröder und Chirac, die sich darauf einigten, mit der Türkei vom 1. Juli 2005 an über einen EU-Beitritt zu verhandeln, falls das Land seinen Demokratisierungsprozeß fortsetze.

Dieser Aufschub ist offensichtlich allein dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac zu verdanken, wie die britische Zeitung The Guardian in ungewöhnlicher Offenheit zu berichten weiß: "Die tiefen Differenzen im Hinblick auf einen EU-Beitritt der Türkei traten letzte Nacht klar zutage, als deutlich wurde, daß Bundeskanzler Schröder mit seinem aufdringlichen Versuch gescheitert ist, Chirac solange zu beschwatzen, bis dieser einem möglichst frühen Beitritt der Türkei zustimmt."

Über die Gründe für Schröders Vorpreschen läßt der Guardian keine Zweifel aufkommen: Der deutsche Kanzler unterstütze deshalb die Position der Türkei, weil er auf diese Weise die beschädigten Beziehungen zur USA zu reparieren gedenke. Diese Deutung der Dinge ist so abwegig nicht. Aus deutscher Sicht gibt es keinerlei Interessen, die eine Aufnahme der Türkei in die EU rechtfertigen würden. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Durch einen EU-Beitritt erhielten alle in der Türkei lebenden Türken das Recht der Arbeitnehmerfreizügigkeit in allen Staaten der EU. Das hiervon insbesondere Deutschland betroffen sein dürfte, zeigt schon ein Blick auf das Millionenheer der in inzwischen in Deutschland lebenden türkischen Staatsangehörigen, von denen ein hoher Prozentsatz entweder arbeitslos sind oder Sozialhilfe beziehen.

Die Finanzierung des Angleichungsprozesses der Türkei an die EU dürfte darüber hinaus die sowieso schon angespannten monetären Möglichkeiten der EU endgültig sprengen, die bereits durch die Osterweiterung einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt sein werden. Es gibt also kein vernünftig zu begründendes Interesse Deutschlands und auch der EU an einem Beitritt der Türkei in die EU. Welche Interessen Schröder auch immer vertreten mag: deutsche Interessen sind es mit Sicherheit nicht.

Die USA vertritt unverhohlen türkische Interessen

Die Reaktion der Türkei auf die Erklärung von Chirac und Schröder folgte prompt. Der Vorsitzende der türkischen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), Recep Tayyip Erdogan, kritisierte die deutsch-französische Vereinbarung mit den Worten, es werde "immer noch mit zweierlei Maß gemessen" und ergänzte: "Wir setzen die Kopenhagener Kriterien um, weil wir den Lebensstandard unserer Bevölkerung anheben wollen, egal ob die Türkei in die EU aufgenommen wird oder nicht."

Dennoch zieht die Türkei hinter den Kulissen alle Fäden, um die EU unter Druck zu setzen. Dabei setzt Erdogan vor allem auf die USA. Diese Woche will Erdogan in Kopenhagen mit US-Präsident George W. Bush in Washington zusammentreffen.

Diese Einlassung zeigt, wo der eigentliche Hauptprotektor für einen EU-Beitritt der Türkei sitzt: nämlich in den USA. Diese treten inzwischen immer unverhohlener als Sachwalter türkischer Interessen auf. So unverhohlen, daß selbst die New York Times Anfang Dezember meinte feststellen zu können: "Die Vereinigten Staaten mischen sich in einer ungewöhnlich offenen Art und Weise in den Prozeß der europäischen Integration ein. Die USA befürworten vehement die türkischen Absichten, der EU beitreten zu wollen." Vertreter der Regierung Bush, so berichtet die New York Times weiter, erklärten, diese Unterstützung basiere auf "langfristigen politischen Erwägungen".

Dieser Hinweis führt zu der Frage, welcher Art diese "langfristigen Erwägungen" der US-Hegemoniepolitik eigentlich sind. Auch in diesem Zusammenhang lohnt ein Blick in das von dem spiritus rector der US-amerikanischen Interessenpolitik, nämlich Zbigniew Brzezinski, herausgegebene Buch "Die einzige Weltmacht". Brzezinski stellt in diesem Buch zunächst einmal fest, daß ein "größeres Europa" und eine "erweiterte Nato" den kurz- und längerfristigen Zielen der US-Politik "durchaus dienlich" seien. Denn: "Ein größeres Europa wird den Einflußbereich Amerikas erweitern." Mit der Aufnahme neuer Mitglieder aus Mitteleuropa in die Gremien der Europäischen Union werde sich auch die Zahl der Staaten erhöhen, die den USA zuneigten -, "ohne daß ein politisch derart geschlossenes Europa entsteht, das bald schon die Vereinigten Staaten in für sie bedeutsamen geopolitischen Belangen anderswo, insbesondere im Nahen Osten, herausfordern könnte."

Bei der Förderung eines stabilen und unabhängigen südlichen Kaukasus und Zentralasiens, so fährt Brzezinski fort, müsse die USA darauf achten, daß die Türkei nicht vor den Kopf gestoßen werde. "Eine Türkei", so Brzezinski wörtlich, "die sich von Europa, dem sie sich anschließen wollte, ausgestoßen fühlt, wird eine islamischere Türkei werden, die aus reinem Trotz ihr Veto gegen die Nato-Erweiterung einlegen dürfte und weniger bereit sein wird, in Zusammenarbeit mit dem Westen, ein laizistisches Zentralasien zu stabilisieren und in die Weltgemeinschaft zu integrieren." Deshalb sollte Amerika seinen Einfluß in Europa für einen Beitritt der Türkei geltend machen und darauf achten, daß die Türkei als europäischer Staat behandelt werde.

Die Aufnahme der Türkei wäre das Ende des Projektes EU

Hier finden sich in nuce alle jene Argumente, die der poltisch-korrekte Diskurs in Deutschland gerne unter den Teppich kehrt. Dennoch mehren sich auch in Deutschland die kritischen Stimmen. Sollten sich die USA mit ihrem Drängen auf einen Beitritt der Türkei in die EU durchsetzen, könnte zum Beispiel aus der Sicht des deutschen Nahost-Experten Ludwig Watzal das Ende der EU vorgezeichnet sein: "Um es zynisch zu formulieren", so erklärte Watzal in einem Beitrag für das Deutschlandradio: "Wer das Ende der EU als politisches Projekt herbeisehnt, muß für die Aufnahme weiterer Staaten plädieren, insbesondere der Türkei." Spätestens mit Aufnahme dieses Landes sei das Ende der Union besiegelt. Watzal stellt die rhetorischen Fragen, warum Rumänien und Zypern aufgenommen werden sollten, die Türkei aber nicht? Bevor die Türkei Mitglied werde, müsse Israel in die EU. Ideologisch und politisch-kulturell stehe das Land der EU allemal näher als die Türkei. Nach eigenem Selbstverständnis verstehe sich Israel als Vorposten westlicher Zivilisation.

Ähnlich wie Watzal argumentiert auch der als "linksliberal" gehandelte emeritierte Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler. In einem Beitrag für die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit redete der Bielefelder Professor Klartext: "Warum sollte, da nach europäischen Kriterien rund dreißig Prozent des türkischen Arbeitskräftepotentials als arbeitslos gelten, einem anatolischen Millionenheer die Freizügigkeit in die EU eröffnet werden? Überall in Europa erweisen sich muslimische Minderheiten als nicht assimilierbar und igeln sich in ihrer Subkultur ein." Auch die Bundesrepublik habe bekanntlich kein Ausländer -, sondern ausschließlich ein Türkenproblem. Man könne nur durch die strikte Verpflichtung zum Sprachunterricht, zum Sprachtest vor der Einschulung, zum regelmäßigen Schulbesuch, zur Bindung der Staatsbürgerrechte an ein Examen (wie etwa in den Niederlanden) die starre Minderheitenlage allmählich auflockern. "Aber warum", so argumentiert Wehler weiter, "sollte man diese Diaspora millionenfach freiwillig vermehren und damit die bisher willige Bereitschaft zum Zusammenleben einer extremen Belastungsprobe aussetzen?"

Die Zahl von 67 Millionen Türken (zur Zeit der Republikgründung waren es noch 12 Millionen), die sich aufgrund der demographischen Explosion mit einem Zuwachs von etwa 2,4 Prozent pro Jahr dramatisch weiter erhöhte, übertreffe bereits die Anzahl der europäischen Protestanten. Im Falle eines Beitritts um das Jahr 2012 herum stellten 90 Millionen muslimische Türken die größte Bevölkerung eines Mitgliedstaates in der gesamten EU. Das könnte den Anspruch auf finanzielle Sonderleistungen und eine politische Führungsrolle begründen.

Die EU ist vor dem Hintergrund dieses Befundes aufgefordert, dem protürkischen "bullying" der USA Paroli zu bieten. Es gilt, nationalstaatliche, supranationale und geostrategische Interessen kühl und ohne Emotionen gegeneinander abzuwiegen. Mit einer nüchtern kalkulierenden Interessenwahrnehmung tut sich die politische Klasse in Deutschland bekanntlich schwer. Die gravierenden Konsequenzen eines möglichen EU-Beitrittes der Türkei erzwingen aber eine Außenpolitik, die sich an interessenpolitischen Kategorien ausrichtet. "Wenn das Projekt Europa eine globale friedenspolitische Stoßrichtung hat", so stellte der bereits zitierte Ludwig Watzal fest, "kann es (...) nicht in unserem und im Interesse Europas liegen, eine grenzenlose Integration zu befürworten."

Watzal hat recht. Der EU-Gipfel in Nizza im Dezember 2000 hat jedem deutlich gemacht, das die Grenzen der Handlungsfähigkeit bereits erreicht sind. Die Europäische Unon läuft heute schon als Gemeinschaft Gefahr, außenpolitisch irrelevant zu werden. Gar nicht zu denken an die Zeit, wenn zehn weitere Staaten aufgenommen sein werden. Die Türkei könnte, wenn die USA einen Beitritt der Türkei in die EU "hinter den Kulissen" erzwingen sollten, zum Tropfen werden, der das Faß zum Überlaufen bringt.


 
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