© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/03 31. Januar 2003


Meldungen

Gewaltkriminalität und sozialer Wandel vor 1914

GÖTTINGEN. Heute riskiert kaum noch jemand den Spruch "Früher war alles besser". Das ist ein Verdienst der Heerscharen von Sozialhistorikern, die uns die Bundesrepublik als die schönste aller Welten im Kosmos der deutschen Geschichte darstellen. Und zwar durch Kreation entsprechend düsterer Gegenwelten. Dazu zählen das Dritte Reich sowieso, das friderizianische Preußen, das wilhelminische Kaiserreich. Beliebter Maßstab zur Destruktion verklärender Vorstellungen von "Sicherheit und Ordnung" in "autoritären Regimen" ist dabei die Kriminalitätsstatistik. Sie zeichnet auch der Hallenser Soziologe Helmut Thome für die Jahre zwischen 1883 und 1902, ein dunkles Alltagsbild aus Bismarcks Reich (Geschichte und Gesellschaft, 4/02). Er beläßt es jedoch nicht dabei, einen markanten Anstieg der Gewaltkriminalität nachzuweisen, sondern setzt sie in Beziehung zum sozialen Wandel. Dabei ergibt sich ein verblüffender Trend: Im Kaiserreich nahm die Gewaltkriminalität nur in ländlichen, traditionell-kollektivistisch geprägten Regionen zu, in den Städten ging sie zurück. Der durch Landflucht ausgelöste Individualisierungsschub in den Städten dämmte die Gewaltkriminalität also ein. Dagegen wird in allen westlichen Industriestaaten seit 1945 beobachtet, wie mit der Verstädterung die Gewaltkriminalität ansteigt. Anders als vor 1914 mit einem "kooperativen", so erklärt Thome dieses Phänomen, hätten wir es heute mit einem gewaltfördernden "egoistischen" Individualismus zu tun, der angesichts der globalistisch unterminierten Staatsmacht freie Bahn habe.

 

Normative Folie der US-Politik in Nah-Ost

BONN. Die linksliberalen Blätter für deutsche und internationale Politik sind seit letztem Sommer zu einem wichtigen politikwissenschaftlichen Diskussionsforum für alle Aspekte der "Irak-Krise" geworden. Hatte der Blätter-Kolumnist William Pfaff (siehe JF 5/03) mit seinen monatlichen Kritiken an der Bush-Politik immer wieder vor einer Vereinfachung der US-Kriegsmotive auf die "zwei Buchstaben" gewarnt, so meinen auch Andrea Szukala und Thomas Jäger, trotz aller Verquickung der Bush-Führungsmannschaft mit der Petroindustrie ginge es nicht simpel nur um "Öl" oder die Gewinnung einer geostrategischen Dominanz im Nahen Osten (Heft 1/03). Stattdessen seien die innenpolitischen Machtverhältnise in den USA bei außenpolitischen Analysen in ihrer ganzen Komplexität zu berücksichtigen. Es gehe aber auch nicht um die präventive Ausschaltung "Massenvernichtungswaffen", wie soeben, auf der Jagd nach "antiwestlichen Ressentiments" und unter Berufung auf das jüngste Werk des Tel-Aviver Politologen Dan Diner ("Feindbild Amerika") Thomas Kleine-Brockhoff in seinem Zeit-Leitartikel (Nr. 5/03) behauptet. Ergiebiger als diese These, so meinen Szukala und Jäger, sei die Annahme eines "engen Zusammenspiels einflußreicher Vertreter der Administration mit der Rüstungsindustrie". Der "Sternenkrieger" Donald Rumsfeld und andere Lobbyisten steuerten heute einen "militärischen Beschaffungsprozeß", der seinesgleichen in der Geschichte der US-Rüstungsindustrie suche. Zu diesem Vorgang bilde die militärische Sicherung der unipolaren Weltordnung "die norma-tive Folie".

 

Erste Sätze

Würzburg, 27. Oktober 1852 abends.

Liebste Eltern! Soeben habe ich das erste Menschenblut von meinen Händen, in die ich mich merkwürdigerweise nicht geschnitten habe, abgewaschen, und beeile mich nun, Euch die erste Nachricht von hier zu geben.

Ernst Haeckel: Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe an die Eltern 1852/ 1856, Leipzig 1921


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