© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/03 03. Januar 2003

 
Abschied vom Bürgertum
von Hans-Georg Meier-Stein

Darf man heute überhaupt noch vom "Bürger" sprechen? Es herrscht längst unumschränkt die Effizienz des Kapitals, "Shopping" bedeutet Masseneudaimonismus, jedes moralische Wertempfinden und ästhetische Beurteilungsvermögen ist geschwunden. Man kann von einer Entdifferenzierung oder Auflösung der allereinfachsten Verhaltensregulatoren sprechen.

In einer solchen Zeit sich in jene geistigen Landschaften und ästhetischen Welten hineinzufinden, die vom Bürgertum in Jahrhunderten aufgebaut und weiterentwickelt worden waren und geliebt wurden, ist das möglich? Kann man heute noch verstehen, daß der Dienst an einer organisierten Gesellschaft als eine zivilisatorische Anstrengung empfunden wurde und Qualifikationen noch ein differenziertes, gebildetes und kultiviertes Bewußtsein voraussetzen? Genügt es, in der Zeit vor dem aufkommenden Kultursozialismus der neuen Linken zurückzugehen, wenn wir uns einem Bewußtsein der Deutschen annähern wollen, das noch von gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt war, die nicht ausschließlich materialistisch gedacht wurden? Es ist ratsam, in Anbetracht des nach dem Krieg herrschenden lauten Kulturbetriebs amerikanischer Machart weiter zurückzudenken. Wahrscheinlich wurde der Lebensgrund, auf dem das deutsche Bürgertum ein subtiles Bewußtsein und Stilempfinden entwickelte schon 1918 zerstört, nach '33 oder '45, nur spätestens in den sechziger Jahren.

Wir wollen der Erinnerung Raum geben, daß einmal in Deutschland eine Elite so weit geistig fundiert war, daß die Herrschaft nicht Seele und Geist verbiegen konnte, daß ein vorbildliches Menschentum - wenn dieses antiquierte Wort erlaubt ist - noch ein begründetes Standortbewußtsein hatte.

Selbstbildung des Individuums war der eigentliche Lebenssinn im bürgerlichen Selbstverständnis. Die Aufklärung und in deren Folge die pädagogische Wissenschaft hatten hier vorgearbeitet. Mit dem Schwund der religiösen Glaubwürdigkeit hatte sich ein säkularer Bildungsbegriff durchgesetzt, demzufolge die Bildung der Person durch Philosophie statt durch die Religion zu erfolgen habe. Renaissance, Humanismus, Reformation und Aufklärung hatten den Menschen auf sich selbst und seine eigenen Erfahrungen verwiesen, und mit dieser Aufwertung des Individuums das Studium der Alten und das eigene Nachdenken, somit die selbstbestimmte Ausbildung der Person, zur Verpflichtung gemacht.

Das Bildungsmotiv war im 19. Jahrhundert orientiert am humanistischen Bildungsbegriff der deutschen Klassik. Die ästhetischen Maßstäbe waren spätestens seit Winckelmann an der griechischen Antike ausgerichtet. Von daher erklären sich der Anspruch auf geistvollen Umgang, die Anstrengung der Form, das Verlangen nach einem verfeinerten Lebensstil. Sicher ist, daß ethische Fundamente noch in einer geistigen Tradition wurzelten und durch die Auseinandersetzung mit der antiken und klassischen deutschen Literatur und Philosophie gespeist wurden.

Das Bürgertum war im 18. und 19. und selbst noch im frühen 20. Jahrhundert eben der Stand des gebildeten Menschen, und der Begriff "bürgerliche Kultur" bekräftigte einen geistigen und formalen Lebensanspruch. Nicht allein Kapital, Handel, Gewerbe, das Berufs- und Geschäftsleben bestimmten, wie heute so penetrant, die Physiognomie der Stadt, die seit ihren Anfängen im 12. Jahrhundert ein bürgerliches Gemeinwesen war. Es war für das Bürgertum vielmehr selbstverständlich, mit der Welt der Bildung vertraut zu sein, vertraut mit Musik, Kunst, Literatur, Wissenschaft, und das Museum, Theater und die Oper waren Orte der Zusammenkunft des gebildeten Bürgertums. Es hat damit stilbildend gewirkt und insofern das Bild einer Stadt geprägt. Die Teilhabe an der bürgerlichen Kultur, die selbstverständliche Kenntnis bestimmter Lebensformen, Wertvorstellungen, Bildungsinhalte bezeugten die Zugehörigkeit zur gehobenen bürgerlichen Gesellschaft und keineswegs allein der materielle Erfolg und die Lobbyinteressen.

Bildung aber bestimmte nicht nur das Ansehen und das Niveau, sondern war auch ein eminent inneres Anliegen, dem das klassische Ideal der harmonischen Ausbildung der Persönlichkeit zugrunde lag. Entscheidend war daher, in den Zwängen der Berufs- und Arbeitswelt und der Öffentlichkeit nicht völlig aufzugeben, sondern die Bewahrung von Selbständigkeit, Autonomie und Individualität.

Die freie, selbstverantwortliche Existenz ist eine exklusive Existenz, die sich offenhält für die schöngeistigen Bereiche, für Dichtung, Philosophie, Wissenschaft. Natürlich war Goethe das große Vorbild.

Großen Anteil an der Ausbildung dieses bürgerlichen Selbstverständnisses hatten die Aufklärung mit ihrem Glauben an den Sieg der Vernunft, die Bildungsidee des Neuhumanismus und der deutsche Idealismus. Die kontemplative Lebenshaltung, die auch im Kult der Empfindsamkeit wurzelte, und die Forderung der Klassik nach Mäßigung der Leidenschaften waren ebenso Voraussetzungen für die Entwicklung eines Ideals vom freien, feinsinnigen, edlen Geist. Das Haus als Ort des privaten Studiums, als Refugium zur Pflege der künstlerischen und musischen Ambitionen war im allgemeinen Bewußtsein noch Teil der bürgerlichen Villenkultur im 19. Jahrhundert, denn das stilvolle Flair lud dazu ein, ein zurückgezogenes Leben edler Geistesarbeit zu führen.

Gewiß ist, daß die Pflege des persönlichen Entfaltungsraums und der eigenen Reservate, wo die Antworten auf die Daseinsfragen gesucht, die bisher zurückgelegten Wegmarken überprüft, Orientierungen und haltgebende Werte gefunden und ein gestärktes Selbstbewußtsein und Entscheidungssicherheit gewonnen werden konnten, nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun hat mit jenem hedonistischen Privatismus der keine Überzeugungen, sondern nur noch Meinungen und wechselnde Stimmungen kennt, und für den unsere heutige Zeit so viel Anschauungsmaterial liefert. Wie auch der bürgerliche Anspruch auf Humanität weit entfernt ist von dem prahlerischen, eudaimonistischen Individualismus, der die Menschen auf die totale Beliebigkeit zurückwirft und einer Selbstaufgabe des denkenden Menschen gleichkommt.

Die Äußerungsformen des Bildungsbürgertums haben andere Grundlagen: Dem Nachdenken über das, was es mit dem menschlichen Leben auf sich hat, geht es darum, ein Ethos zu begründen, das ein selbstbestimmtes Dasein im sozialen und nationalen Zusammenhang möglich macht, um eine verbindliche und verbindende Sittlichkeit als gemeinsamen Grund für die Ordnungen und Institutionen der Gemeinschaft, der man angehört. Es geht um ein normvermittelndes Menschentum, das erkennbar macht, daß bürgerliche Tugenden - wie Leistungsbereitschaft und Rationalität, Rechtsbewußtsein, nationale Verantwortung, die Hochschätzung von Form und Stil, Asketismus im Konsum und Rücksichtnahme - aufgrund fester Überzeugung handlungsbestimmend sind. Daraus resultiert das Vermögen, das eigene Verhalten auf seine Folgen zu bedenken. Damit ist auch immer verwiesen auf höchstes Staatsinteresse, denn die Bildung der Person wird stets verstanden als Voraussetzung für das Sich-Einlassen mit den Komplexen. Hier ist der auf die Aufklärung und auf Herder zurückzuführende Gedanke bestimmend, daß die Kultur der Nation auch immer das Werk eines frei schaffenden, geistvollen Menschentums - nie der Masse - ist, daß der Nationalgeist geformt wird durch das Spiel der besten menschlichen Kräfte, der Wert einer Nation sich immer durch die Höhe ihres Kulturniveaus ausweist.

Das Ziel der von der Klassik und vom deutschen Idealismus geforderten Bildung ist die Läuterung des sittlichen Bewußtseins; dies führt zu einem höheren moralischen Verständnis aufgrund dessen der Mensch zum Gesetzgeber des gemeinschaftlichen Zusammenlebens werden kann. So bleibt als konkrete Aufgabe für den Einzelnen, mit dazu beizutragen, daß der Grund einer bestehenden oder noch zu entwickelnden humanen Lebensordnung gesichert wird, an der Klärung der ethischen und sinngebenden Begriffe, ohne die ein Gemeinwesen eben nur als Zwangsanstalt bestehen kann, mitzuwirken, aufgrund der eigenen moralischen, ethischen und sittlichen Einsicht das Verantwortbare zu tun. Gewiß, dies klingt besonders anspruchsvoll, aber die Mitglieder der Paulskirche, des ersten deutschen Parlaments, des sogenannten Honoratiorenparlaments, waren von solchem Geist durchdrungen. Den Typus Mensch, der Bildung und Vernunft, ein Bewußtsein für Form und Ästhetik und die Notwendigkeit von Institutionen hatte und aufgrund fester, ethisch begründeter Überzeugungen handelte, gab es tatsächlich. Namen wie die von Jacob Burckhardt, Gerhard Ritter, Ricarda Huch, Richard Benz, Benedetto Croce, Arnold Gehlen oder Wolf Jobst Siedler stehen für eine bürgerliche Elite, die sich im Sinn einer humanen Idee dem Gemeinwesen gegenüber verantwortlich fühlte. Dieser Typus Mensch ist selten geworden.

Denn der technische Progreß mit der Mobilisierung gewaltiger Energien, die durch die rapide zunehmende Effizienz und Dynamik der Prozesse möglich wird, mit seiner straffen Durchdringung aller Lebensbereiche nach funktionalistischen Prinzipien, den Maximen der Nützlichkeit und der Kapitalausweitung, mit seinen monströsen Organisationsstrukturen, hat jeder idealistischen Ausdeutung des menschlichen Daseins und jedem Versuch ästhetischer Gestaltung brutal ein Ende gesetzt. Martin Heidegger hat 1927 in "Sein und Zeit" seinem Unbehagen gegenüber technischen Anlagen, Einrichtungen, Maschinen, die dem Menschen seine Entscheidungsfähigkeit nehmen, zum Ausdruck gebracht. Ernst Jünger hatte im "Arbeiter" 1932 die Herkunft eines neuen, von der technischen Welt gefesselten Menschen beschrieben und die Zukunftsvorstellung eines Termitenstaates entwickelt.

In der durchrationalisierten Arbeitswelt der "Werkstättenlandschaft" hat die Technik die totale Verfügung über den Menschen. Jünger hatte längst die Einsicht gewonnen, daß die Automatisierung die Lebenswelt des Menschen beherrscht und ihn zur Marionette herunterstutzt. In den vorherrschenden Bewegungsabläufen, Funktionszusammenhängen, Planungsvorgaben, Koordinierungen und Vernetzungen, in denen er sich mit seiner präzis festgelegten Funktion zu bewähren hat, ausgesetzt und ausgeliefert, wird selbst zum perfekten Automatismus, zum Produkt der administrativen und ökonomischen Strukturen, denen er sich unterzuordnen hat und die auf funktionelle Nutzeffekte, auf Verwertbarkeit und Verfügbarkeit eines Typus zielen.

Das Ergebnis der ordnungsgemäßen Anpassung an die modernen Organisationsprinzipien in Arbeitswelt und "Freizeit" ist die Mittelmäßigkeit der Erscheinung mit ihrer geschäftsmäßigen Sachlichkeit und farblosen Glätte, die, ohne auffallenden Charakterzug, individuellen Akzent oder subjektiven Antrieb, menschlich ungerührt, ästhetisch unempfindlich, in ihrer unreflektierten Eindimensionalität auf nüchterne Normalität fixiert bleibt. Durchschnittlichkeit bis hin zur uniformen Kleidung und Physiognomie.

In der Tat: Das ist Dekadenz. Karl-Heinz Weißmann schreibt: "Das Nachlassen der Kraft einer Kultur äußert sich im sichtbaren Überhandnehmen des Gewöhnlichen, das normalerweise -wohl vorhanden - aber in den Untergrund verbannt bleibt."

Seine von jeher hilflose Beziehung zur Macht und - nach dem Zweiten Weltkrieg - die Fixierung auf den Wohlstand haben dazu geführt, daß das Bürgertum keinen Selbstbehauptungswillen, keine festen Überzeugungen und kein Gefahrenbewußtsein mehr besitzt. Von den allgemein vorherrschenden permissiven und hedonistischen Gemütszuständen wurde der bürgerliche Geist korrumpiert: Man hat sich allen von außen kommenden Forderungen, Zumutungen, Beschuldigungen gebeugt, man hat einer ordinären Kulturindustrie und einer totalitären antifaschistischen Ideologie das Feld überlassen und widerstandslos zugesehen, wie dem Staat alle Souveränitäten genommen werden. Woher sollten also Handlungsbereitschaft und Remedur noch kommen?

Die Religion, die Nation und die eigene philosophische Bildung hatten das Bürgertum auf seine Verantwortung gegenüber der societas civilis verwiesen: nach Kants kategorischem Imperativ so zu handeln, daß das eigene Tun mit den allgemeinen Gesetzen übereinstimmt. Goethes Idee der Entsagung weist hier die Richtung für den, der sich der Anstrengung der eigenen Persönlichkeitsbildung unterzog.

Einst gehörte zum bürgerlichen Selbstverständnis als einer anspruchsvollen Daseinsform die Wahrung einer noblen und würdigen Haltung, die eine im Inneren gebildete geistvolle und disziplinierte Existenz erkennen lassen. Die Quellen, aus denen dieses Ethos gespeist wurde, sind heute versiegt. Der Umsturz des bürgerlichen Moralsystems infolge einer jahrzehntelangen Diffamierung der Traditionen hat alle idealen Begriffe pulverisiert. Im Alltag sieht man es auf Schritt und Tritt bestätigt. Goethe, Schiller und Novalis waren davon überzeugt, daß eine humanistische Regeneration in der Geschichte stets möglich bleibt. Doch wer möchte diejenigen tadeln, die nach zwei Weltkriegen und einem amerikanischen Jahrhundert daran zweifeln?

 

Hans-Georg Meier-Stein, Jahrgang 1948, studierte Alte und Neuere deutsche Literatur und Geschichte. In der JF schrieb er zuletzt über die Museumsidee (JF 20/02).


 
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