© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/03 04. April 2003

 
Unabhängigkeit gegen Brot und Frieden getauscht
Tschetschenien: Das kleine Kaukasus-Volk hat in einem von Moskau inszenierten Referendum für den Verbleib bei Rußland gestimmt
Tatjana Montik

Mit der am 23. März durchgeführten Volksabstimmung über eine neue Verfassung für Tschetschenien wollte die Regierung im Kreml eines der schwierigsten Kapitel der postsowjetischen Geschichte abschließen. Der Ausgang des Referendums verspricht eine symbolische Beendigung der Militäraktion zu werden, die vor vier Jahren von dem damals designierten Präsidenten Wladimir Putin eingeleitet wurde und die sich später für die Menschen in dieser Region als eine gewaltige Tragödie und für die russischen Streitkräfte als eine komplette Diskreditierung herausstellen sollte.

Laut den offiziellen, am 27. März veröffentlichten Resultaten, haben sich 95,7 Prozent der tschetschenischen Bevölkerung für die neue Verfassung ausgesprochen. Diese Verfassung wird als eine Art Vertrag über den erneuten Beitritt Tschetscheniens zur Russischen Föderation angesehen. Für das Gesetz über die Wahlen des Präsidenten sprachen sich 95,4 Prozent aus, das Gesetz über die Wahlen ins Parlament wurde von 96,5 Prozent der Wähler unterstützt, so der Vorsitzende der Wahlkommission Abdul Arsachanow. Nach Angaben der Agentur Itar-Tass haben am Plebiszit vom 23. März insgesamt 89,48 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen -Ergebnisse, fast wie zu Sowjetzeiten.

Doch plump gefälscht wurde diesmal nicht: als Gegenleistung des Kremls für die erneuerte "Zwangsehe" wurde dem leidgeprüften Volk Ruhe, Ordnung und Frieden versprochen - in einer autonomen Republik, unter einer strengen "föderalen Kontrolle" Moskaus. Ursprünglich hätte das Referendum später stattfinden sollen: zusammen mit den für Dezember 2003 anberaumten Wahlen für die Staatsduma. Jedoch hatte sich nach dem blutigen Moskauer Geiseldrama vom Oktober 2002 die Situation verschärft: In der russischen Gesellschaft wurden Rufe nach Vergeltung gegen die Tschetschenen laut.

Im Dezember hatte Putin daher eine Erklärung über die "Beschleunigung der verfassungsgebenden Prozesse in Tschetschenien" abgegeben, in der er unmißverständlich zu verstehen gegeben hatte, daß die Moskauer Pläne von nun an keiner öffentlichen Debatte mehr unterliegen würden. Da Tschetschenien nach Ansicht des Kremls über keine verhandlungsfähigen politischen Führungspersönlichkeiten verfügt, wurde der gesamte verfassungsgebende Prozeß in die alleinige Zuständigkeit der Regierung in Moskau übergeben.

Andererseits hatten sich die EU-Staaten klar und deutlich dafür ausgesprochen, daß der Friedensprozeß in Tschetschenien nur unter Einbeziehung des im Untergrund lebenden tschetschenischen Ex-Präsidenten Aslan Maschadow als legitim zu betrachten wäre. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hatte sich daher eine Woche vor dem Referendum geweigert, ihre Beobachter zu dem umstrittenen Plebiszit zu schicken.

Friedenspropaganda und Versprechungen aus Moskau

Deshalb wurde im Kreml unter einer aktiven Einschaltung der Medien intensiv an einer Image-Kampagne für die Politik des russischen Präsidenten in Tschetschenien gearbeitet. Nach der Regierungssitzung am 25. Februar 2003 kündigte Präsident Putin an, den Bürgern Tschetscheniens, die im Laufe der Kriegshandlungen ihre Häuser und Wohnungen eingebüßt haben, Entschädigungen auszuzahlen. Eigens zur Zusammenstellung einer entsprechenden Liste der zu entschädigenden Personen wurde unter dem Vorsitz des für Tschetschenien zuständigen Ministers Stanislaw Iljin eine Kommission gegründet.

Am 28. Februar hat der Vizechef der Präsidentenadministration angedeutet, "der Republik Tschetschenien die breitestmögliche Autonomie im Rahmen der Russischen Föderation zu gewähren". Wladimir Surkow betonte ausdrücklich, daß "der neue Vertrag zwischen Rußland und Tschetschenien auch für diejenigen Bürger und Bürgerinnen des Landes annehmbar ist, die es bisher nicht als Teil Rußlands sehen wollten". Als Geste hat man einige Militäreinheiten (etwa 1.000 Soldaten) abgezogen und im Anschluß daran verkündet, die Präsenz der russischen Streitkräfte in Tschetschenien im laufenden Jahr von 80.000 auf etwa 35.000 bis 30.000 Personen reduzieren zu wollen. Dabei würde ein Teil der nichtmilitärischen Technik an Schulen und öffentliche Einrichtungen übergeben werden.

Um eine breite Unterstützung der jugendlichen Wähler zu sichern, haben die Moskauer Beamten einige Wochen vor dem Referendum an der Universität der Hauptstadt Grosny ein Internet-Zentrum einrichten lassen: 28 Computer, die über das Radionetz an das Internet angeschlossen wurden. Kurz danach hat man an dieser Uni ein "Probe-Referendum" veranstaltet und über dessen Ergebnisse - eine "aussagekräftige" Unterstützung der Pläne Moskaus - in den Medien breit berichtet.

Noch ein Schritt Richtung Friedenssicherung wurde von der Regierung unternommen: Wladimir Putin traf sich mit den Vertretern der gemäßigten tschetschenischen Opposition und führte mit ihnen einen scheinbar konstruktiven Dialog. Bei diesem Treffen wurde eine politisch wichtige Entscheidung getroffen: es ging um eine breite Amnestie für alle Rebellen, die sich keiner schweren Verbrechen schuldig gemacht haben. Die Tatsache, daß die Reaktionen des Kremls zum Irak-Krieg mißbilligend und scharf ausfielen, scheint ebenfalls zur Konsolidierung des Verhältnisses zu Moskau beigetragen zu haben.

Am meisten Eindruck machte aber Putin, indem er, zwar sehr allgemein, aber immerhin einige "Fehler" seiner Regierung in der Tschetschenien-Politik offiziell eingestand. So etwas hört man von einem russischen Staatschef tatsächlich nicht alle Tage. Die Resultate der intensiven Kampagne ließen nicht länger auf sich warten. Eine Anfang März von "Validata" durchgeführte Umfrage (unter 1.000 Personen in 73 Ortschaften Tschetscheniens) sollte den "Propagandaerfolg" verdeutlichen: 66,5 Prozent der Tschetschenen erklärten sich bereit, am Referendum teilzunehmen, und 80 Prozent von ihnen wollten auf alle drei Fragen über den Verbleib ihrer Republik in der Russischen Föderation eine positive Antwort geben.

Obwohl 46 Prozent der Befragten in ihrem jetzigen Leben keine wesentlichen Verbesserungen sahen und die Lage mit "weder Krieg, noch Frieden" einschätzten, bemerkten 39 Prozent - meist Ältere - positive Veränderungen in ihrem Leben nach dem Krieg. Wenn man den Sozialwissenschaftlern Glauben schenkt, so bedeuten diese Daten nicht, daß über zwei Drittel der Bevölkerung das in Moskau initiierte Referendum unterstützten. Wodurch könnten solche Aussagen dann begründet sein?

Der Leiter des Projekts, Sergej Haikin, kommentierte die Ergebnisse seiner Studie folgendermaßen: viele Menschen seien einfach von der in Tschetschenien allgegenwärtigen Atmosphäre der Angst vor Säuberungs- und Racheaktionen, vor Entführungen und Schießereien viel zu müde. Die persönliche Sicherheit sei das schwerwiegendste Problem in dieser Region überhaupt. Das Referendum würde von vielen als letzte Hoffnung darauf angesehen, daß sich ihr Leben zum besseren wenden würde, daß die Kinder wieder in den Genuß der Allgemeinbildung kämen und die Alten ihre Renten ausgezahlt bekommen würden.

Obwohl die Kandidatur Achmad Kadyrows, des jetzigen Günstlings des Kremls, für das Amt des Präsidenten der "Autonomen Tschetschenischen Republik" sowohl vom größten Teil der Analytiker als auch von der Mehrheit der Bevölkerung als ein großer politischer Fehler Moskaus angesehen wird, betrachten viele Bürger das Referendum als ein Plebiszit über den Verbleib in der russischen Föderation und nicht über das Vertrauen gegenüber Kadyrow. Laut "Validata" wird Kadyrow von nur zwölf Prozent der Bevölkerung unterstützt. Rebellenführer Maschadow kann jedoch - laut "Validata" - keine besseren Umfragewerte vorweisen: offiziell wird er nur von drei bis vier Prozent der Bevölkerung unterstützt. Inoffiziell - eine solche Abweichung wäre angesichts der Situation in Tschetschenien laut Sergej Haikin zulässig - könnte er mit bis zu zehn Prozent Sympathie rechnen - jedoch auf keinen Fall mit 30 Prozent, wie die Opposition behauptet.

Und am Vorabend des Referendums versprach der Chef der Präsidentenadministration, Alexander Woloschin, sogar, die breite Autonomie Tschetscheniens innerhalb der Russischen Föderation würde durch einen Vertrag über die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Grosny und Moskau gewährleistet werden. Für viele Beobachter war dies ein Beweis mehr: die Öffentlichkeitskampagne des Kremls war eigentlich keine ernstgemeinte Sache, sondern nur Propaganda. Die Resultate des Plebiszits werden sowieso nicht angezweifelt werden dürfen. Trotzdem versuchte Moskau nach allen Regeln der Kunst, die Bürger Tschetscheniens für sich zu gewinnen und dem Ganzen eine anständige "Verpackung" zu verpassen.

"Eindeutige Kapitulation des tschetschenischen Volkes"

Wie groß der Sieg der Moskauer Administration in Tschetschenien tatsächlich ist, wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen. Doch nicht nur in Grosny, auch in der russischen Gesellschaft gibt es Stimmen, die klar und deutlich sagen, das Referendum vom 23. März sei eine "eindeutige Kapitulation des tschetschenischen Volkes", eine gut verschleierte "militärische Aktion" gewesen. Und nur ein kleines Detail würde diese Kapitulation von einer allgemein üblichen unterscheiden: sie wurde nicht von einem Oberbefehlshaber unterzeichnet, sondern unmittelbar von einer ganzen Nation, die zur Zeit über keine anerkannte politische Führung verfügt.

Nach der Logik der "Gewinner" sind die Resultate des Referendums als ein legitimes und nicht mehr zu bestreitendes Protokoll der Übergabe Tschetscheniens an Moskau zu betrachten. Dieselbe Logik gibt den "Gewinnern" nun eine Chance, einen "Neuanfang" mit dem kleinen südlichen Nachbarn zu versuchen. Jedoch kann die "Kapitulation" der Tschetschenen alleine, selbst wenn sie im beiderseitigen Einvernehmen erfolgt wäre, keine Garantie dafür geben, daß sich in dieser Republik wieder Frieden und Ordnung einstellen werden - die Unabhängigkeitskämpfer wollen nicht aufgeben. Es wird mehr benötigt, als ein bloßer Abzug von einigen wenigen Militäreinheiten oder eine politische Amnestie oder gar die Anerkennung der eigenen politischen Kurzsichtigkeit. Daran, ob Rußland den schwierigen Aufgaben des Wiederaufbaus in seiner neu eroberten Problem-Region Nummer Eins gewachsen ist, wird auch in Moskau schwer gezweifelt.


 
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