© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/03 03. Januar 2003

 
Die vertane Chance
Schlacht um Stalingrad: Statt der Vernichtung des Kessels hätte eine größer angelegte Strategie der Sowjets zum Zusammenbruch der deutschen Ostfront führen können
Wolfgang Venohr

Eigentlich begann der Kampf um Stalingrad nicht am 19. November 1942, als der sowjetische Kessel um die 6. deutsche Armee geschlossen wurde, sondern am 3. Januar 1943, als Stalin höchstpersönlich die Operation "Ring" auslöste, die der 6. Armee den Todesstoß versetzen sollte.

Höchst verwunderlich ist, daß dieses Faktum in der kriegsgeschichtlichen deutschen Kontroverse um Stalingrad kaum Beachtung fand. Man stritt sich bis zum Exzeß über die Frage, ob ein Ausbruch der 6. Armee aus dem Stalingrader Kessel überhaupt möglich gewesen wäre, und wenn ja, wann am besten. Diese Debatten bezogen sich ausschließlich auf den Zeitraum vom 19. November bis 19. Dezember 1942, also bis zu jenem Tag, an dem der von Generalfeldmarschall Erich von Manstein geleitete Entsatzvorstoß zur Befreiung der 6. Armee ("Wintergewitter") aus Mangel an Kräften an der Myschkowa steckenblieb, womit von "Befreiung" oder "Ausbruch" keine Rede mehr sein konnte.

Damit blieb die entscheidende Frage der gesamten Diskussion ungeklärt, welchen operativen Sinn das weitere Ausharren der 6. Armee im Kessel von Stalingrad hatte, eine Frage, die für die Militärhistoriker wie für die Angehörigen der deutschen Stalingradkämpfer höchste Priorität haben mußte. Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Kampfes im Kessel von Stalingrad, in der Zeit vom 19. Dezember 1942 bis 2. Februar 1943, findet man beim sowjetischen Gegner. So zum Beispiel in den Erinnerungen des Generals Pawel Batow, Führer der 65. sowjetischen Stoßarmee, und insbesondere in den Erinnerungen des Hauptmarschalls der Artillerie N. Woronow, der zuvor schon gemeinsam mit Generaloberst Alexander Wassilewski den sowjetischen Operationsplan "Uran" ausgearbeitet hatte, der zur Einkesselung am 19. November 1942 geführt hatte.

Die deutsche Abwehr im Kessel war sehr effizient

Dieser Marschall Woronow erhielt am 19. Dezember 1942, als die sowjetische Führung klar absehen konnte, daß die deutsche Entsatzoffensive steckenblieb, von der STAWKA, dem sowjetischen Oberkommando, den Auftrag, den Operationsplan für die Liquidierung des Stalingrader Kessels auszuarbeiten. Den stählernen Ring um die eingeschlossene deutsche 6. Armee bildeten sechs sowjetische Armeen der "Don-Front" unter Generaloberst Konstantin Rokossowski. Die sowjetische Übermacht war erdrückend. Die Deutschen verfügten im Kessel über zwanzig Divisionen (darunter 3 Panzerdivisionen und 3 mot. Divisionen), deren Gefechtsstärke bereits auf die Hälfte zusammengeschmolzen war, über 100 Panzer und 1800 Geschütze. Ihnen standen 81 sowjetische Verbände gegenüber, darunter 40 Schützendivisionen, 10 Schützenbrigaden, 14 Panzerbrigaden sowie 1 Pakbrigade. In den vergangenen vier Wochen vom 19. November bis 19. Dezember waren sämtliche Angriffsaktionen der Sowjets gegen die deutsche Kesselfront gescheitert, obgleich die abgeschnittenen deutschen Verteidiger unter dramatischen Verpflegungsnöten litten. Marschall Woronow wurde sich also klar darüber, daß erhebliche Verstärkungen personeller und materieller Art nötig waren, um den Liquidierungs-Auftrag in die Tat umzusetzen.

Am Abend des 2. Januar 1943 traf sich Woronow mit Generaloberst Rokossowski und dessen Staatschef, General Malinin. Gemäß den Weisungen der STAWKA hatte Woronow den Beginn der Operation "Ring" auf den 6. Januar 1943 terminiert. Die drei Generäle mußten jedoch feststellen, daß die Kämpfe am 1. und 2. Januar an der Westfront des Stalingrader Kessels "nicht immer erfolgreich" verlaufen waren, daß sich die deutsche Abwehr als äußerst effizient erwiesen hatte. Die drei Generäle zeigten sich darüber "befremdet" und beurteilten es als "riskant", den Liquidierungs-Angriff ohne zusätzliche beträchtliche Verstärkungen zu beginnen. Sie stimmten darin überein, daß eine Verschiebung des Angriffstermins unvermeidlich sei, um den sechs Angriffsarmeen noch zahlreiche Material-, Munitions- und auch Truppentransporte zuführen zu können.

Am nächsten Tag, dem 3. Januar, führte Woronow ein dramatisches fernmündliches Gespräch mit Generalissimus Stalin, dem er die Bitte um Verschiebung des Angriffstermins vortrug. Stalin reagierte "heftig erregt". Nach Woronows Erinnerung fuhr Stalin ihn an: "Sie werden dort noch sitzen, bis die Deutschen Sie und Rokossowski gefangennehmen! (...) Wir müssen schleunigst Schluß machen!" Stalins Äußerungen verrieten, mit welchem ungebrochenen Respekt die Sowjets den Deutschen gegenüberstehen, und Woronow konnte froh sein, daß ihm eine Angrifftsverschiebung um vier Tage ("Ring + 4") zugestanden wurde. Es kann also keine Rede davon sein - wie in der deutschen Nachkriegskontroverse häufig behauptet wurde -, daß die Sowjets Anfang Januar '43 namhafte Kräfte von der Kesselfront um Stalingrad abzogen. Im Gegenteil! Die 6. Armee band nicht nur weiterhin sechs sowjetische Armeen, sondern der STAWKA muß in der Zeit vom 4. bis zum 9. Januar weitere neun Großverbände heranführen.

Erst am 22. Januar war der Widerstand gebrochen

Am 10. Januar 1943, morgens um 8.05 Uhr, begann die sowjetische Liquidierungs-Offensive gegen die Soldaten der 6. Armee, die bereits seit 52 Tagen in Frost und Schnee an der Wolga eingeschlossen waren. Sämtliche sechs Sowjetarmeen stürmten gleichzeitig gegen die deutschen Linien an. Der Schwerpunkt des sowjetischen Angriffs lag im nordwestlichen Frontabschnitt, bei der 65. Stoßarmee, die auf beiden Flügeln von der 21. und 24. Armee unterstützt wurde. Bei der 65. Stoßarmee hämmerten 7.200 Geschütze und schwere Granatwerfer auf zwölf Kilometer Frontlinie der Deutschen. Pro Kilometer hatten also die Verteidiger das Trommelfeuer von 600 Rohren auszuhalten. Auf derselben Frontbreite traten sieben sowjetischen Panzerregimenter zum Angriff an, denen eine Panzerbrigade und ein weiteres Panzerregiment in der zweiten Angriffsstaffel folgten, während an der Nahtstelle der 57. und 64. Armee im Süden der Kesselfront zwei Panzerbrigaden angriffen und im Norden, im Zentrum der 66. sowjetischen Armee, ein verstärktes Panzerregiment vorrollte. Insgesamt stürzten sich also 15 sowjetische Panzerregimenter mit etwa 600 Panzern auf die deutschen Verteidiger, die im gesamten Kessel noch ganze 60 einsatzbereite Panzer besaßen.

In welchem Zustand befand sich die deutsche Verteidigung am 10. Januar 1943, als die "Ring"-Offensive begann? Von ursprünglich 220.000 Mann, die sich im Kessel befanden, waren noch um die 180.000 vorhanden, nachdem 10.000 Mann gefallen und 30.000 ausgeflogen worden waren. Gegen sie stürmten etwa 600.000 Rotarmisten an. Ein deutscher Panzer stand gegen zehn T 34 der Sowjets. Von der Artillerie-Übermacht der Sowjets ganz zu schweigen. Dennoch schossen die Verteidiger in den ersten drei Tagen der "Ring"-Offensive 150 feindliche Panzer ab und wichen nur Schritt für Schritt. Innerhalb einer Woche sollte der Kessel liquidiert werden, aber am 16. Januar abends hatten die Rotarmisten erst die westliche Hälfte des Kessels erobert, und das nach schwersten Verlusten. Knapp 7.000 Gefangene hatten die Russen gemacht, hauptsächlich Angehörige der 20. rumänischen Division.

Beim sowjetischen Oberkommando war man außerordentlich verblüfft über den "hartnäckigen Widerstand" der Deutschen, wie Woronow notierte. Ja, er stellte sich die Frage: "Wo nahm er nur seine Kräfte her? Seine Verpflegungsschwierigkeiten müßten sich doch unbedingt auswirken?" Darauf vor allem hatte man im sowjetischen Oberkommando gesetzt, daß die halbverhungerte 6. deutsche Armee kräftemäßig schnell zusammenbrechen mußte. Die sowjetische Aufklärung hatte am 9. Januar gemeldet, daß die deutsche Tagesverpflegungsration aus 150 Gramm Brot, 65 bis 70 Gramm Fleisch oder Konserven, Pferdefleischsuppe und hin und wieder aus 25 bis 30 Gramm Fett bestand. Also nicht genug zum Leben und zum Sterben! Tatsächlich aber lag die Tagesration der 6. Armee noch darunter: 75 Gramm Brot, 200 Gramm Pferdefleisch mit Knochen, zwölf Gramm Fett und elf Gramm Zucker. Es blieb unerfindlich, wie der deutsche Soldat, halbverhungert, bei Frost und Schnee der gewaltigen Übermacht standhalten konnte.

Am Morgen des 17. Januar trafen sich die sowjetischen Armeeführer zu einer Besprechung unter der Leitung Malinins. Alle waren tief beeindruckt vom deutschen Abwehrkampf. Während der Befehlshaber der 6. deutschen Armee, Generaloberst Friedrich Paulus, an diesem Morgen feststellen konnte "Die Durchführung des Kampfes kann unter Berücksichtigung des Zustandes der Truppe bisher noch als planmäßig bezeichnet werden", debattierten die Sowjet-Generäle darüber, ob man die Offensive für zwei bis drei Tage unterbrechen sollte. Nur mit äußerster Mühe gelang es Rokossowski und Woronow, einen solchen Beschluß zu verhindern. Sie waren der Ansicht, daß bereits "Breschen" in die deutsche Abwehrfront geschlagen seien und daß es gelte, sie ohne Pause "mit Hilfe der Artillerie, Luftstreitkräfte und Panzer" zu erweitern.

Das Erreichen Rostows hätte den Kaukasus abgeschnürt

So ging die russische Offensive der sechs sowjetischen Armeen in voller Stärke weiter. Laut Woronow setzten die 65. und 21. sowjetische Stoßarmee ihren Angriff sogar "mit Verstärkungstruppenteilen und -verbänden" fort. Von einer Verringerung der sowjetischen Offensivkräfte rund um den Kessel von Stalingrad kann also Mitte Januar keine Rede sein; eher im Gegenteil. Die sowjetische Seite, der zum erstenmal im Verlaufe des Krieges ein wirklich großer, operativer Erfolg winkte, setzte alles daran, zu einem sicheren, ungefährdeten Triumph zu gelangen, und scheute offensichtlich jedes operative Risiko. Somit steht fest, daß die Führung der sowjetischen "Don-Front" ihre Angriffskräfte keinesfalls vor dem 22. Januar, an dem der Flugplatz Gumrak verlorenging und sich die Front der 6. Armee in ein poröses Stützpunktsystem auflöste, wesentlich geschwächt hat. Bei der geschilderten sowjetischen Mentalität spricht sogar vieles dafür, daß eine solche Maßnahme erst nach dem 24. Januar, als die 6. Armee auf den Stadtrand von Stalingrad zurückgeworfen war, oder gar erst zwei Tage darauf erfolgte, als sich die Stoßkeile der 21. und 62. sowjetischen Armee in der Mitte Stalingrads trafen und damit die 6. Armee in zwei getrennte Kessel aufspaltete.

Am 22./23. Januar 1943 stellte die 1. deutsche Panzerarmee, die sich ab dem 1. Januar aus dem Kaukasus abgesetzt hatte, südlich von Manytsch die Verbindung zum Hauptteil der 4. Panzerarmee unter Generaloberst Hermann Hoth her. An diesem Tag wurde der heroische Abwehrkampf im Kessel von Stalingrad operativ sinnlos, hatten die Soldaten der 6. Armee im vollen Umfang ihre Pflicht getan, hätte Generaloberst Paulus auf eigenen Faust kapitulieren und für eine geordnete Übergabe sorgen müssen. Daß die Männer der 6. Armee noch zehn weitere Tage, aufgespalten in kleine Widerstandszentren, weiterkämpften, war ebenso heroisch wie verantwortungslos.

Zusammengefassend darf man feststellen: Die Abwehrschlacht der 6. Armee vom 19. Dezember 1942 bis 23. Januar 1943 hatte einen hohen moralischen Sinn und erfüllte einen gravierenden operativen Zweck. Hunderttausende von Rotarmisten, Hunderte von Panzern und Tausende von Geschützen wurden durch die 6. Armee bei Stalingrad gebunden. Dadurch wurden vier Armeen (1. und 4. Panzerarmee, 17. Armee, 4. rumänische Armee) im Kaukasus-Raum vor Einkesselung und Vernichtung gerettet. Der sagenhafte Widerstand der 6. Armee zog die Blicke des sowjetischen Diktators und der STAWKA geradezu magnetisch an. Wie hypnotisiert starrten sie auf den verbissenen Kampf bei Stalingrad und versäumten darüber eine einmalige operative Chance. Denn es wäre ja viel klüger gewesen, den Kessel von Stalingrad mit einem dünnen Schleier von zwei sowjetischen Armeen zu umgeben - die entkräftete 6. Armee hätte in der Steppe nichts unternehmen können - und mit vier sowjetischen Armeen auf den engen Flaschenhals bei Rostow vorzustoßen und ihn dicht zu machen. Der gesamte deutsche Südflügel wäre mit einem Schlag eingeschlossen gewesen, was wahrscheinlich zum Zusammenbruch der deutschen Ostfront geführt hätte. Stattdessen verbissen sich die Sowjets in den Kampf um Stalingrad, der ihnen unvorstellbare Blutopfer abverlangte. Niemand hat das bereits während der Schlacht trefflicher erkannt als Generaloberst Andrej Jeremenko, einer der Armee-Befehlshaber an der Stalingrader Front, der am 18. Januar 1943 in sein Arbeitsbuch schrieb: "Wir hätten die Eingeschlossenen nicht angreifen, sondern mit einer Blockade abwürgen sollen. Sie hätten sich nicht länger als einen Monat gehalten, und wir hätten die Don-Front auf Schachty und Rostow lenken müssen. Im Endeffekt wäre das ein Schlag an drei Fronten gewesen: der Woronesch-Front, der Südwest-Front und der Don-Front! Ein Schlag von ungeheurer Stärke, die die ganze Gruppierung des Gegners im Nordkaukasus wie in einer Falle festgesetzt hätte."

Diese Feststellung von seiten des Feindes macht das Opfer, das die Soldaten der 6. Armee für ihre Kameraden brachten, deutlich, stellt es in höchsten Glanz.

 

Dr. Wolfgang Venohr war von 1965 bis 1985 Chefredakteur bei "Stern TV" und "Lübbe TV". Der Autor zahlreicher Bücher lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Zuletzt von ihm erschienen: "Die Abwehrschlacht - Jugenderinnerungen 1940-1955", Berlin 2002, Edition JF.


 
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