© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/03 28. März 2003

 
Aus Ruinen erblüht neues Leben
Geopolitik: Nach dem Irak-Krieg muß sich die Achse Paris-Berlin-Moskau als Vorbild und Schrittmacher einer Neuordnung Europas beweisen
Günter Zehm

Hoffnungen leben am längsten, auch wenn sie pure Illusionen sind. Das Gros der Leitartikler gab nach Ausbruch des Irak-Krieges "der Hoffnung Ausdruck", daß nach Kriegsende recht schnell alles wieder so werden möge, wie es vorher gewesen sei. Aber solche Hoffnung ist nichts als Illusion; je schneller man davon Abschied nimmt, um so besser für alle Beteiligten. Denn nichts wird wieder so werden wie früher. Die Strecke der bereits jetzt angerichteten Kollateralschäden gleicht einer veritablen Trümmerwüste. Doch gilt auch: Neues Leben blüht aus den Ruinen. Neue Lagen schaffen neue politische Möglichkeiten.

Kaum mehr zu reanimieren sind Nato und Europäische Union. Die Nato hat schon vor längerem ihren Geist aufgegeben; sie spukt nur noch als Schloßgespenst. Der EU sind durch den Brief der acht europäischen Regierungschefs und durch den erbitterten Streit zwischen England und Frankreich unmittelbar vor Kriegbeginn schwerste Schläge versetzt worden, von denen sie sich schwerlich erholen dürfte. England ist wohl auf Dauer zum Fremdkörper in Europa geworden.

Im Gegensatz dazu hat die bisher zwar manchmal beredete, in ihrer Kontur jedoch ganz diffus gebliebene "Achse Paris-Berlin-Moskau" überraschend an Leben gewonnen. Nicht nur zeigten die Regierungen in den betreffenden Städten beeindruckende Einigkeit und Koordination bei ihrer Ablehnung des amerikanischen Kriegskurses und überhaupt bei ihren Auftritten im Sicherheitsrat, es traten auch deutlich gemeinsame geostrategische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen bei der Gestaltung der Welt am "Tag danach" hervor. Die Frage ist berechtigt, inwiefern und inwieweit sich hier zukunftsresistente, zukunftshaltige Koalitionen abzeichneten, die über die Form bloßer Augenblicksbündnisse hinausreichen.

Der Zufall ist oft ein solider Baumeister

Zum ersten Mal gewahrte man - noch schemenhaft - die Kontur einer politischen Konföderation, die es in Hinblick auf Raum, Bevölkerung, wirtschaftliche Kapazität und militärische Verteidigungskraft mit jeder anderen Agglomeration in der Welt aufnehmen kann und deren kulturelles Relief farbenreich, in sich reich differenziert und dennoch nicht inkompatibel ist. Die Schreckensvision des US-Strategen Zbigniew Brzezinski, daß den USA in "Eu-rasien" ein gleichwertiger, potentiell sogar überlegener Rivale erwachse, nahm unversehens reale Gestalt an.

Was die Achse Paris-Berlin-Moskau im Augenblick verbindet, ist freilich noch nicht viel mehr als der Wille, den Weltmachtabenteuern der USA eine wirksame Kontroll- und Eindämm-Instanz entgegenzusetzen. Die bisherigen Instanzen zur Zivilisierung internationaler Konflikte: Völkerrecht, Sicherheitsrat, kollegiale Abstimmung der Westmächte untereinander, haben versagt, da die USA nicht mehr bereit sind, mit diesen Instanzen zusammenzuarbeiten oder sie auch nur ernst zu nehmen. So suchte man nach neuen Möglichkeiten, und eine davon war eben die Achse Paris-Berlin-Moskau. Es war eine Art Notwehr, die beteiligten Regierungschefs waren in diesem Fall mehr Getriebene als Treiber.

Aber auch in der Politik ist der Zufall oft der solideste Baumeister. Man könnte Geschmack an der neuartigen Konstellation finden, zumal da zu erwarten ist, daß die USA sich in ihrer Aggressivität nicht so bald mäßigen werden und in ihrem Dauerkrieg gegen die "Achse des Bösen" für geraume Weile ein erstrangiger Unsicherheitsfaktor der Weltpolitik bleiben werden. Gemeinsames politisches Operieren über eine lange Strecke bedingt Feinabstimmung, Beratung in eigens dafür zu gründenden Gremien, Herstellung intensiver, privilegierter Kommunikation. So könnte es durchaus geschehen, daß die Achse Paris-Berlin-Moskau in absehbarer Zeit auch nach außen hin institutionalisiert wird.

Staaten wie Italien, Spanien oder die ostmitteleuropäischen EU-Beitrittskandidaten gerieten dann in eine interessante Lernphase. Ihre im "Brief der Acht" so lautstark wie illoyal bezeugte bedin-gungslose Gefolgschaftstreue gegenüber den USA kann ja nicht verbergen, daß sie auf primäre, intensivste, ihre ganze gesellschaftliche Struktur umfassende Zusammenarbeit mit der "Achse" angewiesen sind, daß es eine spezifische politische "Treue" für sie nur im europäischen Rahmen geben kann und sie selbst um so mehr Einfluß gewinnen, je europäischer sie sich verhalten. Eine "achsenfeindliche", amerikahörige neue "kleine Entente" mitten in Europa ist völlig undenkbar; es wird sie gewiß nicht geben.

Dabei gilt: Ein Europa der "Achse" tastet die Souveränität der einzelnen Nationen nicht an, schreibt ihnen nicht vor, wie sie ihre inneren Verhältnisse zu gestalten haben, schon deshalb nicht, weil sich die "Achse" selbst ja ausdrücklich als Gegenkraft gegen Einmischung, Imperialismus und Gleichmacherei formiert hat. Sie ist im genauen Sinn eine "Achse", auf der viele Räder aufgezogen werden können. Zu ihren höchsten Werten gehören Multipolarität in der Weltpolitik, Interessenausgleich, allseitige Respektierung nationaler und kultureller Profile.

Wo Rußland schon jetzt besten Eindruck macht

Im Augenblick verbürgt sich besonders Frankreich für diese Werte. Es ist in sich geistig gefestigt, selbstbewußt und ehrgeizig und verfügt bereits über große Erfahrungen bei der Eindämmung jener egalisierenden, niveautötenden, gewaltbesessenen Massenkultur, die vielerorts mit Amerika verbunden wird und deren Export oft tatsächlich einhergeht mit der gewaltsamen Durchsetzung bestimmter Herrschaftsstrukturen und Regimeformen. Dagegen ist Frankreich angetreten. Allerdings steckt in der französischen Tradition selbst ein Stück "Kulturimperialismus", Erbe des gleichmacherischen Jakobinismus aus 1793er Zeiten, der das Land manchmal unempfindlich macht gegen die Allergien inbesondere seiner mittelmeerischen Nachbarn und zu unnötigen Reibungsverlusten führt.

Größere Probleme haben die zwei anderen Achsen-Partner, Deutschland und Rußland. Letzteres hat sich noch längst nicht hinreichend über seine künftige Rolle in Europa und in der Welt verständigt, ist sich nicht klar über die eigene Interessenlage und trägt schwer an den sowjetischen Altlasten, sowohl im Inneren wie im Außenverhältnis. In seiner politischen Publizistik schwankt es oft zwischen Größenwahn und schwärendem Minderwertigkeitskomplex. Das Vorgehen seiner Sicherheitskräfte im Tschetschenien-Krieg beschädigt das Ansehen im Ausland, die vielen ungeklärten Fragen im Kaukasus und in Mittelasien strapazieren sein strategisches Potential, und im Fernen Osten geht die Angst um vor dem chinesischen Bevölkerungsdruck auf die "leeren Räume" Sibiriens.

Dennoch hat Rußland in der letzten Zeit erstaunlich an Reputation gewonnen und sein spezifisches Gewicht kontinuierlich steigern können. Seine wirtschaftlichen Daten weisen nach oben, der "chilenische", patriarchalisch-liberale Regierungsstil seines Präsidenten findet Zustimmung, russische Diplomaten hinterlassen auf dem internationalen Parkett einen ausgezeichneten Eindruck, ihr Ton hebt sich außerordentlich günstig ab von dem ewigen Bramarbasieren und Drohen der amerikanischen Vertreter.

Es war vor allem das elastische, "alteuropäischen" Stil verratende Zusammenspiel der beiden Veto- und Atommächte Frankreich und Rußland, das die Rede von der "Achse" in Gang gebracht und in einen Status des Ernstnehmens erhoben hat. Der Dritte im Bunde, Deutschland, die Schröder-Regierung in Berlin, spielte dabei eine eher tragikomische Rolle. Aus den Nöten des letzten Bundestagswahlkampfs heraus, in der Einsicht, daß er einzig mit der Anti-Kriegs-Option am Ruder bleibe könne, schlidderte Schröder geradezu wider Willen in die Achsen-Situation hinein.

Deutschland ist das Scharnier der Achse

So ernst hatte er es gar nicht gemeint. Es widerfuhr ihm gewissermaßen. Der Beifall, den er überall in der Welt dafür erhielt, wird ihn sehr überrascht haben. Nun steht er einer innenpolitisch äu- ßerst schwachen Regierung vor, deren tagtäglicher Überlebenskampf gar keine Zeit läßt für Strategie-Debatten. Und die Achsen-Partner müssen trotzdem noch froh sein, daß sie mit Schröder und nicht mit Merkel-Stoiber-Pflüger zu tun haben, da deren Weltsicht geradezu lemminghaft auf den unverbrüchlichen Vasallenstatus gegenüber den USA gerichtet ist, so daß sie sich gar nicht vorstellen können, daß die Welt sich auch einmal ändern könnte und sie zu neuen strategischen Entscheidungen herausgefordert werden.

Es ist wirklich tragisch und fast grotesk: Die Achse braucht natürlich Deutschland, seine Wirtschaftskraft, seine (potentielle, zur Zeit eingeschläferte) Dynamik, seinen europazentralen Raum, seinen Beitrag zur europäischen Kultur. Ohne all das könnte sie weder existieren noch nach irgendeiner Richtung hin funktionieren. Deutschland ist das Mittelglied, das Scharnier der Achse. Aber so, wie es sich in seiner jetzigen Verfassung darbietet, ist es lediglich eine Bruchstelle, ein Risiko.

Seine Eliten wollen weder Eliten noch überhaupt deutsch sein und europäisch nur in dem Sinne, daß Europa ein "Teil des Westens" sei und dieser Teil sich in jedem Falle nach dem zu richten habe, was in Washington und New York vorgegeben wird. Eingegraben in die von den anderen längst verlassenen Schützengräben des Kalten Krieges, unablässig beschäftigt mit "Vergangenheitsbewältigung", dumm gemacht durch Massen-"Events" und mediale Verblödungs-Instanzen, kommen ihnen die Ereignisse der letzten Monate als eine Art kleiner Weltuntergang vor oder - erbärmlicher noch - als eine unbequeme Störung des gewohnten Karussellbetriebs, in die man "irgendwie" hineingeraten sei und die sich schon "von selbst" wieder begeben werde.

Einen würdigen Platz für das alte Europa

Freilich trifft auch hier zu, was für die Politik und das Leben insgesamt zutrifft: In der Tiefe vollziehen sich Dinge mit Notwendigkeit, die von den emsigen Akteuren an der Oberfläche oft nur als bloßer Un- und Zufall empfunden werden - à la longue müssen sie sich dann aber darauf einrichten und an ihm ihre "virtù", ihre Kraft zur Daseinsbewältigung bewähren. Auch Angela Merkel und den Ihren wird eines Tages dämmern, daß die Welt nicht aus einem einzigen Punkte kuriert und nicht von einer einzigen Macht, und sei sie noch so sehr "von Gott erleuchtet", beherrscht und angeleitet werden kann, daß es also "Weltpolitik" nur in der Multipolarität geben kann, daß die sogenante Unipolarität immer nur Zwang und verächtliche Arschkriecherei im Gefolge haben kann.

Wenn die Nationen Europas zu etwas gut sind, dann dazu, dieser Wahrheit zum Recht zu verhelfen. Sie haben geradezu die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, einen der Pole mit Energie zu versehen, aus denen die Multipolarität besteht. Die bisherigen europäischen Institutionen, Nato und EU, vermochten es nicht, jene Energie aufzubringen. Es war im Grunde auch nicht die ihnen zugedachte Aufgabe, es waren notwendige Instrumente zur Führung des Kalten Krieges, die ihre Funktion faktisch erfüllt hatten, nachdem das sowjetische Imperium implodiert war. Heute sind sie, wie uns soeben wieder demonstriert wurde, durch die durch heißen Krieg bekräftigten Ansprüche der USA auf Unipolarität weitgehend zerstört. Von der Nato wird nichts übrig bleiben, von der EU allenfalls eine seelenlose bürokratische Struktur, die in jeder Krise lediglich ihre Unzulänglichkeit unter Beweis stellen kann.

Das sich abzeichnende neue Projekt einer Achse Paris-Berlin-Moskau ist noch ganz jungfräulich und ungeprüft, mit vielen Unsicherheiten und mancherlei Risiko behaftet. Es ist aber nicht chancenlos. Sein Charme und seine Faszination liegen in der Aussicht, daß Alteuropa wieder einen würdigen Platz im Weltgetriebe einnehmen könnte und eine kulturelle Tradition fortführte, die es wert ist, fortgeführt zu werden.

 

Foto: Frankreichs Außenminister Dominique de Villepin (r.) unterhält sich am 5. März in Paris mit seinen Amtskollegen aus Deutschland und Rußland, Joseph Fischer (l.) und Igor Iwanow: Was die Achse Paris-Berlin-Moskau im Augenblick verbindet, ist noch nicht viel mehr als der Wille, den Weltmachtabenteuern der USA eine wirksame Instanz entgegenzusetzen

 

Prof. Dr. Günter Zehm lehrt Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.


 
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