© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002


Wenn der Crash kommt
von Eberhard und Eike Hamer

Eine 50jährige tendenzielle Boomphase hat überall in der Welt den Blick dafür verstellt, daß ein ständiger wirtschaftlicher Aufschwung keinesfalls selbstverständlich und in der Geschichte nicht einmal üblich gewesen ist. Allerdings haben wir in den letzten 50 Jahren einige positive Sonderfaktoren gehabt, welche diesen Boom dauerhaft getragen haben. Das ist eine fünfzigjährige Friedenszeit in den wichtigsten Industrieländern, welche den Stellenwert von Militär und Konfliktlösung reduziert und dafür das Wohlfahrtsanliegen entsprechend gesteigert hat. Dazu kommt eine durch das GATT (General Agreement of Traffic and Terms) begünstigte, wachsende Handelsfreiheit in der Welt und damit auch ein gewachsener Außenhandel mit entsprechenden Wirtschaftswachstumsfolgen, weiter die Entwicklung neuer Marktfelder, insbesondere in der Computer- und Informationstechnologie, der Telekommunikation und der Gentechnik.

Diese neuen Technologien haben neue Rationalisierungs- und Automatisierungssprünge ermöglicht, dadurch neue Marktfelder entwickelt sowie neue Wachstumsimpulse für die Weltwirtschaft gegeben (neuer Kondratieff-Zyklus). Wachstumsimpulse gingen vor allem von einer außergewöhnlichen Geldmengenvermehrung in der Welt aus. Diese kam nicht nur von den Notenbanken, sondern vor allem aus der Kreditschöpfung des Bankensystems untereinander sowie durch die Entwicklung des Spekulationsgeldes mit Hedge-Fonds, Derivatenhandel sowie put- und call-Spekulationen. Die Geldmenge der Welt hat sich allein in den letzten dreißig Jahren dadurch vervierzigfacht, was zu entsprechender geldweiter Liquidität, zur Suche nach rentablen Anlagen und zu entsprechenden Wachstumsimpulsen, aber natürlich auch zu Intflationsschüben geführt hat.

Durch den Einsatz der neuen Informationstechnologien und der Computer konnten zudem Geldtransaktionen nun schneller als je zuvor abgewickelt werden und beschleunigten damit insgesamt die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Dies führte nicht nur zu einer völlig neuen Art von Geld - elektronisches Geld -, sondern wirkte ebenfalls wie eine zusätzliche Geldmengenvermehrung und inflatorisch.

Betrachtet man unter diesen Positivvorzeichen die nominale und sogar reale Wachstumskurve der Weltwirtschaft, so blieb trotz kleiner Dellen der Trend jedenfalls positiv, schien also ein Dauerwachstum garantiert.

Diese Meinung vertreten vor allen Dingen Banker, Finanzdienstleister, Versicherungen und Vermögensanlageberater, weil sie nur bei wachsender Wirtschaft die Kunden mit wachsenden Renditen in monetäre Anlagen locken können. Würden sie die Möglichkeit eines Zusammenbruchs auch nur andeuten, wären die Anleger verunsichert und würde das Geschäft in der gesamten Finanzbranche leiden. Beispielhaft ist die Crash-Warnung des Chefvolkswirts der Dresdner Bank im Frühjahr 2001.

Diese Warnung wurde nicht nur von der Bank sofort dementiert, sondern auch der Warner zur Rechenschaft gezogen und "ruhig gestellt", um "die Anleger nicht zu verunsichern". Das Bankenwesen kann auch noch so berechtigte Kassandrarufe nicht vertragen und verbreitet deshalb sogar gegen besseres Wissen pausenlosen Optimismus. Nur dieser läßt maximale Umsatz- und Gewinnmöglichkeiten entstehen.

Dabei ist es keineswegs so, daß die Bankvorstände die Möglichkeit oder sogar die Wahrscheinlichkeit eines Crash nicht ebenso sähen wie wir. Im privaten Gespräch geben sie sogar zu, daß die große Weltfinanzblase nicht ewig so weiter wachsen kann, sondern irgendwelche Korrekturen nicht nur kommen könnten, sondern wohl auch kommen würden. Solche Vorsichtsgedanken werden aber nur im privaten Kreis geäußert. Dienstlich verbreiten die gleichen Leute weiterhin Zweckoptimismus und würden jede behauptete Crashgefahr offiziell bestreiten und zu widerlegen versuchen. Hierin dürfte auch der Grund liegen, daß nicht nur die Konjunkturpolitik inzwischen als weithin überflüssig gilt und unmodern geworden ist, sondern daß auch wissenschaftliche Diskussionen über die Crashgefahr entgegen früheren Zeiten heute kaum stattfinden. Wer wissenschaftlich etwas auf sich hält (und auf Gutachterhonorare der Finanzinstitute hofft), wird an Crash-Diskussionen nicht teilnehmen. Die herrschende Meinung von Finanzwelt und Finanzwissenschaft hält die Wechsellagentheorie für überwunden, glaubt an die Machbarkeit des ewigen Booms und traut der Intelligenz der Notenbankchefs, der Finanzminister sowie der geballten Intelligenz der Bankmanager so viele Steuerungsmöglichkeiten zu, daß Krisen dadurch jederzeit überwunden werden könnten. Tatsächlich sind ja auch gefährliche Finanzkrisen in einzelnen Ländern wie in Mexiko, Chile, Argentinien, Rußland, Japan oder Malaysia bisher durch das kooperative Eingreifen der Notenbanken und internationalen Finanzorganisationen (International Monetary Fonds (IMF) und Weltbank) bisher beherrscht worden. Was liegt da näher, als davon auszugehen, daß künftig alle gleichartigen Finanzkrisen durch solche Kooperation der geballten Weltfinanzkompetenz in gleicher Weise gelöst werden könnten?

Richtig ist an der allgemeinen Meinung, daß die normalen Rezessionen abgefedert werden können, daß man inzwischen finanzpolitische Instrumentarien hat, welche etwa durch Geldmengenvermehrung, Zinsregulierung, Kreditpolitik, Wechselkurs, Kooperation der Zentralbanken die normalen Krisensituationen in den Griff bekommen. Der Weltcrash dagegen wäre eine Situation, welche auf solche normalen Instrumentarien nicht mehr reagiert, welche sich den Kontrollmechanismen entzogen hat und eigendynamisch Korrekturen erzwingt, welche die Handelnden gar nicht wollen und vor denen sie hilflos bleiben.

Zur These vom "ewigen Boom" hat vor allem beigetragen, daß unter Wachstum nicht mehr reales, sondern vor allem monetäres Wachstum verstanden wird, daß es also beim Wachstum angeblich weniger auf das Güterwachstum als auf das monetäre Wachstum ankomme. Das Wachstum unserer Gütermenge in der Welt hat sich in den letzten dreißig Jahren nur vervierfacht, die dagegenstehende monetäre Seite hat sich dagegen vervierzigfacht. Auf einer nur mäßig wachsenden Güterbasis haben sich also die monetären Werte multipliziert. Das ist nur zum geringeren Teil aus einer Höherbewertung der Sachgüter (Inflation) entstanden, im wesentlichen dagegen durch eine eigendynamische Vermehrung der güterunabhängigen Finanzwerte und Finanzströme. Das Finanzsystem hat sich mit anderen Worten vom Gütersystem weithin gelöst, verselbständigt und konnte dadurch scheinbar grenzenlos wachsen - man mußte nur bereit sein, diese monetäre Scheinblüte als wirkliche Wohlstandsvermehrung anzusehen oder der Bevölkerung und den Anlegern als angeblich wirkliches Wachstum aufzuschwätzen. Solange die Bevölkerung und vor allem die Anleger nämlich dies glauben, werden sie ihre Ersparnisse weiter monetär investieren und dadurch aus Eigennutz dazu beitragen, daß sich der große Luftballon des Weltfinanzwesens immer stärker mit monetären Werten wie Schulden, Krediten, Derivaten, Aktien, Renten und Fonds füllt. Auf dem Höhepunkt der Spekulationswelle 1999/2000 war es letztlich ganz egal, was die Finanzinstitute den Anlegern anboten - sofern nur die Kurswerte dieser Anlagen kräftig gesteigert werden konnten, nahmen die Anleger diese monetären Werte als reale Werte, glaubten sich dadurch reicher geworden und waren zu zusätzlicher Anlage zu höheren Kursen bereit, zumal die Publizistik ihnen täglich wachsenden Wohlstand durch wachsende Kurse bescheinigte.

Der Einbruch der Luftkurse zuerst im Neuen Markt und dann auch auf den Aktienmärkten sowie die langsam um sich greifende Erkenntnis, daß Wachstum und Wohlstand eigentlich nicht nur monetär betrachtet werden dürften, führten im Jahr 2001 zuerst zu monetären, dann auch zu güterwirtschaftlichen Reaktionen und Wertkorrekturen.

Und wieder wurden die Anleger enttäuscht. Hatten sie nicht nur bei ihren Geldanlagen, sondern auch mit Sachanlagen gehofft, "dauerhafte Werte" zu erhalten, so stellten sie plötzlich fest, daß sinkende Renditen und sinkende Aktienkurse auch sinkende Werte und Preise im Gütersektor nach sich zogen. So haben sich zum Beispiel Immobilienwerte nicht nur durch die Fonds-Spekulationen drastisch vermindert, sondern auch durch schwierigere Vermietung und sinkende Mietzinsen. Der von den Finanzberatern versprochene "ewige Boom" bei Finanzanlagen, Aktien, Immobilien und Fonds scheint nicht zu stimmen. Die Party ist vorbei. Die Musik spielt nicht mehr. Nun wird abgerechnet und plötzlich kehrt Ernüchterung ein.

Daß sich das Märchen vom ewigen Boom in Deutschland und überhaupt in Europa stärker verbreiten konnte als in Übersee, hängt auch damit zusammen, daß eine ganze Generation nach dem Zweiten Weltkrieg von wirklichen Wirtschaftskrisen - mit Ausnahme der Kleinkrise von 1987 - verschont geblieben ist und deshalb Märchen leichter geglaubt hat als Amerikaner oder Asiaten, welche das Auf und Ab der Konjunkturen auch in den letzten fünfzig Jahren stärker gewohnt waren, weil sie besondere europäische Nachkriegseinflüsse wie zum Beispiel den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg oder den Wiedervereinigungsboom nicht gehabt haben. Wir werden uns deshalb in Europa und insbesondere in Deutschland ebenfalls wieder an normale Konjunkturbewegungen des Auf und Ab, des Booms und des folgenden Abschwunges mit Rezession und im Extremfall einer Depression gewöhnen müssen. Die Welt geht dabei nicht unter. Aber alle jüngeren, eine Rezession nicht mehr gewohnten Unternehmer, Manager und Anleger werden über diese Entwicklung erschrocken sein und umdenken müssen.

Wie die Geschichte der Weltwirtschaft keinen ewigen Boom kennt, kennt sie auch keine andauernde Rezession oder gar Depression. Die Krisen sind wirtschaftstheoretisch Korrekturbewegungen, mit denen sich marktwirtschaftliche Fehlentwicklungen automatisch wieder korrigieren sollen wie zum Beispiel Fehlentwicklungen im Einsatz der Produktionsfaktoren, bei den Preisen, Löhnen, Sozialsystemen oder öffentlichen Rahmendaten.

Eigentlich müßten gravierende Fehlentwicklungen der einzelnen Volkswirtschaften oder in den Betrieben sofort korrigiert werden, sobald sie erkannt sind; in der Regel reicht aber der Mut und die Kraft zur Korrektur vor allem bei Politik, Verwaltung und in Finanzinstitutionen nicht aus; dann sorgt der Markt selbst für die Korrektur, muß die Rezession die überflüssigen Blätter und faulen Früchte abfallen lassen und den Baum dadurch zu neuem Wachstum regenerieren. Diese Regenerationsentwicklung der Wirtschaft wie der Natur wird auch bei uns in Europa und vor allem in Deutschland wieder normal werden (auch wenn sie politisch von den Herrschenden gefürchtet wird, weil jede Rezession in den Augen der Bevölkerung als Versagen der Regierung gewertet wird).

Nur wenn sich die konjunkturelle Regeneration durch politische Interventionen nicht rechtzeitig vollziehen kann oder wenn Übermaß-Entwicklungen abgebrochen oder erstarrte Strukturen zwangskorrigiert werden müssen, kann eine normale Rezession zur Depression werden, um volkswirtschaftlich wieder eine Normallage, wieder neue Handlungsfreiheit, Chancengleichheit und Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen.

Ein ewiger Boom wäre deshalb in einer dynamischen Marktwirtschaft nicht einmal erwünscht, würde zu immer größeren Fehlallokationen und Unwirtschaftlichkeitsentwicklungen führen. Andererseits führt ebenso eine Depression zu übermäßigen Wertevernichtungen. Jede Extrementwicklung sollte deshalb eigentlich konjunkturpolitisch vermieden werden, weil sie wiederum extreme Korrekturen verlangt. Eine gemäßigte Konjunktur mit gemäßigtem Boom und gemäßigter Rezession ist das von bewußter Konjunkturpolitik anzustrebende wirtschaftliche Regenerationsmaß. Und weil die Wirtschafts- und Finanzpolitik ihre Korrekturaufgabe versäumt und die volkswirtschaftlichen Fehlentwicklungen geduldet oder sogar gefördert hat, kann eine Zwangskorrektur nur aus der Marktautomatik entstehen. Ein Crash - so schlimm er ist - muß also aus der Zerstörung falscher Rahmenbedingungen die marktwirtschaftliche Sanierung bringen. "Schöpferische Zerstörung" ist also zur Regeneration der Marktwirtschaft ebenso notwendig wie wohltätig.

Beispiel sind die im Umlagesystem falsch konstruierten Sozialsysteme: Eine unseriöse Sozialpolitik belastet in Deutschland eine abnehmende Erwerbsbevölkerung mit zunehmenden Alterslasten, betrügt also durch Überversorgung der Rentner die jüngere Generation um ihren jetzigen und künftigen Arbeitsertrag und um künftig gleich hohe Renten. Je schneller deshalb dieser Generationenbetrug beendet wird (Crash), desto besser für die jüngere Generation und für die gesamte Volkswirtschaft. Die Marktkräfte müssen immer dann eine Selbstreinigung herbeiführen, wenn die Politik nicht mehr in der Lage ist, einen Reformstau zu lösen. Schon Schumpeter befürwortete solche "schöpferische Zerstörung".

 

Prof. Dr. Eberhard Hamer ist Gründer und Leiter des Mittelstandsinstituts Niedersachsen. Dieser Text ist ein Auszug aus dem zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Eike Hamer verfaßten Buch "Was passiert, wenn der Crash kommt?", das 2002 im Olzog-Verlag, München, erschienen ist.


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