© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Plädoyer für eine demokratische Leitkultur
Bassam Tibi prognostiziert bei der weiteren islamischen Zuwanderung ohne Integration in das demokratische Wertesystem dramatische gesellschaftliche Probleme
Björn Hauptfleisch

Die Massenmörder des 11. September 2001 waren Immigranten. Ihre Tat ist ein Ausdruck gescheiterter Integration. Von diesen Tatsachen ausgehend legt der Göttinger Politologe Bassam Tibi dar, warum er Einwanderung nach Europa trotzdem für notwendig und verantwortbar hält. In seinem Buch "Islamische Zuwanderung" breitet er ein Szenario aus, das sich wie folgt zusammenfassen läßt.

Tibis Argumentation basiert auf der Überzeugung, daß Europa aufgrund der demographischen Entwicklung Einwanderer benötigt. Die Frage, ob man mit anderen Mitteln dem Bevölkerungsschwund gegensteuern könnte, stellt er erst gar nicht. Vielmehr schließt er von der Tatsache, daß Zuwanderung stattfindet, auf ihre Unausweichlichkeit. Soweit sind Tibis Thesen wenig bemerkenswert und passen in das gängige Schema multikultureller Argumentation. Doch an diesem Punkt schwenkt Tibi zu einer harschen Kritik der bestehenden Verhältnisse um.

Wie ist es möglich, daß Zuwanderer an deutschen Universitäten studieren, die deutsche Sprache beherrschen, die formalen Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen - und trotzdem beispiellosen Terror gegen die westliche Gastgesellschaft entfachen? Tibi erklärt die Taten der Hamburger Terroristen mit einer mangelnden Integration der Zuwanderer in die Wertvorstellungen des Westens. Er unterscheidet im Folgenden strikt zwischen Einwanderung, die er sich wünscht, und Zuwanderung, die heute tatsächlich stattfindet. Den Unterschied zwischen Zuwanderung und Einwanderung macht er an der Frage nach der Integration fest. Ohne Integration bilde sich durch unkontrollierte Zuwanderung eine multikulturelle Gesellschaft mit parallelen Wertstrukturen. Integration finde laut Tibi in drei Stufen statt: Wirtschaftlich in die Arbeitswelt, politisch-rechtlich durch Einbürgerung und drittens kulturell durch Lernen der Sprache und - besonders wichtig - durch das Annehmen demokratischer Werte.

Diese Integration wird aber nicht mit dem nötigen Druck durchgesetzt, kritisiert der Autor. Feindlich gesonnenen Immigrantengruppen, besonders Islamisten, werden zunehmend Freiräume gewährt. Dies ist gefährlich, weil die Wanderung als Mittel der Missionierung, die Hidjra, fest im Islam verankert ist. "Freiraum für Kollektive der Diaspora-Kulturen ist dann ein Euphemismus für Siedlungen der Migranten. (...) Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß die klassische Siedler-Migration ein Zurückdrängen der eroberten Kulturen bedeutete: Siedlung ist eine Form des Kolonialismus. (...) Deswegen warne ich vor einem solchen Multikulturalismus in Europa, weil er in eine Balkanisierung und Zerstörung der europäischen Identität und des entsprechenden Gemeinwesens mündet" Als mahnendes Beispiel führt Tibi den Kosovo an. Dort ist es der moslemischen Minderheit gelungen, die Serben zu minorisieren und das Land dann zu spalten. Er prognostiziert für Deutschland einen ähnlichen Sezessionskrieg in einem halben Jahrhundert, wenn die Integration scheitert.

Mit dem Modebegriff der Multikultur kann Tibi also nichts anfangen; Multikultur zersetze den notwendigen politischen und moralischen Minimalkonsens einer Gesellschaft. Dies gefährde die Demokratie und bringe Terror hervor. Andererseits distanziert er sich aber auch von jedem Assimilationsgedanken. Deutlich läßt er seine Abneigung gegen die deutsche Alltagskultur durchblicken. Er will also nicht Multikultur, aber auch nicht Assimilation, sondern einen kulturellen Pluralismus.

Einwanderer sollten politisch selektiert werden

Die "Leitkultur" der säkularen Demokratie soll bei allem kulturellen Pluralismus jedoch verteidigt werden. Tibi weist darauf hin, daß er der Urheber des Begriffs Leitkultur ist und beschwert sich gleichzeitig über den Verlauf der deutschen Leitkulturdebatte. In deren Verlauf habe der Begriff Leitkultur eine andere Bedeutung angenommen, als von ihm beabsichtigt. Dies zielt vornehmlich auf die konservativen Deutschen. Rita Süssmuth und die Zuwanderungskommission kommen seinen Idealvorstellungen noch am nächsten. Kritik an ihrer Problemblindheit bleibt aber auch diesen Vertretern des Verfassungspatriotismus als Leitkultur nicht erspart: "Die Bundesrepublik kann die Probleme der Armut und Verfolgung in dieser Welt nicht auf ihrem Territorium lösen." So erteilt der Immigrant Tibi den "Gutmenschen" eine Absage.

Um Einwanderung zu steuern und Einwanderer integrierbar zu machen, schweben Tibi drakonische Maßnahmen vor. Ein Einwanderungsgesetz soll den Zustrom regulieren, gleichzeitig ist das Asylrecht in seiner heutigen Form abzuschaffen. Der Mißbrauch des Asylrechts zum Zwecke der Einwanderung ist rigoros zu stoppen. Islamisten und anderen Feinden der Demokratie darf in Europa gar kein Unterschlupf gewährt werden, selbst wenn sie in ihrer Heimat verfolgt werden. Wörtlich fordert Tibi eine "politische Selektion" der Einwanderer.

Aber auch die soziale Selektion soll verbessert werden. Es besteht die Gefahr, daß soziale Probleme ethnisiert werden. Schon heute wachsen die verarmten Viertel in den Metropolen. Volks- und Kulturzugehörigkeit werden mit Arbeitslosigkeit und Armut gekoppelt. Diese Form der Armut ist gefährlicher als die Armut in einer homogenen Gesellschaft, da sie ethnischen Konflikten den Boden bereitet. Tibi preist vor diesem Hintergrund das Beschneiden der Sozialleistungen als Mittel der Zuwanderungskontrolle. Zweifelhaft werden diese Ansichten jedoch, weil Tibi sich nicht auf die Leistungen an Einwanderer beschränkt, sondern nach dem Vorbild der USA einer allgemeinen Demontage des Sozialstaats das Wort redet. Man kann dies auch als konsequent betrachten: Offene Grenzen sind nur finanzierbar bei verschlossenen Sozialkassen.

Eine Integration, wie sie Tibi vorschwebt, muß von beiden Seiten ausgehen. Den Islam in seiner orientalischen Ausprägung hält Tibi für unvereinbar mit der europäischen Kultur, denn der klassische Islam kenne keine Individual-identität. Die kollektive Identität des Islam führe zur Forderung nach kollektiven Menschenrechten statt individuellen Menschenrechten, was die Integration verhindere. Der Islam der Einwanderer müsse reformiert werden zu einem neuen Euro-Islam, so der bekennende liberale Moslem. Für eine Scharia würde es in einem solchen Reform-Islam keinen Platz geben. Gleichzeitig fordert der Politologe, die deutsche bzw. europäische Gesellschaft solle sich ändern und dürfe die integrationswilligen Einwanderer aus fremden Kulturkreisen nicht mehr ausschließen. Er gesteht allerdings ein, daß sein Reform-Islam als Integrationsmodell bislang nur eine Vision ist.

Professor Tibi hat seine ganz eigene Position, dadurch wird das Buch lesenswert. Es kann Gegner wie Befürworter der Einwanderung und Multikultur zum Nachdenken anregen. Einzelne Punkte in Tibis Argumentation sollten allerdings kritisch hinterfragt werden.

Bassam Tibi: Islamische Zuwanderung - Die gescheiterte Integration. DVA, München 2002, 380 Seiten, gebunden, 24,90 Euro


 
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