© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Gute Adresse der Ostforschung
Zentrum für die Geschichte der böhmischen Länder: Aus dem jüngsten Tätigkeitsbericht zur Arbeit des Collegium Carolinum
Thomas Lamprecht

Mit dem Wissenschaftsstandort München assoziiert man im allgemeinen das geisteswissenschaftliche Forschungsfeld Italien sowie die Geschichte und Kultur des mediterranen Europa. Daß in der süddeutschen Metropole die früher sogenannte und wegen ihres politischen Engagements zwischen 1933 und 1945 heute wieder heftig umstrittene "Ostforschung" eines ihrer Zentren hat, ist hingegen weit weniger bekannt.

Tatsächlich gewann die Münchner Universität auch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Art Auffangsstellung für die traditionsreichen Institute an den Hochschulen in Leipzig, Breslau und Prag, ihre Bedeutung als Mittelpunkt der deutschen Osteuropa-Wissenschaft, die an der Isar ihren Schwerpunkt auf Mittel- und Südosteuropa ausbildete. Und in diesem Rahmen behauptet wiederum das Collegium Carolinum (CC) einen internationalen Spitzenplatz unter den Forschungsstätten, die sich mit der Geschichte der böhmischen Länder des alten Habsburger Reiches und ihrer nationalstaatlichen Transformationen, der Geschichte der Tschechen und Slowaken nach 1918 beschäftigen. Mit nicht unberechtigtem Stolz darf daher der Geschäftsführer des CC, Robert Luft, in seinem jüngsten Tätigkeitsbericht für das Jahr 2001 in der Instituts-Zeitschrift Bohemia (Band 43, Heft 2/02) darauf verweisen, daß die wissenschaftliche Bibliothek seines Hauses mit etwa 150. 000 "Medieneinheiten" die "größte bohemistische Spezialsammlung zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder außerhalb Tschechiens beziehungsweise der Slowakei" beherberge.

Größte Sammlung außerhalb Tschechiens über Böhmen

Ihr komme weit über Bayern hinaus nationale wie europäische Bedeutung zu.Um diese Schätze nicht nur dem doch recht kleinen Kreis von örtlichen Benutzern zugänglich zu machen, unter denen Heimatforscher und Familienforscher neben den professionellen Historikern das größte Kontingent darstellen, ist 2001 die Digitalisierung der Kataloge in Angriff genommen worden. Überdies wurde Ende 2001 die Arbeitsgemeinschaft der Münchner Osteuropabibliotheken ins Leben gerufen, die ein koordiniertes Vorgehen bei der Erwerbung von Datenbanken und bei der Digitalisierung der Bestände regeln soll. Ihr gehören neben dem CC die Bibliotheken der Münchner Forschungsinstitute (Osteuropa-Institut, Südost-Institut, Ungarisches Institut, Institut für Ostrecht, Institut für deutsche Geschichte und Kultur Osteuropas) sowie die Osteuropa-Abteilung der Bayerischen Staatsbibliothek und das Haus des Deutschen Ostens an. Daß die technische Aufrüstung erste Erfolge zeitigt, belegen die Zahlen: Die CC-Internetseite registrierte mit 218.000 Zugriffen in 2001 eine doppelt so hohe Nachfrage wie im Vorjahr. Besonderes Interesse fand dabei die Bibliotheksseite mit den Verzeichnissen der laufenden Periodika und des umfangreichen Zeitungsbestandes für die Jahre bis 1945.

Unter den laufenden Forschungsvorhaben, die wie der Gesamthaushalt des CC wesentlich aus Mitteln des Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst bestritten werden, konzentriert sich das internationale, von Wiener und Salzburger Historikern geleitete, von tschechischen Instituten und Archiven unterstützte Projekt "Soziale Strukturen in Böhmen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert" auf die Wirtschafts und Sozialgeschichte zwischen Früher Neuzeit und den Anfängen der Industrialisierung.

Die zeitgeschichtliche Kompetenz ist unbestritten

Diese weit zurückliegende Vergangenheit birgt zumindest nicht ähnlichen politischen Sprengstoff, wie der Themenkreis, der sich vorsichtshalber schon im Titel des Forschungskreises semantisch zu tarnen scheint: "Migrations- und Integrationsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert", wobei der Schwerpunkt auf den Fragestellungen "Flucht und Vertreibung im östlichen Europa" sowie "Die Sudetendeutschen und der Freistaat Bayern 1945 bis 1960" liegt. Daß ausgerechnet Erik K. Franzen hier federführend ist, mag verstimmen. Bewies er doch mit seinem "Begleitbuch" ("Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer"; siehe JF 49/01) zur ARD-Serie über Flucht und Vertreibung, daß ihm nicht einmal elementare zeitgeschichtliche Daten geläufig waren. Ungeachtet solcher Personalien ist die zeitgeschichtliche Kompetenz des CC aber unbestritten, und mit Spannung erwartet man vor allem den Fortgang der im Hause betreuten Edition der "Deutschen Gesandtschaftsberichte aus Prag. Innenpolitik und Minderheitenprobleme in der Ersten Tschechischen Republik", deren zweiter, die Zeit 1921 bis 1926 umfassender Teil 2001 in den Druck gegangen ist.


 
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