© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Mann neben Mann
Lebensform: Der deutsche Völkerkundler Heinrich Schurtz definierte vor hundert Jahren "Männerbünde" als eine straff geführte Gemeinschaft
Karlheinz Weißmann

Es gibt wissenschaftliche Arbeiten, die trotz ihrer Wirkung in Vergessenheit geraten und deren Autoren, nur noch pflichtschuldig in Nachschlagewerken erwähnt, dasselbe Schicksal erleiden. Zu dieser Kategorie gehört auch das 1902 erschienene Buch "Altersklassen und Männerbünde" des deutschen Völkerkundlers Heinrich Schurtz.

Schurtz verstand unter "Männerbund" eine straff geführte, mit besonderen rituellen Praktiken betraute und durch Arkandisziplin zusammengehaltene Gruppe, die in archaischen Gesellschaften oft erhebliche Macht ausübte. Bereits in seiner 1900 veröffentlichten "Urgeschichte der Kultur" hatte er die These aufgestellt, daß man "... nicht in den geschlechtlichen Verhältnissen", und dem aus ihnen abgeleiteten Patriarchat oder Matriarchat, "... sondern in der Sympathie der Gleichalterigen [sic], vor allem der männlichen Jugend, den Anstoß zur Bildung größerer gesellschaftlicher Verbände" zu suchen habe. Der der Familie - in welcher Gestalt auch immer - zugrundeliegende "Trieb" gerate zu oft in Konflikt mit jenem anderen, dem "reinen Gesellschaftstrieb", der überhaupt erst eine politische Organisation möglich mache, mehr noch, es sei zu beobachten, daß aus beiden Sphären "... oft völlig entgegengesetzte Arten von Moralgesetzen hervorgehen müssen".

Was damit gemeint war, kann man unschwer am latenten Konflikt zwischen Kleingruppen- und politischer Ethik ablesen, wobei die erste den unbedingten Schutz des der Familie zugehörenden Einzelnen verlangt, während die andere ebenso unbedingt die Gefährdung dieses Einzelnen fordert, um etwa im Krieg das Ganze der politischen Einheit zu schützen.

Schurtz stand mit seiner Theorie noch im Bann des Positivismus. Anders als die spätere deutsche Völkerkunde, etwa der von ihm beeinflußte Leo Frobenius, ging er nicht von der Geschlossenheit einzelner Kulturkreise aus, sondern nahm die Existenz eines Entwicklungsgesetzes in der Menschheitsgeschichte an. Seiner Auffassung nach deuteten die sozialen Formen archaischer Stämme, die zu seiner Zeit noch in relativ großer Zahl existierten, darauf hin, daß es am Anfang der Geschichte kein ursprüngliches Matriarchat, aber auch keine allgemeine Promiskuität gegeben habe. Der Vorrang des Mannes sei als gegeben zu betrachten, die sogenannte mutterrechtliche Organisation bildete nur eine "Verkümmerung des Familienlebens, die durch den Zusammenschluß der Männer notwendig erfolgen mußte".

Dieser "Zusammenschluß der Männer" innerhalb der Sippe zu einer Art Genossenschaft war der eigentliche Kern des Männerbundes. Dessen Existenz erkläre auch die Momente der "freien Liebe" bei den Primitiven unter Hinweis auf die ungebundene Sexualität der heranwachsenden, aber noch nicht heiratsfähigen Jugend.

Der Männerbund wurzelte zwar in den "natürlichen Verbänden" Ehe und Familie, löste sich aber von dieser Basis ab, nachdem die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersklasse als entscheidend für den Zeitpunkt der Reife betrachtet und ein System von möglichen und verbotenen Eheschließungen geschaffen wurde, das vor allem den Inzest ausschloß und die Beziehung zwischen den Sippen regelte.

Schurtz hat die Bedeutung der "Knaben- und Mädchenweihen" beim Übergang von einer Altersklasse in die andere hervorgehoben, durch die ein eigentlich "natürlicher" Vorgang - der der Geschlechtsreife - religiös überhöht und damit erst in einem kulturellen Sinn wirksam gemacht wurde. Er betonte den Sachverhalt, daß den "Mädchenweihen" ein wesentlich geringerer Stellenwert zukomme als den "Knabenweihen", die oft mit außerordenlich harten Proben (etwa der Tötung eines Feindes oder eines gefährlichen Raubtieres) beziehungsweise schmerzhafter Behandlung (von der Beschneidung über das Auspeitschen bis zur rituellen Tötung) verbunden waren. Die Mädchenweihen hätten dieses Procedere zwar häufig nachgeahmt, aber doch deutlich abgeschwächt.

"Weiberbünde" blieben ohne vergleichbaren Erfolg

Neben der Gestaltung des Übergangs vom (männlichen) Kind zum Erwachsenen sah Schurtz die Hauptaufgabe der Altersklassen in der sozialen Siebung. Die Tatsache, daß nur die Geweihten als vollberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft betrachtet und zur Ehe zugelassen wurden, erhöhte den Druck auf jeden, an diesem Akt trotz seiner erschreckenden Züge teilzunehmen. Gleichzeitig schieden diejenigen aus, die den körperlichen und seelischen Strapazen nicht gewachsen waren.

Es zeichnet sich hier ein weiterer Grund ab, der die Bedeutung des Männerbundes in frühen Gesellschaften verstehen hilft, denn physische oder psychische Untauglichkeit mußte nicht nur für die Jagd hinderlich sein, sie wirkte vor allem nachteilig auf die Wehrverfassung. Schurtz leitete aus der Bedeutung für die Verteidigungsfähigkeit die außerordentliche Verbreitung des Männerbundes, seine Institutionalisierung und seine Stabilität ab.

Zwar gab es durchaus Versuche der Diskriminierten und der Frauen, sich gegen die neue Organisation und die ihr zuwachsende Macht zu wehren, etwa durch die Bildung von "Weiberbünden", aber ohne vergleichbaren Erfolg. Die Ursache dafür lag nach Schurtz in der Fähigkeit der Männerbünde, aus dem Kern des Jungmännerbundes einen Geheimbund aller Männer zu entwickeln, dessen kultische arcana gleichzeitig arcana imperii gewesen seien. Allerdings stellte der Geheimbund "kein notwendiges Ergebnis der Entwicklung" dar, sondern eine letzte Steigerung jener Möglichkeiten, die in der Struktur des Männerbunds angelegt waren.

Wahrscheinlich bestand hier ein Zusammenhang mit dem Übergang von der Jagd- zur Feldwirtschaft, die ein wachsendes Prestige weiblicher Arbeit zur Folge hätte haben können, weshalb die Betonung des Kriegerischen einerseits, des Mysteriösen andererseits dazu diente, die Macht des Mannes zu sichern. Beide Elemente traten in unmittelbare Beziehung durch den von Männerbünden gepflegten Totenkult und das damit verknüpfte Maskenwesen. Viel unmittelbarer dürfte sich noch die Behauptung eines eigenen Strafrechts ausgewirkt haben, das zuerst zur Aufrechterhaltung der inneren Disziplin diente, dann aber auch gegen Außenstehende und Feinde des Bundes gewendet werden konnte. In dem Zusammenhang erwähnte Schurtz ausdrücklich die Gefahr einer Entartung der Geheimgesellschaft, die nicht nur von jener Gewalttätigkeit geprägt war, die dem Männerbund an sich eignet, sondern auch dazu neigte, ihre Macht gegen andere terroristisch auszuüben.

Beitrag zur Debatte um die Ursprünge von Kultur

Schurtz glaubte mit dem Männerbund eine "Grundform" der Gesellschaft gefunden zu haben, die sich von den Anfängen bis in historische Zeit erhielt, von den Altersklassen des antiken Sparta bis zu den "Jünglingsvereinen" und "Burschenbünden" der deutschen Gegenwart. Züge des Männerbundes wären außerdem in Armee und Kirche, in Freimaurerei und Verschwörerzirkeln, in Herrenklubs, Korporationen und Turnvereinen zu entdecken gewesen, und auch die Erscheinung der Jugendbewegung an der Jahrhundertwende, die eben ganz wesentlich eine Jungenbewegung war, hätte Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen.

Schurtz maß dem Aspekt der Kontinuität allerdings keine besondere Bedeutung zu, wie man überhaupt bezweifeln darf, daß er mit seiner Darstellung etwas anderes leisten wollte, als einen Beitrag zur Debatte um die Ursprünge der menschlichen Kultur. "Altersklassen und Männerbünde" fand ganz allgemein eine positive Aufnahme, und man darf diese Abhandlung der ungleich berühmteren Arbeit des belgischen Ethnologen Arnold van Gennep über die rites de passage oder den spezielleren Untersuchungen über Geheimgesellschaften aus dem angelsächsischen Raum an die Seite stellen und im Verfasser den eigentlichen Entdecker des Phänomens Männerbund sehen.

Das erklärt vielleicht auch, warum der deutsche Begriff "Männerbund" bis heute sehr oft ohne Übersetzung in fremdsprachigen Texten verwendet wird, denn das damit Bezeichnete können ähnliche Termini wie secret society oder tribal organization oder club nicht hinreichend erfassen. Man darf Vergleichbares für das Wort "Bund" selbst behaupten, das im Deutschen ein besonderes Pathos besitzt. Ein Grund dafür liegt sicher in der Zählebigkeit, mit der sich hier ältere bündische Formen erhielten, ein anderer in dem Rang, den Bünde der verschiedensten Art als Medium der Kultur- und Lebensreform seit dem frühen 19. Jahrhundert in Deutschland besaßen. Ihre Struktur war nur ausnahmsweise männerbündisch im strengen Sinn, wies aber eine starke Tendenz in diese Richtung auf.

Auch auf diese Entwicklung hat Nietzsche einen nachhaltigen Einfluß genommen, der seine Skepsis gegenüber der wachsenden Bedeutung von Frauen im Gefolge des Modernisierungsprozesses scharf formulierte: "Alle großen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, daß Mann neben Mann stand, und daß nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste, Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, - wie die Passion zu empfinden lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Efeus und der Weinreben daran."

Die Polemik Nietzsches hat entscheidend dazu beigetragen, in Deutschland um die Jahrhundertwende eine misogyne Weltanschauung zu etablieren, deren Spektrum immerhin von den philosophischen Werken Otto Weiningers bis zu den Elaboraten ariosophischer "Männerrechtler" reichte. Zu seiner vollen Wirkung kam der Ansatz allerdings erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, unter völlig veränderten Umständen. 1919, gerade in der Phase des Zusammenbruchs erschien der zweite Band von Hans Blühers Abhandlung "Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft". Anders als Schurtz ging es Blüher nicht um wissenschaftliche Erkenntnis, vielmehr um die Nutzbarmachung von dessen zentraler Vorstellung, die die Annahme zweier getrennter, tendenziell gegensätzlicher gesellschaftlicher Urformen betraf: Familie und Männerbund.

Allerdings mußte Blüher die These von Schurtz, daß der Männerbund eine spezielle Ausformung der Altersklassen sei, so umbiegen, daß der Männerbund die horizontale Schichtung der Altersklassen als vertikale Ordnung durchstoße. Diese These war für ihn von entscheidender Bedeutung, weil sie den Status der zentralen Figur des "Männerhelden" begründen half und jene Vorstellung plausibler machte, die schon in seiner skandalierten Geschichte der Wandervogelbewegung von 1912 eine entscheidende Rolle gespielt hatte, nämlich, daß sublimierte Homosexualität die Kohäsion der Bünde bewirke. Sie ermögliche unter Jungen die Orientierung am Führer und schaffe so im kleinen, was sich im großen vollziehe, wenn der Männerbund die Staatenbildung vorbereite, indem er ausdrücklich von den Bedürfnissen der Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses absehe.

Blühers Auffassung des "mann-männlichen Eros" verband sich mit der Anschauung, daß das Wirken des Typus inversus in der Geschichte erheblichen "periodischen Schwankungen" ausgesetzt sei, aber in der Gegenwart wieder eine Stärkung bemerkt werden könne. Das lasse das Entstehen einer neuen, gleichermaßen antibürgerlichen und "antifeministischen" Position erwarten, die einer gewissen Interpretation des platonischen Eros folge, sich einerseits von den wilhelminischen Klischees der Geschlechterbeziehungen frei wisse, andererseits der Frau einen - von der des Mannes, vor allem der Öffentlichkeit - deutlich getrennten Bereich zuweise: "Der Männerbund ist wichtiger. Die Familie ist selbstverständlich; er aber braucht die Bejahung."

Männerbünde als spezifische Gegenkultur

Blühers Argumentation löste erhebliche Irritation und wütende Polemiken aus. Das hat die Verbreitung seiner Schriften keineswegs behindert, eher im Gegenteil. Sie wurden in den ersten Nachkriegsjahren sehr intensiv diskutiert, von der Homosexuellenbewegung über die sich neu organisierende Bündische Jugend bis zur Elite des Geistes, etwa Rainer Maria Rilke oder Thomas Mann.

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang aber auch die scharfe Kritik der Theorie Blühers durch den Philosophen Herman Schmalenbach. Schmalenbach war ein Schüler Georg Simmels, aber seine 1922 erschienene Arbeit "Die soziologische Kategorie des Bundes" zeigte vor allem den Einfluß des George-Kreises, zu dessen weiterem Umfeld er gehörte. Schmalenbach stellte den Bund neben die von Ferdinand Tönnies entwickelte Typologie "Gemeinschaft" - "Gesellschaft".

Dabei behauptete er gegen Tönnies, daß nicht die Gemeinschaft, sondern der Bund die auf Gefühlen beruhende Form des menschlichen Zusammenschlusses sei. Die Gemeinschaft kenne dagegen alle möglichen Arten objektiver Bindung des Einzelnen, nur nicht qua Vertrag oder aufgeklärtem Eigeninteresse wie die Gesellschaft, sondern mittels Abstammung oder ritueller Verpflichtung. Ganz ähnlich wie Blüher betonte auch Schmalenbach die Bedeutung des Charismas für die Führung des Bundes und glaubte an die Wiederkehr bündischer Formen in einer Zeit des chaotischen Übergangs, lehnte aber jede Beschränkung auf den Männerbund ab.

Der bereits ein Jahr nach Erscheinen seines Hauptwerkes verstorbene Schurtz hat die hier skizzierte Entwicklung nicht mehr erlebt und hätte sie wahrscheinlich kaum gutgeheißen. Trotzdem kann man seine Arbeit nicht einfach aus der Zeitatmosphäre herauszulösen. Nicolaus Sombart sprach im Blick auf den deutschen Männerbund von einer spezifischen "Gegenkultur": "Es gab dergleichen in keinem anderen Land oder Staat der Neuzeit." Und wolle man nicht von einer "Neurose" ausgehen, so sei der Männerbund eine dem Deutschen "zutiefst gemäße Lebensform. Er ist Abwehr des 'Fremden', Auflehnung gegen die Weltzivilisation."

Bild: "Hohe Wacht", Zeichnung von Fidus zur Festschrift für die Meissner-Feier (1913): Männerhelden

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und unterrichtet als Studienrat an einem Gymnasium. Bei seinem Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Sommerakademie des Instituts für Staatspolitik Internet: www.staatspolitik.de.


 
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