© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/03 21. Februar 2003


Kein Paradies auf Erden

von Siegmar Faust

Mensch und Sünde - diese bei den Begriffe haben eine fundamentale Bedeutung sowohl für die Theologie als auch die Philosophie. In Immanuel Kants nachgelassenem Handbuch der Logik wird die Frage "Was ist der Mensch?" als die Grundfrage der Philosophie bezeichnet. Aus diesem Blickwinkel dürfte jede Aussage dazu eine Aussage des Menschen über sich selber sein. Jede Philosophie ließe sich nach der Meinung des Philosophen Wilhelm Dilthey "in eine Anthropologie umschreiben". Aus theologischer Sicht kann auf keinen Fall der Mensch als "das Maß aller Dinge" gelten; er sollte stets in seiner Bezogenheit auf Gott betrachtet werden.

Adam ist der ursprüngliche Gattungsname für Mensch oder Menschheit. "Adamah" heißt auf hebräisch: Erde, Ackerboden. In der biblischen Schöpfungsgeschichte heißt es, daß Adam, der erste Mensch, als Ebenbild Gottes geschaffen wurde, und zwar am sechsten Tag mit allen die Erde bevölkernden Tieren. Über sie, aber auch über die "Fische des Meeres" und "Vögel des Himmels", dürfe er nicht nur herrschen, sondern sie sogar seinen Bedürfnissen unterwerfen. Diese Zentralstellung des Menschen soll nach Meinung von Kritikern der jüdisch-christlichen Tradition an der ökologischen Krise, in der wir uns heute befänden, schuld sein.

Obwohl in den Berichten der Genesis keine rein geistigen Wesen, sogenannte Engel, ausdrücklich genannt werden, tauchen sie aber an vielen Stellen des Alten wie des Neuen Testamentes auf. Sie sollen und wollen als "Vermittler" zwischen Himmel und Erde oder gar zwischen Himmel und Hölle wirken, jedoch nicht nur im Auftrag Gottes, sondern manche auch als "gefallene Engel" im Auftrage des Teufels, der auffällig viele Namen besitzt, zum Beispiel Beelzebub, Beliar, Dämonenfürst, Mephisto, Sammacl, Satan oder Urian. Diese himmlische Heerschar beschäftigt nicht nur die Theologen, sondern inspirierte besonders Künstler und Literaten.

Rochus Leonhardt unterschied in seinem Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Dogmatik die "unsichtbare Schöpfung", also die Engel, von der "sichtbaren Schöpfung" nach der in der Bibel festgelegten Hierarchie mit ihrer dienenden Funktion gegenüber dem jeweils Höherentwickelten, angefangen beim Anorganischen über die Pflanzenwelt, die Tiere bis hin zum allen Kreaturen vorgeordneten Menschen. Was jedoch Artgenossen dieser höchsten Gattung nicht daran hinderte, in verzweifelter Situation mit Gottfried Benn sarkastisch auszurufen: "Der Mensch, das Schwein, die Krone der Schöpfung!"

Aurelius Augustinus, einer der wirkungsmächtigsten Theologen-Philosophen, interpretierte die Schöpfungsgeschichte auf folgende Weise: Wo es heißt: "Da trennte Gott das Licht von der Finsternis", (sehen) wir diese beiden Engelscharen, die eine Gott genießend, die andere vor Arroganz strotzend.

"Der Mensch", so Leonhardt, "wird damit zum Schlachtfeld im Kampf zwischen Gott und seinen Getreuen einerseits und den von Satan angeführten bösen Engeln andererseits um die Herrschaft der Welt, ein Kampf der erst am jüngsten Tag endgültig entschieden wird."

Obwohl also schon vor Adam ein unsichtbares Wesen Gott untreu wurde, ist jedoch nicht bekannt, ob es deshalb unter der himmlischen Heerschar zur Sippenhaft in Form der Erbsünde gekommen ist.

Die Einteilung der göttlichen Schöpfung in eine rein geistige und rein körperliche läßt den Menschen eine Stellung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Schöpfung zukommen. Philosophisch entspricht das der "animal rationale", also einem aus Leib und Seele zusammengesetzten Wesen, was bei Platon dazu führte, den Körper als Gefängnis der Seele aufzufassen, die sich erst nach dem leiblichen Tod befreien könne. Im Neuen Testment hingegen wird der menschliche Leib mitunter als "Tempel des heiligen Geistes" verehrt.

Der Philosoph Blaise Pascal, "eine Portalfigur am Eingang zur modernen Welt", unterschied drei Zustände des Menschen, die durchaus der christlichen Lehre entsprechen: erstens den christlichen Schöpfungszustand, zweitens den zwiespältigen gegenwärtigen Zustand des Abfalls vor Gott, und dritens den Erlösungszustand durch Jesus Christus. Da die meisten Menschen die Religion nicht nur geringschätzen, sondern sie gar hassen würden, weil sie "fürchten, daß sie wahr sei", wollte Pascal Abhilfe schaffen und "zeigen, daß die Religion keineswegs der Vernunft widerspricht".

Interessant ist noch, daß der im christlichen Abendland so selbstverständliche Begriff des Menschen in einer Hochkultur wie der indischen, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht sonderlich von den übrigen Geschöpfen abgehoben wird, was natürlich Auswirkungen bis auf die vor allem von uns beanspruchte Universalität der Menschenrechte hat.

Von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ließe sich immerhin noch guten Gewissens sagen, daß der Mensch trotz seines Ungehorsams im Paradies, aus dem er vertrieben und zur Sterblichkeit verurteilt wurde, auf eine Gemeinschaft mit Gott angewiesen ist, die sein Leben auf Erden bestimmt, die sich aber auch über den Tod hinaus fortsetzen soll.

Das Menschenbild in den biblischen Büchern des Alten Testaments kommt in verschiedenen Aspekten zum Ausdruck, die durchaus den ganzen Menschen meinen, obwohl sie oft auswechselbar sind. Wenn zum Beispiel vom "Fleisch" die Rede ist, wird der Gesichtspunkt der Schwäche, Vergänglichkeit und Sünde betont. In anderen hebräischen Wortbedeutungen werden die Weisheit und Lebenskraft hervorgehoben oder das Leben schlechthin, das sich in des lebendigen Menschen Begehren und Verlangen darlegt. Der häufigste Begriff zur Bezeichnung des Menschen ist jedoch das Herz, das als Sitz der Gefühle und Leidenschaften einerseits, andererseits auch als Mittelpunkt seines Denkens, Erkennens und Wollens verstanden wurde. Hier soll die Aufsässigkeit gegen Gott, also die Sünde ihren Ort und Hort haben, auch die Freude.

Im Neuen Testament erhält das Menschenbild seine spezifische Ausgestaltung vor allem durch Paulus. Jesus Christus wird zum Vorbild des Menschen. Der Mensch hat die Wahl, ob er "aus Gott" oder "nicht aus Gott" sein will, ob er sich zum "Geist" bekennt oder sich wie "Fleisch" verhält, wobei das "Trachten des Fleisches" als "Feindschaft gegen Gott" verstanden wird, was in der Konsequenz gegen den Menschen selber gerichtet sein muß, da er gegen Gott nur verlieren kann.

Nikolaus von Kues erhebt den Menschen als schöpferischen Geist sogar zum "Gott, wenn auch nicht absolut". Es gibt bis zur Gegenwart viele verschlungene Wege bis hin zu dem marxistischen Ausspruch, daß der "Mensch das höchste Wesen für den Menschen" sei. Oder weniger pathetisch und trotzdem atheistisch durch Sartre ausgesprochen: "Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht."

Und zwischen dem Wirken von Jesus Christus auf Erden und der mittelalterlichen Theologie wurden mittels gewisser Spitzfindigkeiten Elemente des Christentums mit der antiken Philosophie verwoben, wodurch sich Martin Luther zur Kritik veranlaßt sah. Ihm stellte sich das Menschenbild der Philosophie, die sich als menschliche Weisheit abgrenzt, als eine Vernunftlehre dar, die sich nur auf den sterblichen, also irdischen Menschen beziehen kann, während sich die Theologie, wie er in seinen 40 Thesen 1536 niedergeschrieben hat, "aus der Fülle ihrer Weisheit" eines "ganzen und vollkommenen Menschen" erklärt. Der Mensch als Geschöpf Gottes, "bestehend aus Fleisch und eingehauchter Seele", wurde als sündloses Ebenbild Gottes geschaffen, das sich zwar vermehren, aber niemals sterben sollte. Durch die listige Schlange, dann durch seine Frau verführt, kam Adam zwar zu gewissen Erkenntnissen und damit unter die Macht des Teufels; er fiel also durch schuldhaftes Verhalten der Sünde und dem Tod zum Opfer, damit "beiden mit eigenen Kräften unüberwindbaren Übeln auf ewig ausgeliefert". Aus diesem Teufelskreis ist der Mensch nach Luthers Überzeugung "nicht zu befreien und mit ewigen Leben zu beschenken außer durch Jesus Christus, den Sohn Gottes, wenn er an ihn glaubt".

Selbst die Taufe macht, wie er in seinem Aufruf "Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern" 1525 schrieb, "nicht Leib und Gut frei, sondern die Seelen". Der Mensch ist faktisch, wie es auch im Römerbrief 3 heißt, durch seinen Glauben und nicht durch seine guten Taten oder seine philosophische Weisheit gerechtfertigt.

In den Paulinischen Briefen, hier besonders Römer 3, heißt es unterschiedslos, gleich ob man Jude ist oder Heide: "Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Jesus Christus."

Luther beruft sich auf diese Epistel und meint, Paulus stelle "eine kurze Definition des Menschen vor, wenn er sagt, daß der Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird".

Der Mensch wird in dieser schon von Augustinus stammenden Theologie stets als Sünder gesehen, der einerseits in einer zwanghaften, genetisch bedingten Opposition zu Gott steht, andererseits jedoch auch durch individuelle Schuld. Er kann die Erbschuld nicht aus eigener Kraft ändern und ist deshalb auf Gnade angewiesen, die Gott den sündigen Menschen erweist, indem er seinen Sohn Jesus Christus unter die Menschen sandte. Im Römerbrief 5, 19 heißt es: "Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen Sünder wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden."

Die Schlußfolgerung dieses kleinen Exkurses durch das Thema "Mensch und Sünde" ist so einfach wie nur möglich. Trotz aller Versuche, durch "Zucht", wie Gehlen es nennt, das eigene Phlegma zu bekämpfen und sich dem Bildungsprozeß, besonders aber den Gleichnissen des Neuen Testamentes auszusetzen, muß trotzdem jedermann wissen, daß er ein sündiger, unvollkommener Mensch bleibt, bei großem Glück vielleicht um ein Jota mehr gottgefälliger Mensch als Sünder. Die Sünde könnte, wie der Tod, ein Stachel sein, der uns das Leben erst würdigen läßt. Nur zwischen Polaritäten und Widersprüchen, die auch in der Bibel zu finden sind, entstehen Spannungen, die zur Bewegung treiben oder verführen; und Bewegung ist zwar nicht gleich Leben, aber Leben ohne Bewegung ist keines. Da das Leben immer moralisch ambivalent bleibt, könnte man sich einreden, daß alles, was ist, und wie es ist, gut sein müsse. Dann gäbe es wohl eine Theodizee ohne den Begriff des Bösen.

Besonders der Mensch, der sich wie Luther zu Christus bekennt, erlebt diesen irdischen Gegensatz bewußt bis zur Schmerzgrenze: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan; ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."

Nicht wenige Intellektuelle des 20. Jahrhunderts versuchten dieser Polarität und den vielen Ambivalenzen, die einen ständig um das innere Gleichgewicht ringen lassen, zu entkommen. Wahrscheinlich aus Schwäche oder im Überdruß gegen den ständigen Kampf um Aufrichtigkeit, konnten sie den Pluralismus, den Streit um Erkenntnisse, Methoden und Wahrheiten, sowie die mit der Individualisierung und Vermassung in den Industriestaaten eingehende Gefühlskälte nicht mehr ertragen. Lieber ließen sie sich von Utopien und falschen Propheten faszinieren und gefangen nehmen, die das Paradies auf Erden versprachen. Allein schon an ihre "großen Gesängen", die sie oft mit pathetischer, ersatzreligiöser Inbrunst politischen Massenmördern widmen, läßt sich der große Verrat an Geist, Charakter und Tradition, also die eigentliche Sünde des selbstzufriedenen "Gutmenschen" belegen.

Unser Kreuz ist es wohl, daß wir nicht in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen, da der Satan schlau genug ist, uns immer wieder neue Totallösungen unserer Heilserwartungen unter dem Anspruch der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und unter Ausnutzung des jeweils modernen Zeitgeistes anzubieten. Und sollten dennoch Zweifel aufkommen, weil wir die biblische Gebrauchsanweisung des Lebens nicht richtig verstehen und wir uns vertrauensvoll an die Seelsorger wenden, werden wir zumeist enttäuscht. Entweder versuchen sie, uns ihre Überzeugungen überzustülpen, was einer Vergewaltigung nahe kommt, oder sie verwirren uns mit simpler Frömmigkeit, die sie unter verschiedenen Masken zumeist nur vorspielen. Wer uns zu überzeugen sucht, dem sollte man mit Heidegger antworten: "jede Philosophie, als Sache des Menschen, mißlingt", denn "Gott braucht keine Philosophie".

Das klingt großartig, beeinhaltet aber die ganze Misere unserer kirchlichen Organisationen. Gott braucht nicht mehr die scholastische Lehre mit ihren streng logischen Gottesbeweisen. Denn diesem Denken ist der moderne Mensch ohnehin nicht mehr bereit zu folgen. Gott müßte also heute anders bewiesen werden. Aus der menschlichen Existenz und ihren organisch-materiellen Abgründen, aus Alter, Schmerz, Krankheit und Tod müßte dem verzweifelten Menschen ein Licht aufgehen, dem er unbeirrt folgt, weil es das einzige ist.

 

Siegmar Faust, geboren 1944 in Dohna (Sachsen), Schriftsteller, in der DDR wegen "staatsfeindlicher Hetze" zweimal zu Gefängnisstrafen verurteilt, Herausgeber einer Häftlingszeitung, dafür 400 Tage Kellereinzelhaft. 1976 von der Bundesrepublik freigekauft. Publikationen: "Ich will hier raus" (1983), "Der Freischwimmer" (1987), "Der Provokateur" (1999).


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