© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Eine bewegte Elegie
Aubert Lemelands Stalingrad-Symphonie
Konrad Pfinke

Holzbläser, Celli, Bratschen und geteilte Streicher sorgen für ein silbernes Klangbild. Man mag an den Schnee denken, der im Jahre 1942 auf die Soldaten im belagerten Stalingrad hinabschneite, denn die 10. Symphonie Aubert Lemelands, deren Klang so filigran wie kühl bleibt, wurde vor dem Hintergrund jener umstrittenen "Letzten Briefe aus Stalingrad" komponiert, die vor kurzem - im Zusammenhang mit einer Feierstunde im Reichstagsgebäude - wieder diskutiert wurden (JF berichtete). Wie aber verhält sich die Symphonie, die der Franzose in den neunziger Jahren komponierte, zu den grundierenden Passagen?

Lemeland entwickelte einen sonoren Klangteppich, der die zwölf Texte - endend mit einem Ausschnitt aus Joachim Wieders "Stalingrad und die Verantwortung des Soldaten" sowie einigen Zeilen aus dem ersten Gesang von Klopstocks "Messias" - in leiser Fremdheit umhüllt. Die Partitur ist den hohen Instrumentationsstandards der frühen Moderne, also der Kunst eines Alban Berg, eines Frederik Delius, auch die seiner Landsleute Claude Debussy und Albert Roussel verpflichtet: in maßvoller Vornehmheit, deren ruhiger Ton die Herkunft aus dem Geist des späten Impressionismus nicht verleugnet. Gelegentlich tönt es gar ein wenig mahlerisch hinein, doch kein Musikfreund wäre verstört gewesen, hätte man das mit zarten Dissonanzen gesättigte, ohrenschmeichelnde Werk 1940 komponiert. Lemelands Musik argumentiert mit ihrem dunkelfarbigen Ton, dem Harfe und Celesta gelegentliche Glanzpunkte aufsetzen, nicht mit dem Holzhammer des Expressionismus. Sie polemisiert nicht eifernd für eine radikale Lesart der Texte und also der Geschichte, sondern scheint trauernd nach dem "Dahinter" zu fragen. Dagegen ist Dimitri Schostakowitschs Meisterwerk der "Leningrader Symphonie", dieser spannungsgeladene Reflex auf den Angriff der deutschen Armee, wiewohl untextiert, ein parteiischer Kommentar zum Zweiten Weltkrieg - was sich natürlich auch der Nähe zum musikalisierten Grauen verdankt. Dem Franzosen aber ist in seinem Memorial die Sprache der Mystik näher, mitunter auch auf Kosten der dramatischen Kontraste. Selbst die beiden Allegros der sechsteiligen Symphonie sind ausdrücklich ruhige Sätze, deren Grundton die Trauer ist: "molto calmo", "sehr ruhig", so lautet die charakteristische Vortragsbezeichnung des "Andante espressivo". Auch Liszts "Dante"-Symphonie endet ja nicht im Paradies, sondern schon nach dem "Fegefeuer" mit einem ätherischen Magnificat.

Dem Requiem mag der wilde Klang des "Dies irae", auch der eigene Ton fehlen. Als bewegte Elegie über den unbekannten Soldaten bietet es doch einen meisterhaft komponierten, zurückhaltenden Kommentar der Trauer, die stets mit der Schwere des Seins verbunden ist.

Aubert Lemeland: Sinfonie Nr. 10. "Letzte Briefe aus Stalingrad". Staatsorchester Rheinische Philharmonie. Edition Skarbo, DSK 2025.


 
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