© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Selbstbestimmung des Versicherten unerwünscht
Sozialpolitik: Das deutsche Gesundheitssystem ist besser als sein Ruf / Steuer- und Privatfinanzierungsmodelle unterlegen
Jens Jessen

Ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem führt zu Warteschlangen vor den Operationssälen. Rigmar Osterkamp vom Münchner ifo-Institut hat in einem internationalen Vergleich analysiert, warum das so ist. Seiner Ansicht nach führt die zweckgebundene Verwendung von Mitteln dazu.

"Offensichtlich lassen sich zusätzliche Mittel für das Gesundheitswesen durch erhöhte Beiträge zur Sozialversicherung leichter mobilisieren als durch erhöhte Steuern", meint Osterkamp. "Das entspricht auch der gängigen Lehrmeinung der Finanzwissenschaft und der ökonomischen Theorie der Politik, nämlich daß der Widerstand gegen Abgaben um so geringer ist, je mehr die Abgaben an einen spezifischen Zweck gebunden sind, der den Abgabepflichtigen einleuchtet oder ihnen sogar zugute kommt."

Osterkamp weist nach, daß alle Länder, in denen das Gesundheitswesen mit fast 100 Prozent über Steuern finanziert wird, monatelange, teilweise jahrelange Wartezeiten bei Operationen aufweisen. Zu einem Abbau dieser Warteschlangen kommt es seiner Überzeugung nach nicht, weil für Kliniken diese ein besonders überzeugendes Argument bei der Beantragung von zusätzlichen Investitionsmitteln sind.

Das gilt sowohl für Norwegen als auch für Spanien, Finnland, Großbritannien, Australien und die Niederlande. In den Ländern, in denen nur ein geringfügiger Steueranteil dafür verwandt wird, gibt es keine Wartezeiten, so in Deutschland, Österreich, der Schweiz oder Belgien. Was geschieht jedoch in einem durch Beiträge finanzierten System, wenn der Staat laufend in das System eingreift und mehr und mehr zu Budgetierungen greift?

Die Budgetierungen führen bei steigenden Anforderungen an das Gesundheitswesen aufgrund der demographischen Entwicklung, des medizinischen Fortschritts und einer Verbesserung der pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung zu einem Auseinanderdriften der möglichen medizinischen Versorgung der Bevölkerung und der tatsächlich ermöglichten. Die in der Wirtschaftswoche (Nr. 46) benutzte Formel "Statt mehr Einnahmen muß eine Reform des Gesundheitswesens mehr Transparenz und Leistungsanreiz bringen" folgt dem neoliberalen Gedankengut, daß mehr Wettbewerb zu Kostensenkungen führt.

Eine absurde Welt, da die USA das Gegenteil beweisen. Dort werden die Patienten als Gewinnquelle benutzt, zu Profit-Centern degradiert. Der Widerstand der Ärzte in den USA gegen ein System, daß die Gewinne von Kliniken bis zu 100 Dollar pro Tag und Patient klettern und gleichzeitig die Zahl der nicht versicherten US-Bürger zunehmen läßt, ist verständlich.

Die finanzielle Situation sieht in Deutschland für die Krankenkassen nicht gut aus. Die Statistik der Ärzte-Zeitung vom 9. Dezember zeigt ein Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherungen im Westen von 3,2 Milliarden Euro. Für das gesamte Jahr 2002 wird nicht mehr mit einem Defizit von 1,5 Milliarden Euro gerechnet, sondern mit einem von 2,5 Milliarden Euro. Und das, obwohl die zur Jahresmitte wirksam gewordenen Tarifsteigerungen einen heftigen Einnahmeschub bei den Kassen vermuten ließen. Die Einnahmeschwäche durch die dümpelnde Konjunktur und die überbordenden Ausgaben der Krankenversicherungen insbesondere in den Bereichen Krankenhäuser (plus 3,1 Prozent), Arzneimittel (plus 4,9 Prozent) und Verwaltungskosten der Krankenkassen (plus 4,6 Prozent) sind die Ursachen für dieses riesige Defizit.

Nun wird immer wieder von Beratern der SPD-Gesundheitsministerin behauptet, daß deutsche Gesundheitswesen sei nicht nur teurer, sondern auch schlechter als das anderer Länder. Die Daten der OECD weisen 2002 das Gegenteil aus. 1999 sind in Deutschland 25,9 von 100.000 Menschen an Brustkrebs gestorben, in Großbritannien 28,9 und in den Niederlanden 33,3, obwohl ein "lauterer" Berater von Ulla Schmidt das zentralisierte Mammographie-Screening in den Niederlanden lobt. An Lungenkrebs starben in Deutschland 32,6 von 100.000 Menschen, in Großbritannien 42,7 und in den Niederlanden 46,1.

Ulla Schmidt kritisiert aber die häufigen Arztbesuche und die Vielzahl von Leistungen, die nicht nötig seien. Für sie bedeutet Modernisierung tatsächlich jedoch die Beibehaltung der Entmündigung der Versicherten. Den Vorschlag der Techniker-Krankenkasse in einem Modellversuch einen Selbstbehalt-Tarif zu testen, hat sie trotz Genehmigung durch das Bundesversicherungsamt (BVA) brüsk zurückgewiesen. Die Selbstbestimmung des Versicherten liegt nicht im Interesse der Sozialisten.


 
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