© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/03 07. Februar 2003


Es geht um die Freiheit Europas
von Alain de Benoist

Derzeit macht Europa eine institutionelle Krise sondergleichen durch. Ihm fehlt sowohl politischer Wille als auch demokratische Legitimität. Die Staaten, aus denen es sich zusammensetzt, weigern sich, Europa echte politische Kompetenzen zuzugestehen. Ihre Pläne für eine "Strukturreform" belaufen sich auf Liberalisierungs- und Deregulierungsbemühungen und messen der Öffnung der Märkte größeres Gewicht bei als der gemeinsamen Politik. Europa hat sich auf eine Flucht nach vorne begeben, die eher die bürokratische Erweiterung begünstigt als die Stärkung seiner politischen Entscheidungsstrukturen.

Dementsprechend liegt der Schwerpunkt nicht auf der Vorstellung von einem europäischen Volk als politischer Einheit, nicht auf den Begriffen Souveränität, Gemeinschaft oder Demokratie, sondern er liegt auf den Werten des Marktes, auf Verwaltung und Verfahrensjustiz. Das europäische Projekt wird hauptsächlich auf wirtschaftlicher Ebene konstruiert, und dieses Ungleichgewicht wirkt sich zugunsten eines entgleisten Liberalismus aus, der aus Europa eine Freihandelszone machen will, statt daß es als regulierender Gegenpol die Kraft der Globalisierung abschwächen kann. Bald wird die europäische Union fast dreißig Staaten umfassen - umso schwerer fällt es, ohne harten Kern eine Rolle als Gegengewicht gegen die USA zu spielen.

Neu ist die immer stärkere Mißbilligung, die sich überall auf der Welt gegen die amerikanische Politik herausbildet. Eine Umfrage, die der Pew Research Center in Washington unter 38.000 Menschen in allen fünf Kontinenten durchführte, legt beredtes Zeugnis davon ab. Seit der letzten solchen Umfrage im Jahr 2000 hat die Popularität der USA in 20 von 27 Staaten deutlich abgenommen.

Eine andere Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstituts Sofres zeigt, daß das Bild der USA sich in diesem Land besonders verschlechtert hat: 63 Prozent der Franzosen glauben derzeit, Washington wolle vor allem "dem Rest der Welt den Willen der USA aufzwingen"(11 Prozent mehr als vor zwei Jahren), 70 Prozent halten den Einfluß amerikanischer Fernsehprogramme für zu groß (25 Prozent mehr als 1988).

Eine CSA-Umfrage bestätigt diese Ergebnisse: Für eine Mehrheit der Franzosen hatte die amerikanische Reaktion auf den 11. September letztlich negative Folgen für Afghanistan (55 Prozent), für die Weltwirtschaft (76 Prozent) und für den israelisch-palästinensischen Konflikt (76 Prozent). Eine überwiegende Mehrheit traut den USA nicht mehr zu, den Weltfrieden herzustellen (65 Prozent), die kulturelle Vielfalt zu respektieren (67 Prozent), wirtschaftliches Gedeihen zu fördern (72 Prozent) oder eine Lösung im Nahost-Konflikt zu finden (76 Prozent).

Eine immer tiefere Kluft tut sich auf zwischen den USA und dem, was die Amerikaner verachtungsvoll ROW, "rest of the world", nennen. Dort werden sie zunehmend als Raubtiere betrachtet, deren Herrschaft alle Legitimität eingebüßt hat. In nicht weniger bezeichnender Weise vertieft sich aber auch die Kluft zwischen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung, zwischen den Bürgern und den ehrerbietigen Journalisten, die allzeit bereit sind, dem Sternenbanner ihre Hochachtung zu erweisen.

"Wir sind alle Amerikaner", erklärte der Chefredakteur von Le Monde am 12. September 2001. Die "Liebe zu den Vereinigten Staaten" sei ein Gefühl, "das wir zu Milliarden empfinden", bestätigte unlängst Guy Sitbon und fügte hinzu, daß "heute jeder Erdbewohner zwei Heimaten hat: seine eigene und Amerika". Gutmenschliche Vordenker der Brüderlichkeit mit den amerikanischen Bombenwerfern schwingen die Keule des "Anti-Amerikanismus", ein neues Werkzeug zur Verunglimpfung des Volksempfindens: so Jean-François Revel, der beteuert, jede Kritik an den USA richte sich gegen die Freiheit und die Demokratie , oder Alain Minc, der ernsthaft behauptet, daß "ein Demokrat niemals Anti-Amerikaner sein kann". (Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß George W. Bush der erste Präsident in der Geschichte der USA ist, der mit 540.000 Stimmen weniger als sein Gegenkandidat ins Amt gewählt wurde.)

Doch das Problem ist nicht der Anti-Amerikanismus der Europäer. "Das wahre Problem", wie Emmanuel Todd sagt, "ist der Anstieg einer regelrechten Europhobie in den USA". Seltsamerweise werden die Amerikaner niemals des "Anti-Europäismus" bezichtigt, wenn sie gegen europäische Interessen Stellung nehmen. Dabei genügt eine regelmäßige Lektüre der amerikanischen Presse, um festzustellen, daß die Europhobie dort grassiert. "Die zunehmende Uneinigkeit zwischen USA und Europa ist inzwischen ein offenes Geheimnis", so Michel Jobert in einer seiner letzten Chroniken. Allen diplomatischen Beschwichtigungen zum Trotz ist die transatlantische Zwietracht seit George W. Bushs Amtsantritt immer deutlicher zutage getreten. Pierre Lellouche spricht gar von einer "transatlantischen Scheidung". Auch dies belegen zahllose Artikel in der amerikanischen Presse.

In einem Text, der großen Widerhall gefunden hat, stellte Robert Kagan schon vor einigen Monaten ein Europa, das in der kantischen Hoffnung auf eine Art "ewigen Frieden" lebe und keinerlei Anstalten mache, jenen Zustand der Schwäche zu verlassen, den es zum Ideal erhoben habe, einem "realistischen" Amerika gegenüber. Letzteres sei sich bewußt, daß nicht Kant, sondern Hobbes unsere heutige Wirklichkeit akkurat beschrieben hat - den Krieg aller gegen alle -und entschlossen, seinen globalen Verpflichtungen mit allen Mitteln nachzukommen.

Wir sind in einen Zustand eingetreten, den Ulrich Beck sehr richtig als "Risikogesellschaft" identifiziert hat. In vieler Hinsicht ist das Risiko das Gegenteil der Gefahr. Die Gefahr läßt sich benennen und verorten, das Risiko ist unbestimmt und allgegenwärtig. Aids, Terrorismus, Genmanipulation, Rinderwahn, nukleare Unfälle, Umweltkatastrophen, Schlampereien in Forschungslaboren - es gibt Gründe genug, die heutige Lebenswirklichkeit als riskant zu empfinden. Die Risikogesellschaft ist eine Gesellschaft, die das Risiko als Abbild ihrer selbst begreift. Sie zu regieren erfordert eine politische Soziologie, die sich die Vorsicht zum Prinzip gemacht hat. Während die industrielle Moderne sich an Vorstellungen von Fortschritt und Rationalität orientierte, an den Werten der Gewißheit also, beruht die postmoderne, postindustrielle Gesellschaft auf der konfusen Einschätzung von Risiken, das heißt auf der Ungewißheit. Zahlreiche Risiken entstehen heute aus dem technischen Fortschritt, und dennoch vertraut man nach wie vor auf die Technik, um sie abzuwenden, so daß das Risiko sich wie in einem Teufelskreis aus sich selber nährt. Mißtrauisch, beunruhigt, von innen zerfressen, von allen Seiten bedroht, zur totalen Überwachung und zum ständigen Ausnahmezustand tendierend: Die heutige Gesellschaft setzt sich selber aufs Spiel.

Die Risikogesellschaft ist ihrem Wesen nach eine Gesellschaft, in der das Vertrauen mehr und mehr schwindet: eine Gesellschaft, die Angst kultiviert. Angst aber erzeugt mehr Angst. Sie bringt Wahnvorstellungen hervor, in denen sich Beklemmungen widerspiegeln. Im Angesicht der globalen Risikolawine, im Angesicht Amerikas, im Angesicht der Globalisierung des Kapitals gilt es vor allem, einen kühlen Kopf zu bewahren: die Überlegung der Hetze, die Analyse der Parole vorzuziehen.

Die Außenpolitik der USA, die sich an der alten Vorstellung von einer "offenbarten Bestimmung" (manifest destiny) ausrichtet, so William Pfaff, "gründete sich stets auf die Überzeugung, daß die Modernisierung, die Verwestlichung und die Amerikanisierung ungetrübte Segnungen sind, unverzichtbar für die Schaffung einer befriedigenden gesellschaftlichen Ordnung [...] Die bloße Tatsache, daß die USA heute die einzige verbleibende Supermacht und die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt sind, unterhöhlt die bestehende Ordnung, die eben kein einheitliches System ist und die sich einer Hegemonialmacht nur widersetzen kann, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat.

Und trotzdem beruhen diese gewaltsamen amerikanischen Interventionen stets auf der Überzeugung, daß die USA Stabilität, Fortschritt, Demokratie, Wachstum, Entwicklung und menschlichere soziale Normen in die ganze Welt bringen. Und wenn sich die Folgen als negativ erweisen, muß man die Anstrengung halt verdoppeln. Am Ende muß das Schicksal aller anderen Nationen mit dem Amerikas zusammenlaufen."

Dieser Gedanke, daß die Bestimmung der USA darin liegt, der Menschheit den Weg freizuräumen, daß die Welt sich am Ende dem amerikanischen Muster anpassen wird, dessen Überlegenheit niemand bestreiten kann, daß die politischen Werte und moralischen Normen der USA überall gelten müssen, während Widerspenstige einer "Achse des Bösen" zugerechnet werden, die es mit allen Mitteln auszumerzen gilt - genau dies ist es, was wir nicht dulden können.

Die Sowjetunion hatte "Satelliten", Amerika hat Vasallen. Die USA glauben, andere Staaten zugleich beherrschen und sich mit ihnen verbünden zu können. Ihre Vorstellung von Bündnispartnerschaft ist eine Partnerschaft, in der die USA das Essen kochen und die Europäer den Abwasch machen. Aber die Vereinigten Staaten sind genausowenig wie die Türkei eine europäische Macht. Ihre Interessen sind andere - und ihre Art und Weise, diese Interessen zu wahren, unterscheidet sich von unserer.

In einer inzwischen berühmten Rede fragte sich George W. Bush, wie man Amerika nicht lieben könne ("Wir wissen, wie gut wir sind!"). Die Antwort, die er sich selber gab, war, daß den USA nicht etwa ihre Fehler vorgeworfen werden, denn sie haben keine Fehler, sondern ihre Vorzüge - was darauf hinausläuft, alle Kritiker als geistesgestört, kriminell oder pervers zu betrachten. Hier zeigt sich, wie sehr sich die Weltbilder von George W. Bush und Osama bin Laden gleichen.

Bush und Bin Laden leben in derselben schwarz-weißen Welt des absoluten Guten und Bösen, der Todfeindschaft, der totalen Mobilmachung im Namen eines alleinigen Gottes, im Namen der Ideologie desselben, des Unilateralen und Eindimensionalen. Bush redet von Kreuzzug, wie Bin Laden von Dschihad redet: Beide wollen einen "heiligen Krieg" gegen die "Ungläubigen" führen, die ihre Sichtweise nicht teilen. Skeptiker müssen bekehrt oder aber zerstört werden. Bushs "Achse de Bösen" umfaßt alle Staaten, die sich der "Demokratie des Marktes" widersetzen. Seine Weltsicht läßt keine dritte Position zu: "Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns."

Wir dürfen diese Sichtweise nicht akzeptieren. Wir dürfen nicht in absoluten Begriffen von Gut und Böse denken. Aber wir dürfen und müssen erkennen, daß Amerika derzeit der übelste "Schurkenstaat" der Welt und damit unser Hauptfeind ist.

Der Hauptfeind ist nicht unbedingt derjenige, den man am meisten haßt oder mit dem man am wenigsten gemeinsam hat. Der Hauptfeind ist lediglich der mächtigste Feind, dessen Machenschaften die schlimmsten Folgen haben, dessen Einfluß am stärksten und am dauerhaftesten ist, dessen Produkte die Medien am meisten durchdringen, der über die meisten Überwachungsgeräte verfügt, der am ehesten Druck auf die Finanzmärkte ausübt, dessen militärische Präsenz die Welt am stärksten zu spüren bekommt, von dem die meisten multinationalen Konzerne abhängig sind.

Der mächtigste Feind ist jener, der die Grenzen unserer Vorstellungswelt bestimmt. Wir aber bewegen uns - körperlich und gedanklich - innerhalb des marktwirtschaftlichen Imaginären. In mancher Hinsicht ist selbst die amerikanische Hypermacht nichts als ein Werkzeug des Kapitals. Es ist nicht der Globalkapitalismus, der den USA dient, sondern die USA, die dem Globalkapitalismus zu Diensten sind - selbst wenn sie selber am meisten von ihm profitieren. Nichts bedroht die Identität der Völker so sehr wie jene kapitalistische Denkweise, für die jede kulturelle oder menschliche Besonderheit ein Hindernis darstellt, das es plattzuwalzen gilt. Nichts bedroht das menschliche Dasein so sehr wie die Werte des Geschäfts, die Kultur des Profits und die Diktatur des Marktes. Nichts bedroht die Vielfalt so sehr wie die unilaterale Durchsetzung der Logik des Kapitals. Wir wissen jedoch, daß Pierre Hassner langfristig recht behalten wird: "Die Komplexität der Welt wird sich rächen". An dieser Rache teilzuhaben, soll uns zur Ehre gereichen.

Zum Abschluß hören wir den Philosophen Alain Badiou: "Wenn eine große Imperialmacht existiert, die in sich geeint und stets davon überzeugt ist, daß noch ihre brutalsten Interessen sich mit denen des Guten decken (...); wenn dieser Staat, der zur militärischen Maßlosigkeit neigt, außer dem Wohlstand kein öffentliches Idol, außer Sklaven keine Verbündeten, außer einer gleichgültigen, zynischen Krämersicht keine Vorstellung von anderen Völkern hat; nun, dann besteht die elementare Freiheit der Staaten, der Völker, der Individuen darin, alles zu tun, alles zu denken, um sich soweit irgend möglich den Befehlen, Interventionen und Einmischungen dieser Imperialmacht zu entziehen (...) Heute gibt es nicht die geringste politische Freiheit, die geringste geistige Unabhängigkeit ohne einen ständigen und verbissenen Kampf gegen das Imperium der USA."

 

Alain de Benoist, ist der führende Theoretiker der französischen Neuen Rechten ("Nouvelle Droite") und Herausgeber der in Paris erscheinenden Kulturzeitschrift "Nouvelle Ecole".


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