© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/03 03. Januar 2003

 
"... ist daher nichtig"
Dokumentation: Urteil zum Zuwanderungsgesetz

Zur Begründung ihrer Entscheidung führt die Senatsmehrheit aus:

Das Zuwanderungsgesetz verstößt gegen Art. 78 GG und ist daher nichtig. Es ist wegen der in ihm enthaltenen Bestimmungen über das Verwaltungsverfahren ein sogenanntes zustimmungspflichtiges Gesetz, das jedoch im Bundesrat nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen erhalten hat.

An einer Zustimmung des Landes Brandenburg zum Zuwanderungsgesetz fehlt es, weil bei Aufruf des Landes im Bundesrat die Stimmen nicht einheitlich abgegeben wurden. Nach dem Grundgesetz wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und den Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Diese Mitwirkung erfolgt nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrats. Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten. Dabei geht das Grundgesetz von der einheitlichen Stimmabgabe aus und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen.

Der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer kann jedoch jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden. Damit entfallen die Voraussetzungen der Stimmführerschaft. Hier hat das im Abstimmungsverfahren aufgerufene Land Brandenburg seine vier Stimmen nicht einheitlich abgegeben, was der Bundesratspräsident zutreffend unmittelbar nach der Stimmabgabe förmlich festgestellt hat.

Die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe Brandenburgs ist durch den weiteren Abstimmungsverlauf nicht beseitigt worden. Der Bundesratspräsident durfte nach seiner Feststellung, dass das Land Brandenburg uneinheitlich abgestimmt habe, nicht das Bundesratsmitglied Dr. Stolpe fragen, wie das Land Brandenburg abstimme. Der die Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist zwar grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Als unparteiischer Sitzungsleiter hat er den Willen des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren klar festzustellen.

Besteht jedoch ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht und ist nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten, daß ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde, entfällt das Recht zur Nachfrage. Hier lag der Wille des Landes Brandenburg zur uneinheitlichen Abstimmung klar zutage. Es bestand Klarheit über den Dissens. Ein einheitlicher politischer Landeswille war von den Beteiligten weder vor der Bundesratssitzung festgelegt noch wurde er von ihnen im Verlauf der Sitzung erwartet. Dies belegen ein Teil der Redebeiträge in der Plenardebatte und die sorgsame rechtliche Vorbereitung durch die Beteiligten.

In diesem atypischen Fall war der Sitzungsleiter verpflichtet, die Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe zu protokollieren. Zu einer Lenkung des Abstimmungsverhaltens des Landes Brandenburg mittels anschließender Nachfrage war der Bundesratspräsident unter den gegebenen Umständen nicht befugt. Angesichts dieser Ausgangslage ist der Fall der hier zu beurteilenden 774. Bundesratssitzung auch nicht mit der 10. Sitzung des Bundesrats vom 9. Dezember 1949 vergleichbar. Diese war verschiedentlich als Präzedenzfall angeführt worden.

Da kein Klärungsbedarf bestand, wäre die gezielte Rückfrage des Bundesratspräsidenten nur an den Ministerpräsidenten eines Landes lediglich zu rechtfertigen, wenn ein Ministerpräsident sich in der Abstimmung über die Stimmenabgabe durch die anderen Bundesratsmitglieder des Landes hätte hinwegsetzen dürfen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Ministerpräsident kann nämlich weder ein Weisungsrecht im Bundesrat beanspruchen noch stand ein drohender Verstoß gegen die Bundesverfassung in Rede.

Auch wenn ein Nachfragerecht des Bundesratspräsidenten grundsätzlich unterstellt wird, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Nachfrage hätte nur in der gebotenen neutralen Form erfolgen dürfen. Dazu bestanden zwei Möglichkeiten: Entweder hätte das Land Brandenburg in der laufenden Abstimmung ein zweites Mal aufgerufen werden können.

Damit wäre die Frage, wie das Land abstimme, an alle anwesenden Bundesratsmitglieder gerichtet worden. Oder der Bundesratspräsident hätte -wie geschehen - ein Bundesratsmitglied des Landes direkt fragen dürfen, dann aber hätte nach dem "Ja" des Ministerpräsidenten zur Vermeidung von Unklarheit auch Minister Schönbohm gefragt werden müssen, ob er bei seinem "Nein" bleibe. Dem Schweigen ohne vorangehende Frage kommt kein rechtlicher Erklärungswert in einer Abstimmung zu; es besteht keine Pflicht zum ungefragten Zwischenruf.

Da es an einer Zustimmung des Landes Brandenburg fehlte, entfaltete auch die Feststellung des Bundesratspräsidenten nach Aufruf der weiteren Länder, der Bundesrat habe dem Gesetz zugestimmt, keine Rechtswirkung.

(...)

Karlsruhe, den 18. Dezember 2002


 
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