© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Das Geheimnis der anderen Seite
Dem Tod den Schrecken nehmen: Eine Ausstellung in Wien zeigt die Phantasiewelten Alfred Kubins
Ekkehard Schultz

Aus meinem Reich" lautet der Titel einer Ausstellung des Wiener Leopold Museums anläßlich des sich bereits im April 2002 zum 125. Mal jährenden Geburtstages des Zeichners und Autors Alfred Kubin. Über 80 Bleistift- und Tuschzeichnungen - vorzugsweise aus der ersten Phase seines Schaffens - können noch bis zum 6. Januar 2003 in dem zentral gelegenen Gebäude innerhalb des Museumsquartiers besichtigt werden. Der Titel der Ausstellung ist einer Zeichnung von 1900 entlehnt, die zwei Wanderer nahe eines Abgrunds zeigt, von dem aus sie von einem unheimlichen, bedrohlichen Wesen fixiert werden. Im Hintergrund ist ein überdimensionierter Fisch zu sehen, der sich schwebend fortbewegt und den düsteren Eindruck noch verstärkt. Diese Zeichnung kann stellvertretend für weite Teile des Gesamtwerkes Kubins betrachtet werden, der sich immer wieder mit den Themen Tod, Katastrophen, Ängste und Bedrohungen auseinandersetzte.

Kubin wurde am 10. April 1877 im böhmischen Leitmeritz geboren. Zeit seines Lebens hatte er mit Depressionen und Niedergeschlagenheit zu kämpfen. 1896 verübte der äußerst sensible Kubin aufgrund schulischer Mißerfolge und der anschließenden Kritik seines Vaters am Grab seiner Mutter einen Selbstmordversuch. Auch in den kommenden zwei Jahrzehnten prägten häufig persönliche Schicksalsschläge seinen Weg, die er anschließend künstlerisch zu verarbeiten und damit zu überwinden suchte: Nur sieben Monate nach ihrem ersten Kontakt stirbt im Dezember 1903 Kubins Verlobte. 1907 stirbt sein Vater, der nach dem frühen Tod seiner Mutter eine der wenigen familiären Bezugspersonen Kubins war. Bereits nach wenigen Ehejahren muß Alfred Kubin sich zudem mit schweren Erkrankungen seiner Frau auseinandersetzen, die 1908 zwar zwei größere Operationen übersteht, jedoch anschließend aufgrund des Einsatzes des schmerzbetäubenden Morphiums süchtig wird und aufwendige Entziehungskuren benötigt. Doch Kubin erkannte - bestärkt durch seine baldigen Kontakte zu den Köpfen der Münchner Moderne - zugleich das Potential, das in seinen Phantasien steckte, die er zur Bewältigung seiner eigenen Krisen dringend benötigte.

1899 wurde Kubin in die Zeichenklasse Gysi der Münchner Malerakademie aufgenommen. Zuvor hatte er wenige Monate die dortige private Kunstschule von Ludwig Schmidt-Reutte besucht. Größeren Eindruck als der Unterricht machten auf ihn ausgedehnte Betrachtungen der Meisterwerke in der Alten Pinakothek. Die Besuche nahm Kubin zum Anlaß, sich näher mit den zeichnerischen Werken von Klinger, Goya, Rops und Munch zu beschäftigen; Künstlern, die ebenso wie er über eine starke Einbildungskraft verfügten. Bereits bis Ende 1903 entwickelte Kubin einige hundert Blätter, auf denen er den eigenen, aber auch an der Umwelt beobachteten Angst- und Zwangsvorstellungen Ausdruck verlieh.

Bereits in dieser Frühphase wurde Kubins Talent erkannt. 1901 lernte er den Münchner Kunsthändler und späteren Kubin-Verleger Hans von Weber in einem Künstlercafe der bayrischen Metropole kennen. Weber war von Kubins Zeichnungen so begeistert, daß er sofort 48 Werke ankaufte und wenig später eine Auswahl als Mappe im Faksimiledruck veröffentlichte. Erste Gemeinschaftsausstellungen schlossen sich an. Das Echo des Publikums auf die Darstellungen Kubins war allerdings sehr geteilt: Stilistisch durchaus positiv bewertet, verstörten sie doch vielfach ob der sich in ihnen manifestierenden düsteren Visionen.

1905 zog sich Kubin aus München auf den Landsitz Zwickledt bei Wernstein (Oberösterreich) zurück. Hier entstand fortan der größte Teil seiner Werke. Bis zu seinem Lebensende blieb Kubin dieser Gegend treu, die ihm als Rückzugsgebiet von der Großstadt diente und die er nach 1945 kaum noch verließ. 1909 trat er der "Neuen Künstlervereinigung" in München bei, die von Kandinsky und Jawlenski gegründet worden war. Im gleichen Jahr besuchte ihn der Münchner Verleger Georg Müller, in dessen Verlag 1909 Kubins erstes literarisches Werk, ein phantastischer Roman mit dem Titel "Die andere Seite" erschien. Anerkennung für diese Arbeit erntete er nicht nur von Stefan Zweig, Franz Kafka und Gustav Meyrink, sondern in den zwanziger Jahren auch von Ernst Jünger, mit dem er fortan einen regen Briefkontakt pflegte. 1911 veröffentlichte Georg Müller anläßlich der gleichzeitigen Herausgabe seiner "Sansara-Mappe", die 40 Arbeiten als Lichtdrucke enthielt, auch Kubins von eigener Hand erstellte Biographie. In diesen "Lebenserinnerungen" schrieb Kubin, daß in der Zeit der Niederschrift der "Anderen Seite" ein Wendepunkt seiner seelischen Entwicklung lag: "Ich gewann während ihrer Verfassung die gereifte Erkenntnis, daß nicht nur in den bizarren, erhabenen und komischen Augenblicken des Daseins höchste Werte liegen, sondern, daß das Peinliche, Gleichgültige und Alltäglich-Nebensächliche dieselben Geheimnisse enthält." Den literarischen Weg sollte der frischgeborene Autor auch später nichtverlassen: Immer wieder griff Kubin zur Feder, wenn er seine Ideen nicht schnell genug oder nicht im ausreichenden Maße in Form von Zeichnungen auszudrücken glaubte.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg konnte sich Kubin ein nationales Renommee verschaffen. Im Februar 1913 fand in der Münchner Galerie Thannheuser seine erste Einzelausstellung statt. Im September des gleichen Jahres beteiligte er sich als Mitglied der Gruppe "Die blauen Reiter" um Franz Marc am "Ersten deutschen Herbstsalon". 1914 war Kubin neben Paul Klee, mit dem er seit 1911 einen engen Kontakt pflegte, Jawlinski und August Macke auf der Münchner Sezession vertreten, die wenige Jahre zuvor seine Beteiligung noch abgelehnt hatte.

Im Oktober 1915 zog Kubin nach einigen Ausmusterungen mit einem Landsturmregiment in den Ersten Weltkrieg. Nur wenige Monate später, im März 1916, erhielt er die Nachricht vom Tod seines Freundes Franz Marc sowie vom Selbstmord einer nahen Bekannten. Wieder flüchtete sich Kubin in seine Phantasien. Wenig später griff er sie in seinem bekannten "Totentanz-Zyklus" auf, den er nach 1945 nochmals deutlich erweiterte. "Durch die Schönheit der Ausführung" wollte Kubin nach seinen eigenen Worten "dem Tod den Schrecken nehmen".

So blieb auch nach 1918 Kubins Auseinandersetzung mit dem Tod eines seiner zentralen Themen. Auch die Phantasiewelt der "anderen" beschäftigte ihn weiterhin: In seinem Buch "Die Kunst der Irren" setzte sich Kubin mit der Weltsicht von geistig Behinderten auseinander.

Seit Beginn der zwanziger Jahre häufen sich Kubins Arbeiten, in denen er sich mit der reichen Sagen- und Mythenwelt Böhmens auseinandersetzte. Daraus sind die Motive der Mappen "Phantasien im Böhmerwald" sowie "Stilzel. Der Kobold des Böhmerwaldes" entstanden. Aus dieser Zeit resultiert auch sein Kontakt zu dem bekannten sudetendeutschen Folkloristen und Heimatforscher Hans Watzlik.

Neben seinen Einzelzeichnungen und Mappen illustrierte Kubin, der am 20. August 1959 in Zwickledt starb, insgesamt 140 Bücher. Diese hohe Zahl ist vor allem deshalb äußerst beachtlich, da sich der Künstler nur derjenigen Werke annahm, in deren Inhalt er eine Übereinstimmung mit seiner eigenen Gefühls- und Gedankenwelt zu erkennen meinte. So stellen auch diese Stücke immer einen "echten Kubin" dar und bergen die gleiche Intimität.

Diese Intimität trägt sicherlich eine wesentliche Rolle dazu bei, daß sich der interessierte Betrachter bis heute der Kubinschen Phantasiewelt kaum zu entziehen vermag. Selten ist die Feststellung, daß Werk und Künstler eine enge Symbiose eingegangen sind, so zutreffend wie bei Kubin. Aus der selbstreflexiven Beschäftigung des Künstlers mit seiner äußerst sensiblen Gefühlswelt konnte ein Spannungsverhältnis entstehen, das seine faszinierende Wirkung in keiner Weise eingebüßt hat.

Alfred Kubin, "Ins Unbekannte" (1900/01): Ausdruck der eigenen Gefühlswelt und Lebenskrisen

Die Ausstellung ist noch bis zum 6. Januar 2003 im Leopold Museum, Museumsplatz 1, A-1070 Wien, zu sehen. Der gut illustrierte Katalog ist im Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, erschienen und kostet 16,80 Euro.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen