© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/03 31. Januar 2003

 
Verlorene unter Verlierern
60 Jahre Kapitulation von Stalingrad: Für die überlebenden Soldaten des Kessels begann eine bis zu 13 Jahre dauernde Gefangenschaft
Hans-Joachim von Leesen

Ende Oktober 1942 meldet die 6. deutsche Armee, sie habe neun Zehntel des Stadtgebietes von Stalingrad eingenommen. Vier Wochen später wurde diese 6. Armee zusammen mit Teilen der 4. Panzerarmee jedoch großräumig von den Sowjets eingeschlossen. Die Verpflegungsstärke der deutschen und verbündeten Truppen im Kessel beläuft sich noch am 18. Dezember 1942 auf 230.000 Mann. Bis Ende Januar werden davon 42.000 verwundete Soldaten sowie Spezialisten ausgeflogen. Bei folgenden Kämpfen gelingt es den Sowjets, bis zum 29. Januar 16.800 Soldaten aus dem Kessel gefangenzunehmen.

Als am 31. Januar 1943 der Hauptteil der 6. Armee und zwei Tage später die restlichen Einheiten (Nordkessel) die Waffen strecken, gehen 91.000 völlig erschöpfte, zum Teil verwundete und an Erfrierungen leidende Soldaten in die Gefangenschaft. Von den insgesamt 107.800 in sowjetische Gefangenschaft geratenen Soldaten kehren später nur 6.000 zurück. Über 100.000, das sind 94 Prozent aller Stalingrad-Gefangenen, überlebten die Gefangenschaft nicht.

Diese mörderische Zahl gilt nicht allein für die Stalingrad-Gefangenen. Der Historiker Rüdiger Overmans, der im Auftrage des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in jahrelanger Arbeit die konkreten Zahlen der deutschen militärischen Verluste im Zweiten Weltkrieg erforschte, kam zu dem Schluß, daß von allen deutschen Kriegsgefangenen, die von Beginn des Krieges an bis zum Frühjahr 1943 in sowjetische Hand gerieten, 95 Prozent ums Leben gekommen sind.

Der größte Teil der Stalingrad-Gefangenen war in schrecklicher Verfassung. Es war den eingeschlossenen deutschen Truppen nicht nur die Munition ausgegangen, sondern auch die Verpflegung. Krankheiten grassierten, die von Ungeziefer weiter verbreitet wurden. Es fehlten die einfachsten hygienischen Möglichkeiten. Verwundete konnten nicht mehr ausreichend versorgt werden, Erfrierungen nahmen zu. Als nach der Kapitulation die Rote Armee die Gefangenen einsammelte, entledigte sie sich zum größten Teil der in den Kellern in Sicherheit gebrachten deutschen Verwundeten, indem sie sie mit Flammenwerfern oder mit Handgranaten töteten. Nicht nur der harte Kampf hatte bei vielen Rotarmisten den Haß auf die Deutschen geschürt, sondern noch mehr die sich überschlagende Greuelpropaganda der sowjetischen Kriegsführung. Von Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges an hatte sie alles getan, um die "faschistischen" Gegner ihres menschlichen Antlitzes zu entkleiden, sie zu Bes-tien, Menschenfressern, Vergewaltigern, Sadisten abgestempelt, an denen es sich grausam zu rächen galt.

Den vorliegenden Berichten ist übereinstimmend zu entnehmen, daß es stets die erste Tat der Sieger war, den Gefangenen die Wertsachen wie Ringe, Uhren und ähnliches zu rauben. Dann folgten noch brauchbare Stiefel, in vielen Fällen die Mäntel, und das alles bei schneidender Kälte. So mußten sich dann Zehntausende zu langen Marschkolonnen formieren, die durch die Trümmer und dann durch die verschneite Natur getrieben wurden. Wen die Kraft verließ, der wurde ohne Aufhebens erschossen oder im Schnee liegengelassen, so daß er bald erfror. Gehfähige Soldaten bemühten sich, ihre leichter verwundeten Kameraden mitzuschleppen. Häufig hatten die Gefangenen den Eindruck, man führe sie durch die eisige Kälte, ohne ein festes Ziel zu haben. Brach die Dunkelheit herein, sanken die erschöpften Gefangenen in den Schnee. Morgens blieb ein weiterer Teil von ihnen erfroren zurück. Ließ man sie in Ruinen oder noch halbwegs intakten Gebäuden rasten, fehlte jegliche Verpflegung.

Sie kommen ins Lager, fallen zu Boden und sterben

Diese Märsche bis in die Auffanglager forderten einen großen Teil der Verluste. Aber auch hier setzte sich das Massensterben fort, weil die sowjetischen Stellen offensichtlich nicht in der Lage waren, die große Anzahl der Gefangenen zu versorgen. Wie die Verhältnisse in solchen Lagern waren, geht aus einem Rapport von Generalmajor Petrow vom März 1943 an das NKWD der UdSSR hervor, der das Kriegsgefangenen-Aufnahmelager Nr. 48 des NKWD führte. Er teilte mit, daß 3.698 deutsche Kriegsgefangene, darunter 19 Offiziere, eingetroffen seien. Sie kämen "in der Regel zu 75 Prozent barfuß, zu 25 bis 30 Prozent ohne Bekleidung an." Weiter der Rapport: "Seit 13 Tagen gibt es kein Frisch- und kein Trockenbrot (...) hauptsächlich wegen des Unwillens, die Kriegsgefangenen zu ernähren, aber auch wegen der eigenen Tatenlosigkeit." Er, der Kommandant, habe sich bemüht, Weizen und Gerste zu Grütze verarbeiten zu lassen, so daß er hoffe, jedem Gefangenen einen Liter Grützensuppe pro Tag geben zu können. "In letzter Zeit treffen sehr schwache Kriegsgefangene ein. Man treibt sie bis zu 200 Kilometer weit. Sie bekommen im Verlauf von sechs bis sieben Tagen nichts zu essen. Sie kommen ins Lager, fallen zu Boden und sterben." Er meldete auch, daß zu den Gefangenen auch ein "Ehemaliges Militärangehörigen-Sonderkontigent" zählte, (das sind Sowjetsoldaten, die sich in deutscher Gefangenschaft befunden haben und nun "befreit" wurden). Sie wurden offensichtlich noch schlimmer behandelt als die deutschen Gefangenen.

So wie im Aufnahmelager Nr. 48 verhielt es sich, wie die nach dem Krieg veröffentlichten Dokumente ausweisen, in nahezu allen Lagern. So entnimmt man einem Bericht über das Lager Nr. 65, dort sei am 22. Januar (also mehr als eine Woche vor der Kapitulation des Stalingrad-Kessels und damit vor der Ankunft der großen Masse der Kriegsgefangenen) "ein Zug von Kriegsgefangenen von der Bahnstation Sebrjakowo aufgenommen worden. Unter den Bewachten befanden sich 2.860 Krieggefangene. Dem Lager wurden aber nur 1.221 Mann übergeben. Die anderen Gefangenen starben unterwegs vor Ankunft im Lager." Solche Berichte liegen in großer Anzahl vor. Dabei hatten sowjetische Flugblätter, die über dem Kessel abgeworfen worden waren, versprochen: "Wer sich gefangen gibt, ist nicht mehr Feind. Allen Mannschaften und Offizieren, die sich gefangen geben, garantiert das Kommando der Roten Armee ihr Leben und völlige Sicherheit. Verwundete und Kranke erhalten ärztliche Behandlung. Eure Mannschaften und Offiziere, die sich bereits gefangen gegeben haben, leben und sind gesund."

Bewußter Grausamkeit stand Sorge und Hilfe gegenüber

Von den Auffanglagern ging es dann zu einem der Lager, von denen es am Ende des Krieges in der ganzen Sowjetunion etwa 5.000 gab. Allmählich sank die Todesrate. Die inzwischen veröffentlichten Dokumente zeigen auf der einen Seite bewußte Grausamkeiten und eine kaum vorstellbare Menschenverachtung, auf der anderen aber auch aufopferungsvolles Bemühen der Kommandanten von Kriegsgefangenenlagern, von sowjetischen Ärzten und auch nicht selten von der Zivilbevölkerung, durch die mancher Gefangene noch gerettet wurde.

Nach dem 8. Mai 1945 strömten dann in großer Anzahl die Gefangenen in die Lager, die nach dem Ende der Kampfhandlungen in die Hände der Roten Armee gefallen waren oder die ihr von den Briten und Amerikanern ausgeliefert worden waren. Die Arbeitsfähigen wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt, um die zerstörte Industrie und die Wohnungen wiederaufzubauen. Der Umfang der Aufbauarbeiten, etwa in Stalingrad bis Anfang 1949, war erstaunlich. In dem Buch "Stalins Kriegsgefangene" von Erwin Peter und Alexander Epifanow wird aus sowjetischen Dokumenten zitiert, wonach die deutschen Kriegsgefangenen in Stalingrad drei Werkhallen aufgebaut haben, zwei Dampfkesselwerke errichteten, dreihundert Wohnungen in mehrstöckigen Häusern instandsetzten, neue Häuser mit 782 Wohnungen sowie ein Stadion bauten. Die Kriegsgefangenen hatten bis Anfang 1949 fast 89 Millionen Arbeitstage geleistet. Es wurde errechnet, daß insgesamt die deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR zwanzig Milliarden Arbeitsstunden leisteten, die von ihnen erarbeitete Bruttosumme betrug 133.328.588 Rubel. Das entspricht der vier- bis fünfjährigen Arbeitsleistung aller industriellen Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen (Stand 1980).

Um auch nach der unvermeidlichen Heimkehr möglichst viele Kriegsgefangene als Arbeitskräfte weiter im Land zu behalten, begann sehr bald die Jagd nach angeblichen "Kriegsverbrechern". Sie wurden vor sowjetische Gerichte gestellt und fielen mit der Verurteilung aus der Kategorie der Kriegsgefangenen heraus. Nach den Ermittlungen von Günther Wagenlehner, der nach der Wende jahrelang in russischen Archiven im Auftrage der Bundesregierung arbeiten konnte, sind etwa 70.000 deutsche Soldaten von sowjetischen Militärtribunalen rechtswidrig zu langjähriger Zwangsarbeit oder zum Tode verurteilt worden. In fast keinem einzigen Fall entsprachen die Urteile rechtsstaatlichen Normen, was sich auch darin ausdrückt, daß in den Jahren seit der Wende in Wiederaufnahmeverfahren fast alle Anträge zur Rehabilitierung der Verurteilten führten.

Eine üble Rolle spielte die "Antifa", die von den Sowjets aufgebaute antifaschistische Organisation von deutschen Gefangenen. Die Umerziehungsmaßnahmen waren für die Sowjets jedoch wenig ermutigend. Nach eigenen Angaben soll es bis 1946 lediglich 0,7 Prozent der Gefangenen gegeben haben, die sich als "antifaschistische" Spitzel unter ihren Kameraden betätigten, um durch die Lieferung von belastendem Material für die Verurteilung von "Kriegsverbrechern" eigene Vorteile zu erreichen hofften.

Die allerletzten deutschen Kriegsgefangenen wurden 1956 nach Deutschland entlassen. Diese Transporte bestanden aus nicht amnestierten "Schwerstverbrechern". 275 werden in die DDR entlassen, 452 in die Bundesrepublik. Die Sowjets hatten zugesagt, die Akten über deren "Verbrechen" nachzureichen, was bis heute nicht eingelöst wurde.

Foto: Endlose Kolonnen ziehen in die Gefangenschaft: Knapp sechs Prozent von ihnen kehren in die Heimat zurück


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen