© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/03 28. Februar 2003


Die Freiheit einer Stromleitung
von Hrvoje Lorkovi'c

Wovon hängt es ab, was ich tun werde? Von meinem Willen oder von den Naturgesetzen, denen alles unterworfen ist? Schon vor Zehntausenden von Jahren glaubte der Mensch an höhere Mächte, welche bestimmen, was in der Zukunft sein wird. Darin ist auch die Idee der Determinierung enthalten, wenn auch nicht einer materiellen. Der Eindruck, hinter der Bestimmung verstecke sich ein menschenähnliches Wesen, ist bis heute spürbar erhalten geblieben, Die Verbindung von Freiheit und persönlichem Prestige ist dagegen ein jüngeres Phänomen, das die Determination als ein beschämendes Diktat obskurer Kräfte erscheinen läßt. Das Determiniertsein verbindet sich hier mit der Vorstellung von "Zombies", imaginä-rer Wesen, denen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, über sich selbst zu bestimmen. Determiniert zu sein, wird jetzt als Defekt empfunden.

Wie steht es mit der Freiheit? Gehört sie zu einer anderen Welt? Man darf daran zweifeln. Wer Freiheit ernst nehmen will, muß sich von jedem seiner Bedürfnisse bedroht fühlen. Man möchte vom Hunger frei sein, aber auch vom aggressiven Bedürfnis nach Essen. Von Gefahren, aber auch vom ewigen Aufpassen. Von der Einsamkeit, aber auch von der Verpflichtung, für andere zu sorgen. Alles Fachmännische weist man ab, weil es nach mühevoller Arbeit riecht. Freie Wahl? Kann sie nicht zur sprichwörtlichen Qual ausarten? Man sieht es gleich: einen großen Unterschied zwischen einem konsequenten Freiheitsfreak und einen Zombie gibt es gar nicht.

"Welche Seele würde es nicht wünschen, die ganze Welt zu zerstören, um für eine Weile allein mit sich zu sein?", fragte schon Paul Valéry. Metaphysische Hybris der Zerstörung von allem, selbst von Naturgesetzen, mag wünschenswert scheinen, die Seele ahnt aber nicht, daß sie daran selbst untergehen müßte. Ein gesundes Auge kann ja, wenn der Blick nur für eine Minute auf einem festen Punkt haften bleibt, nichts mehr sehen. Eine Seele ohne Welt wäre wie ein blindes geistiges Auge.

Für freie Seelen ist es klar: "Alles ist relativ." Für jene, die die Welt noch nicht zerstört haben, gibt es keine Determinierung, "weil Quantensprünge unvorhersehbar sind".

Die Idee der freien Atome ist nicht neu. Schon Epikur (341 bis 270) hielt es bekanntlich für möglich, daß die Atome an ihre vorgeschriebenen Bahnen nicht absolut gebunden sind. Wären wir aber zu einer zombieartigen Existenz verurteilt, wenn es eine solche Freiheit nicht gäbe? Sind es denn nicht gerade die Deterministen, deren Phantasie so lebhaft ist, daß sie sich Ketten von Ursachen eines Ereignisses vorstellen können, wo andere nicht einmal die erste sehen?

Wie kann es aber ohne Freiheit noch Verantwortung geben? Wenn es aber keine Verantwortung gibt, mit welchem Recht können Strafen für Verbrechen verhängt werden?

Menschliche Freiheit ist Gegenstand der Psychologie. Da wird nach den Quellen der Motivierung, nach Gründen und Einschätzungen der eigenen Taten gefragt.

Da die Verbindung zwischen dem Nervensystem und der Psyche mit der Zeit immer deutlicher zutage tritt, werden die Antworten im Bereich der Neurophysiologie erwartet. Franz Mechsner vom Max Planck-Institut für Psychologische Forschung in München hat neulich in der Zeitschrift Geo eine genüßlich lesbare Übersicht neuer, zum Teil verblüffender Ergebnisse dargeboten. Diese werden mit frischen philosophischen Überlegungen in Zusammenhang gebracht. Aus dieser Sicht ist ein Buch des Berliner Philosophen Peter Bieri von von besonderem Interesse, das vor einem Jahr unter dem Titel "Das Handwerk der Freiheit" erschienen ist. Nach eingehenden Überlegungen kommt Bieri zu dem Schluß, daß die alte Ansicht, Freiheit müsse absolut sein, sinnlos ist. Eine solche unbedingte Freiheit würde keineswegs zu rationalem und zweckmäßigem Handeln führen, sondern dieses unmöglich machen, weil sie zufällig, unbegründbar und unkontrollierbar wäre. Auch würde sie von der handelnden Person nicht als die eigene empfunden. Der letzte Punkt wird auch von anderen Philosophen betont: Es sei eine wesentliche Bedingung der freien Handlung, daß die ausführende Person sich als ihr "Urheber" fühle, eine weitere, daß sie auch anders hätte wählen können. Wenn solche Bedingungen im buchstäblichen Sinne genommen werden - das heißt so, daß der Wille die Nervenprozesse lenken kann -, so spricht wenig dafür, daß der Wille wirklich frei ist. Wenn dagegen die "schwache" Interpretation angenommen wird, das heißt, man schreibt eine Handlung sich selbst bloß zu, dann ist der freie Wille selbstverständlich gegeben. Eine Ansicht, die paradox klingt, aber viel für sich hat.

Es ist schon seit Jahren bekannt, daß der Ausführung einer gewollten Bewegung ein elektroenzephalographisch registrierbares Signal vorangeht. Der Amerikaner Libet hat festgestellt, daß solche "Bereitschaftspotentiale" dem bewußten Entschluß, die Bewegung auszuführen, um mehr als eine Sekunde vorangehen können. Gerhardt Roth von der Universität Bremen hat ähnliche Versuche an Patienten durchgeführt, bei denen aus klinischen Gründen ein Teil der Schädelkappe entfernt wurde, so daß eine direkte elektrische Reizung der Hirnoberfläche möglich war. Die Patienten konnten weder den (äußerst kurzen) Reiz spüren noch den Zeitpunkt seiner Verabreichung wissen. Die Frage nach dem Grund der ausgelösten Handbewegung wurde von den Patienten dennoch klar beantwortet: sie sei gewollt gewesen. Durch Reizen von tieferliegenden Hirnteilen konnten auch Bewegungen ausgelöst werden, die Patienten beschrieben sie jedoch als ungewollt.

Das (subjektive) Urheber-Erlebnis (UE) wurde beim Rothschen Versuch auch dann empfunden, wenn die Versuchsperson nicht wußte, wann und ob ein Reiz verabreicht wurde. Das bedeutet, daß das sogenannte Urhebererlebnis mit der ersten Ursache einer willentlichen Bewegung nicht identisch ist.

Es spricht somit alles dafür, daß das UE eine vom Gehirn konstruierte Begleiterscheinung ist, mit anderen Worten, eine Illusion. Die Überzeugung, der eigene Wille sei der Urheber einer Aktion, wäre damit als Selbsttäuschung enttarnt. Dabei tauchte jedoch die erhellende Frage auf: Wenn alles auch ohne den bewußten Willen läuft, wozu gibt es überhaupt das Urhebererlebnis? Warum stehen unsere Empfindungen nicht in Einklang mit der objektiven Wahrheit?

Mechsners Text ist zu entnehmen, daß verschiedene Denker sich trotz neuer Erkenntnisse für eine der bereits bekannten Deutungsalternativen entscheiden. Demnach kann niemand für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden, weil sie von Ereignissen abhängen, die weder voraussehbar noch beeinflußbar sind. Es wird deshalb erwartet, daß sich die gerichtliche Praxis früher oder später dieser Einsicht fügen wird. Der anderen Möglichkeit nach bleibt das subjektive Freiheitsgefühl nach wie vor eine Grundlage für die Behauptung, jeder sei für sein Handeln verantwortlich.

Mit welchem Recht kann jedoch das, was mit gutem Grund neuerdings für eine Illusion zu gehalten wird, als Grundstein der Freiheit angenommen werden? Formulierungen, wie sie zum Beispiel bei dem Mannheimer Juristen Wolfgang Burkhardt anzutreffen sind, können uns nach den neuen Forschungsergebnissen als willkürlich, sogar gewalttätig erscheinen. Es gibt jedoch die Möglichkeit zu argumentieren, daß das Urhebererlebnis Entscheidungen beeinflußt, obwohl es anderen, meßbaren, aber unbewußten Nervenprozessen folgt. Wir konzentrieren uns hier zunächst auf die Frage der Verantwortung. Denn die ist es ja, die für die rechtliche Beurteilung einer Tat ausschlaggebend ist.

Verantwortlich zu handeln bedeutet, zu einem Tun verpflichtet zu sein, das andere von uns verlangen, seien es Menschen oder Götter. Verantwortung zu übernehmen bedeutet, auf nachträgliche Befreiung von ihr zu verzichten. Das Freiheitsgefühl kann deshalb im Moment einer Entscheidung nur dann bestehen, wenn wir uns keines Verpflichtungszwanges bewußt sind.

Das illusorische Urhebererlebnis könnte somit auf einer Hemmung des Bewußtseins der Freiheitsbegrenzung beruhen. Trotzdem brauchte die Illusion nicht ohne Einfluß auf unser Verhalten sein. Das Urhebererlebnis würde vielleicht nicht die laufende Handlung beeinflussen, könnte aber in eine Reihe von Prozessen verwickelt sein, wodurch eine künftige Handlung konditioniert wird. Die Urheber-Illusion könnte so die Überzeugung vermitteln, es gäbe keinen Zwang zu einem Entschluß oder zu einer Tat. So könnte sie uns davor bewahren, von der Last der Verpflichtung erdrückt zu werden, den Lebenswillen aufgeben zu müssen, uns letztendlich in Zombies zu verwandeln. Die Stärkung des Selbstvertrauens wäre um so erfolgreicher, je niedriger die Wahrscheinlichkeit ist, daß wir den Zweck der Illusion erkennen.

Eine Bedingung für das Funktionieren eines solchen Systems ist, daß die Taten im Interesse der Person liegen, und zwar auch dann, wenn dies rational zunächst nicht zu erweisen ist. Was bedeutet hier "rational"? Daß das Ergebnis unserer Überlegungen in Einklang mit den Schemen der Spieltheorie sein muß? Nach einigen davon ist zum Beispiel das altruistische Verhalten immer irrational, weil es dem Altruisten schaden muß. Analysen, die jedoch auf Schemen der "iterativen Dilemmata" gründen, ergeben ein anderes Bild: Bei wiederholten Begegnungen machen die Partner die Erfahrung, daß sich die durch Kooperation errungene gute Reputation häufig zu ihren Gunsten auswirkt. Die Kooperationsstrategie ist rational, auch wenn der Gang der Dinge nicht völlig durchschaubar ist.

Ähnlich könnte es mit dem Urhebererlebnis sein. Das belohnende Gefühl, das Richtige aus eigenem Willen getan zu haben, könnte durch Wiederholung die Entscheidungsfähigkeit fördern. Studien über die Entwicklung des Urhebererlebnisses in den frühen Phasen der psychischen Enfaltung könnten darüber weitere Auskunft geben. Es könnte aber auch behauptet werden, wie Peter Bieri in seinem Buch "Das Handwerk der Freiheit" es tut, daß freie Entscheidungen nur nach ausreichender Überlegung zu fassen sind, wobei es erforderlich sei, die eigene Lage aus einem Abstand zu sich zu beurteilen. Die erwähnten Experimente würden in solch einem Fall gar nicht als Modell des Entscheidungsprozesses brauchbar sein.

Bedingungen für eine optimale Einstellung des psychischen Apparates sind nicht immer und überall gegeben. Francis Fukuyama ist in seinem Buch "Der Große Zusammenbruch", in dem es um den Zerfall der moralischen Werte beim Aufmarsch der Informationsgesellschaft geht, der Frage nachgegangen, unter welchen Bedingungen der Zerfall der Familie und des Vertrauens (des "gesellschaftlichen Kapitals", wie er es nennt) zustande kommt. Er fand heraus, daß eine Erosion der Werte einsetzt, wenn die Gelegenheit zu wiederholten Kontakten zwischen Personen fehlt, sei es zum Beispiel durch unkontrollierte Wanderbewegungen, ungeeigneten Wohnbau, oder Rollenverteilung der Geschlechter. Günstig für die Stärkung des Verantwortungsbewußtseins sei die Bildung kleinerer Gemeinschaften, in denen die Mitglieder einander kennen und einander "beschnuppern" können. Dadurch wird auch die Möglichkeit der Ausbildung eines organisierten moralischen Druckes auf die Haltlosen möglich. Ein bedeutender Teil des Buches ist den biologischen (besonders den neurophysiologischen) Grundlagen des Verhaltens gewidmet.

Ein unmittelbarer Einfluß der Ergebnisse biologischer Forschung auf die Gesellschaft ist trotzdem nicht zu erwarten. Wäre es so, würden die Psychiater die ersten Opfer: Anstatt sich von ihnen behandeln zu lassen, könnten willensschwache Neurotiker kostengünstiger "Scientific American" oder "Bild der Wissenschaft" abonnieren. Moralisten, die ein Mitmischen der Biologen in Fragen der Verantwortung verabscheuen, werden jedoch nicht verhindern können, daß naturwissenschaftlich beschlagene Autoren wie Fukuyama das Interesse des moralisch engagierten Publikums für neue Einsichten auch weiterhin erwecken werden.

Es ist dagegen nicht zu erwarten, daß die Theorien des "atomaren Ursprungs" der Freiheit in der Zukunft einen größeren Einfluß haben werden. Diese Theorien sind gewissermaßen ein Spiegelbild religiöser Vorstellungen. So wie Religionen die Quelle der Autorität in die übermenschliche Sphäre versetzen (wobei Gott erschafft, urteilt und entscheidet, aber keine Verantwortung trägt), so wird bei den Atomtheorien die Freiheit der Entscheidung ins Untermenschliche versetzt. Sogar die menschliche Kreativität soll nach der Meinung einiger Philosophen auf der Freiheit der Atome beruhen.

In der Idee der freien Atome spiegelt sich das Bedürfnis, von einem determinierenden "Big Brother" frei zu werden. Ein Big Brother muß ein Individuum sein, anders geht es nicht. Das bedeutet aber, daß er nicht viel mehr vermag als ein Mensch. Man kann dann annehmen, alles sei determiniert, trotzdem muß man zugeben, daß es für ein Individuum unmöglich ist, alle Atome der Welt individuell und zu jeder Zeit an der Leine zu führen.

Schon durch die Feststellung, daß Willensakte im Gehirn stattfinden, und daß das Gehirn eine Ansammlung von Nervenzellen ist, ist die menschliche Freiheit stark bedroht. Nervenzellen können nur Reize weiterleiten, das gilt auch für das Zentralnervensystem. Man muß sich dort einen Riesensalat von Kabeln vorstellen, durch die Informationen ihren sicheren Weg finden. Die Information besteht allerdings nur in der Angabe Impuls oder kein Impuls. Das Gehirn arbeitet also genau wie ein Elektronenhirn nach digitaler Methode. Seine Leistungsfähigkeit beruht nicht in komplexen Vorgängen, sondern in der Schnelligkeit.

32 Millionen Zellsignale pro Sekunde zeichnet ein Computerchip auf, den Peter Fromherz vom Max-Planck-Institut für Biochemie in München zusammen mit dem Elektronikkonzern Infineon entwickelt hat. Hier wird eine Nervenzelle direkt mit dem Silizium verbunden, wodurch sich die Gehirnaktivität unter großer Verstärkung direkt auf einem Bildschirm ablesen läßt.

Mit unserem bisherigen Weltbild ist die neue Allianz von Mensch und Maschine schwer zu vereinbaren. Denn sie findet über den Kopf des Bewußtseins hinweg statt. Doch eine günstige Folge hat diese Forschung auf jeden Fall: sie führt die verschiedenen Wissenschaften wieder näher zusammen. Eine "Einheit des Wissens", wie sie der Soziobiologe Edward Wilson fordert, gibt es zwar noch nicht, doch Biologen sind gezwungen, sich mit Informatik zu beschäftigen und umgekehrt, Psychologie-Studenten werden heute zunächst einmal in die Hirnforschung eingeführt, und die Philosophen stoßen auf medizinische Bereiche, in denen ihr Urteil wieder gefragt ist.

Foto: In der Universitätsklinik Jena wird ein Elektroenzephalogramm (EEG) aufgezeichnet: Die Kommunikation zwischen Gehirn und technischem Gerät läuft ohne Einschaltung des Bewusstseins

 

Hrvoje Lorkovíc, Jahrgang 1930, promoviert 1961 in Zagreb im Fach Biologie, seit 1978 an der Universität Ulm, 1988 dort Professor. 1995 erhielt er den Merckle Forschungspreis.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen