© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/03 24. Januar 2003

 
Massenschicksal Einsamkeit
von Ulrich Beer

Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung lebt aus den verschiedensten Gründen allein. Jedes Jahr kommt in der Bundesrepublik rund eine Viertelmillion dazu, auch wenn nicht alle auf Dauer allein bleiben müssen.

Die Hauptursache für unsere Single-Gesellschaft besteht darin, daß die Zahl der Scheidungen explosionsartig angestiegen ist. Fast jede zweite Ehe in der Bundesrepublik wird geschieden, insgesamt über 190.000 jährlich. Uns interessiert, wie der Mensch das Alleinsein psychisch verkraftet. Als gesellschaftliche Gruppe treten Geschiedene kaum in Erscheinung. Doch gerade hier ist die seelische Belastung besonders groß. Beim durch Tod entstandenen Verlust erfährt man Anteilnahme von allen Seiten durch Kondolenzschreiben, Hilfe der Nachbarn, Besuche von Freunden, wenigstens in der ersten Zeit. Der Tote lebt in der Erinnerung weiter und erscheint oft besser, als er war. Der Tod ist endgültig, sehr schmerzlich, aber irgendwann beginnt man, mit der Erinnerung zu leben. Manchmal gibt auch noch eine kleinere oder größere Erbschaft etwas Trost.

Anders bei der Scheidung. Die Gefühle geraten total durcheinander. Das Bild des Partners ist verzerrt. Man hat sich nicht mehr in der Gewalt und wird von Wut, Verzweiflung, Rachegefühlen, Selbstmitleid, Scham und schlechtem Gewissen geplagt. Ständige Auseinandersetzungen zermürben. Man wird nicht frei, obwohl man nun über Zeit und Vermögen allein verfügt. Beide Seiten sind nervlich am Ende und im Innersten zutiefst verletzt.

Gut hat es der, der gleich einen neuen Partner findet, zu dem er ziehen, und bei dem er Trost und Halt finden kann. Das ist aber nicht die Regel. Was bleibt, sind zunächst Resignation und Ratlosigkeit. Man ist wie gelähmt, läßt sich gehen, durchhängen. Schlimm ist das Gefühl, irgendwo versagt zu haben. Schade, daß alles umsonst war. Man fragt sich: "Wie schaffen es die anderen?" Niemand ist auf diese wirklich erbärmliche Situation vorbereitet. Auch die Besucher bleiben fast gänzlich aus. Man wird skeptisch. Man überlegt: Meinen es die Leute jetzt wohl ehrlich, oder sind sie bloß neugierig? Die Nachbarschaft hat einen Anlaß für Klatsch.

Geld von der Lebensversicherung ist auch nicht zu erwarten, dagegen kommen Anwaltsschreiben und -rechnungen, Prozeßkosten, Vorschußforderungen, Unterhaltsklagen, Mitteilungen, daß nun der Rentenanspruch geteilt und das Sorgerecht für die Kinder eventuell dem anderen übertragen wurde. Hier nimmt einem niemand, wie im Falle des Todes ein Institut, alle äußeren Sorgen ab.

In einigen Städten haben sich inzwischen neben den Eheberatungsstellen schon Scheidungsberater niedergelassen. Selbst die nächsten Angehörigen sind oft zerstritten und verunsichert, zu welcher Seite sie halten sollen. Eigenartigerweise gehen bei einer Trennung häufig die besten Freundschaften auseinander. Dem Alleinlebenden erscheint die Welt zunächst voller Barrikaden und Hindernisse.

Der Mensch ist eigentlich nur paarweise willkommen oder nur dann, wenn er attraktiv, lustig, und witzig ist, aber danach ist ihm in diesem Zustand am wenigsten zumute. Er muß also zur Selbsthilfe greifen. Er muß seinen Lebensrhythmus ändern. Für den unfreiwillig Alleinlebenden ist es schwierig, da er immer noch zu sehr auf seinen ehemaligen Partner fixiert ist. Kommt er doch eines Tages zurück? Lohnt es sich, neue Beziehungen zu knüpfen? So sehen die Fesseln an eine Vergangenheit aus, die nicht wieder kommt, über die man hinwegkommen muß.

Wer nicht in Selbstmitleid verfallen und verbittern und seine Mitmenschen überfordern will, muß unbedingt selbst die Initiative ergreifen. So leicht ist das allerdings nicht. Man will sich nicht aufdrängen. Es gehört Mut dazu, sich selbst bei anderen einzuladen oder andere Paare zu bitten. Da die Mehrzahl der Erwachsenen überwiegend in Paarform existiert, fühlt man sich nur noch als Hälfte, als halbe Portion. Die Lücke ist da, wo früher der Partner stand, und die eigene Vorstellungskraft sagt einem, daß die anderen auch so empfinden, nur spricht niemand darüber.

Der Einsame ist voller Vorurteile und Ängste und deutet vieles falsch. Er hat niemanden, mit dem er darüber sprechen kann, allenfalls mit seinesgleichen.

Was immer wieder besonders schmerzt, ist der Anblick glücklicher Paare. Von seinen Mitmenschen, die sich rücksichtsvoll glauben, wird der Einsame gemieden. Doch er braucht Menschen, die ihm zuhören, sich in seine Lage versetzen können und bereit sind, ihn da herauszuholen.

Es vergehen meist ein bis zwei Jahre, bis der Alleinstehende begreift, daß das Leben trotzdem weitergeht. Er wird ruhiger und stellt fest, daß die unhaltbarsten Zustände sich meistens am längsten halten. Er akzeptiert sein Schicksal. Das seelische Gleichgewicht wird allmählich wieder hergestellt. Er ist allerdings ernster und kritischer geworden. Natürlich will er sich wappnen gegen neue Enttäuschungen und beobachtet nun sein Umfeld wesentlich genauer und aufmerksamer. Dabei besteht leider die Gefahr, daß er überkritisch und überängstlich wird. Er horcht viel zu sehr in sich hinein. Auch gerät meistens der normale Lebensrhythmus total aus den Fugen. So verändert er seinen Tagesrhythmus. Er ißt unregelmäßig, steigert seinen Alkohol- oder Zigarettenkonsum und geht spät ins Bett, schläft schlecht, greift zu Schlafmitteln. Er treibt regelrecht Raubbau mit seinem Körper. Das kann im schlimmsten Fall zu ernsthafter Krankheit oder gar Selbstmord führen.

Es kommt häufig zu Kurzschlußreaktionen. So wird irgend etwas impulsiv gekauft, was anschließend nutzlos herumliegt. Man versucht eine neue Frisur, gibt sich betont jugendlich und salopp, versucht sich in ungewöhnlichen Sportarten, hat laufend neue Freunde und wechselt häufig die Wohnung. Man ist verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Identität.

Der unfreiwillig Alleinlebende ist manchmal haltlos und völlig unausgeglichen. Er setzt sich keine Ziele. Er reagiert labiler und sensibler auf innere und äußere Einflüsse. Indirekt wird dadurch bewiesen, welch großen Halt Partnerschaft, Familie, Verwandtschaft und Freundschaft darstellen. Das ist es, wonach sich der Einsame im Grunde sehnt, zugleich hat er aber auch wieder Angst davor. Als gebranntes Kind ist er bindungsscheu und extrem skeptisch.

Auch wenn es zunächst überraschend klingt: Der Einsame erleidet nicht nur den Verlust des Du oder sucht die Trennung von ihm, er steht vor allem in der Gefahr, sein Ich zu verfehlen.

Zweierbeziehungen scheitern häufig an der Unvollständigkeit der Person, deren Ergänzung sie im anderen sucht. Damit wird aber der andere oft überfordert. Die Beziehung zerbricht und der Suchende steht wieder allein und merkt nicht, daß er im Grunde sich selbst, seine innere Ergänzung, seine Vollständigkeit sucht. Diese, wenn auch unfreiwillige Einsamkeit wäre die Chance, sich selbst zu finden. Aber sie enthält zugleich die Gefahr, sich zu verlieren.

Worin besteht die Qual des Einsamen ? Die Frage mutet seltsam an, da doch jeder zu wissen meint, daß Einsamkeit, die nicht freiwillig gesucht wird, in sich und an sich schon eine Qual sein muß. Aber ihre spezielle Färbung, ihr Charakter läßt sich fixieren und definieren. Der eine leidet mehr unter Langeweile, die sich ihm aufzwingt, weil er niemanden hat, mit dem er reden, sich austauschen, zärtlich sein kann. Der andere verspürt tief in sich die Angst vor Alter und Tod oder nur einfach die unnennbare, namenlose, existentielle Angst, über die er sich durch die Gegenwart anderer hinwegtäuschen kann. Ein dritter vermißt Ablenkung und Anregung und hat keinen Mut, selbst etwas zu unternehmen. Und dann tun sich schwer beschreibbare Strudel in einem auf, ein Sog, der uns in Abgründe zieht. Wir wachen nachts auf, finden uns allein vor, ertragen uns nicht, mögen uns auch im Spiegel nicht mehr sehen. Uns beginnt zu schwindeln, Seele, Magen, Hirn (oder was immer in uns) scheinen zu kreisen, einen sich steigernden, nicht abzuhaltenden und schließlich nicht mehr auszuhaltenden Wirbel zu bilden, der uns verschlingt, uns in ein gähnendes großes Loch, einen Abgrund von Angst und Sinnlosigkeit stürzt. Gefühle der Ohnmacht und Verzweiflung lauern am Grunde dieses Strudels.

Die Einsamkeit kann auch die Mutter der Neurose sein. Hier ist nicht zu reden von den Fällen, in denen sie ihre Folge ist, sondern daß Einsamkeit zu Turbulenzen der inneren Bilanz, zum Verlust des Gleichgewichts und zur Gefährdung aller Beziehungen führen kann.

Einsamkeit kann furchtbar und sie kann fruchtbar sein. Heute ist die gefürchtete, unfreiwillige Einsamkeit unter zahllosen, anonymen Menschen alarmierend groß geworden. Die daraus wachsenden Ängste und Depressionen haben in einem Maß zugenommen, dessen Ärzte und Psychologen nicht mehr Herr werden. Und das im Zeitalter der Massenkommunikation und der Menschenhäufung in den Ballungszentren! Zugespitzt läßt sich sogar behaupten: Je mehr Kommunikation in der Öffentlichkeit, um so einsamer der einzelne.

Erstaunlicherweise suchen andere die Einsamkeit, die Begegnung mit der Natur, mit sich selbst, mit Gott. Künstler, Denker, Aussteiger, Einsiedler - insgesamt Menschen, die Konzentra-tion suchen, sich selbst und den Dingen auf den Grund gehen wollen. Endlich sind sie ungestört. Sie tanken da Kraft, wo andere in Verzweiflung zu ertrinken fürchten.

Wie erreicht man das eine und vermeidet das andere? Wie lernt man Einsamkeit ertragen, wo sie unvermeidbar ist, zu überwinden, wo sie überwunden werden sollte, und sie fruchtbar zu nutzen, wo sie genutzt und auf Gemeinsamkeit bezogen werden kann?

Wie fast alle Dinge im Leben wechselt sie ihre Gesichter nach der Maßgabe unserer eigenen Entscheidungs- und Wertsetzung: Es kommt darauf an, wie wir uns zu ihr einstellen, und was wir aus ihr machen. Ihre Gefahren heißen Verlassenheit, Leere, Öde und Wüste; ihre Chancen Besinnung, Vertiefung und Innerlichkeit. Im einen Fall sind wir eingesperrt in das Gefängnis unserer Isolation, im anderen Fall wählen wir die königliche Freiheit unserer Klausur. Durch eine kleine Änderung in unserem Denken ändern wir alles oder das Entscheidende und schaffen die Voraussetzung unserer Freiheit.

Schon am Beginn der Neuzeit widmet ihr der italienische Dichter Francesco Petrarca ein Buch "De vita solitaria" und lobt darin die Einsamkeit der Seele: "Sage mir bei Gott, welches Glück kann größer sein als die Einsamkeit, vor allem zur Zeit der Nacht, zur Zeit der Stille, der Ruhe und der Freiheit...?"

Für Dichter und Denker ist Einsamkeit so selbstverständlich wie die Atemluft. Keiner jedoch hat sie in diesem Jahrhundert mehr zum Thema gemacht als Rainer Maria Rilke. In seinen "Briefen an einen jungen Dichter" setzt er sich mit ihr auseinander und beschwört (fast sich selbst?): "Was not tut ist auch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit, In-sich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen - das muß man erreichen können." Und er zitiert den dänischen Dichter Hans Larson: "Wenn du Leere fühlst, ja, was sollst du dann tun? Gesellschaft und Zerstreuung sind nur scheinbare Hilfen. Du mußt in dich gehen, du mußt dich sammeln, allein sein. Du mußt deine Leere um dich fühlen wie einen leeren Raum, wie ein Gewölbe."

Wie viele schöpferische Menschen braucht Rilke die Einsamkeit. Gerade bei ihm ist sie der mystische Weg nach innen, zu seinem "Welteninnenraum", seinem Urgrund, der immanente wie transzendente Dimension besitzt, aus dem er fühlend, denkend, dichtend intensivste Gedanken und Gedichte gestaltet. Der Dichter hütet seine Einsamkeit wie einen Schatz. Wo andere verzweifeln, wenn sie sich aus der Einsamkeit in die Zentrifugen der kollektiven Zerstreuung "retten", gelingt es dem Dichter, der heißlaufenden Rotation mit ihrer Fliehkraft nach außen zu entkommen und sich gleichsam in Gegenrichtung nach innen zu zentrieren. Die Zentrierung ist ein Ruhepunkt in gelungener Klausur: ein Stillstand im Brodeln von Wünschen und Gefühlen, ein Sein gleichsam im Auge des Taifuns, an dem sich nichts und um den sich alles bewegt.

Der Mensch, der in die Klausur geht, läßt den Lärm hinter sich, legt Abstände zwischen sich und die Welt. Der Einsiedler ist keineswegs nur eine Erscheinung früherer Jahrhunderte, etwa als Dürer seinen "Hieronymus im Gehäus" beim Studium der Heiligen Schrift festhielt. Einsamkeit ist auch heute eine begehrte und bewährte Form der Konzentration nach innen. Noch gibt es Bäume und Wälder, in die kein Lärm dringt. Leere und Himmel, die ihn aufnehmen und wo er sich selbst überlassen ist.

Allerdings verlangt dieser Einstieg Opfer, die sich jedoch bald als Gewinn herausstellen. Wir verlassen die eine Landschaft, die vertraute und doch abgenutzte Umwelt, und treten in eine neue Welt, die Innenwelt, ein. Wir schließen die Augen, um den geistigen Blick nach innen zu wenden, wir befreien die Ohren von der Diktatur des Lärms, um sie für die wunderbare Melodie von Sphären zu öffnen, die in uns aufklingen und von denen wir sonst überhaupt nichts vernehmen würden.

Der Logotherapeut Viktor Frankl sagt: "Der Sinn ist da, wenn ich nicht an ihn denke. In der Hingabe an eine Aufgabe fällt er mir in den Schoß. Sich selbst verwirklichen kann man nur, indem man vergißt."

 

Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut. Einem breiten Publikum bekannt wurde er als sachverständiger Berater der langjährigen Fernsehsendung "Ehen vor Gericht".


 
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