© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/03 25. April 2003

 
Die Schattenfraktion
Gewerkschaften: Trotz rasantem Mitgliederschwund und abnehmender politischer Legitimation macht der DGB Druck auf die Regierung, die er mit an die Macht brachte
Michael Waldherr

W enn wir schreiten Seit' an Seit'", heißt es in einem alten Lied der Arbeiterbewegung. Es gehört zum musikalischen Standardrepertoire eines jeden gestandenen DGB-Gewerkschafters wie auch zur Umrahmung traditioneller 1. Mai-Kundgebungen. Weil die SPD ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung hat, sangen die Genossen bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts dieses Lied zum Abschluß aller SPD-Parteitage. Doch auf dem ordentlichen Parteitag der SPD 1999 fand das Lied keine Verwendung mehr. Der "Genosse der Bosse" Gerhard Schröder war bei der Bundestagswahl 1998 mit dem Konzept der "Neuen Mitte" erfolgreich in bürgerliche Wählerschichten eingebrochen und mit klarer Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt worden. Reminiszensen an "Klassenbewußtsein" paßten nun nicht mehr in "die neue Zeit". An einer strategischen Partnerschaft zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften bestand hingegen nicht der leiseste Zweifel.

"Gewerkschaften werden jetzt in die SPD hineinwirken"

Angesichts der geplanten Sozialkürzungen der rot-grünen Bundesregierung gellen nun schrille und laute Mißtöne im sonst so harmonischen Konzert von DGB und SPD. Zuerst ließ Bundeskanzler Schröder das ominöse "Bündnis für Arbeit" endgültig platzen und jetzt zeigte er mit seiner "Agenda 2010" den Gewerkschaften, wo der Hammer hängt: Schröder rührt am sozialdemokratischen Tabu des Kündigungsschutzes. Kleinbetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten sollen zusätzliche Arbeitskräfte befristet oder als Leiharbeiter einstellen können, ohne daß damit wie bisher für alle Arbeitnehmer der volle Kündigungsschutz ausgelöst würde. Bei betriebsbedingten Kündigungen sollen die Betroffenen wählen müssen, ob sie dagegen klagen oder eine gesetzliche Abfindung in Anspruch nehmen wollen. Zudem sollen die Vorschriften zur Sozialauswahl bei Kündigungen gelockert werden.

Schröder will die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für alle unter 55jährigen auf höchstens zwölf Monate begrenzen. Ältere Arbeitnehmer sollen Zahlungen für höchstens 18 Monate erhalten. Bislang ist ab einem Alter von 45 Jahren eine Bezugsdauer von mehr als zwölf Monaten möglich, die für ältere Arbeitnehmer bis auf 32 Monate ansteigt. Außerdem soll die bisherige Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu einem "Arbeitslosengeld II" auf Sozialhilfeniveau zusammengelegt werden. Am Flächentarifvertrag will die rotgrüne Bundesregierung zwar grundsätzlich nicht rütteln, gleichwohl soll es aber unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Tarifparteien mehr "betriebliche Bündnisse für Arbeit" geben. Falls es auf freiwilliger Basis keine hinreichenden Fortschritte gibt, droht Schröder gesetzliche Regelungen an.

Nach einem ergebnislosen Gespräch im SPD-Gewerkschaftsrat mit Bundeskanzler Schröder haben die Gewerkschaften ihre Mitglieder zum Widerstand gegen die Bundesregierung aufgerufen. Der deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) will nach den Worten seines Vorsitzenden Michael Sommer mit einer bundesweiten Kampagne unter dem Motto "Menschlich modernisieren, gerecht gestalten - das machen wir" den "Unmut der Menschen über die Reformpläne" aufgreifen: "In den Betrieben verstehen die Arbeitnehmer die Welt nicht mehr - und sie verstehen auch nicht, warum eine sozialdemokratische Regierung ihre Wahlversprechen bricht." Zwischen Wut und Zorn schwanken die Gewerkschafter darüber, daß der traditionelle Partner SPD von der gewerkschaftlichen Fahne geht und drohen mit den bewährten politischen Folterwerkzeugen - ein "heißer Mai" und "Mobilisierung der Basis". Im Hinblick auf die weitreichende Personalunion zwischen DGB und SPD dichten Gewerkschafter ihr altes Lied um: "Wenn wir streiten Seit' an Seit'!"

IG Bau-Chef Klaus Wiesehügel kündigt an: "Es wird uns ja von vielen vorgeworfen, daß es so eine enge Beziehung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften gibt. Jetzt müssen wir sehen, ob das stimmt. Die Gewerkschaften werden jetzt in die SPD hineinwirken. Über die normale Lobbyarbeit ist das jetzt nicht mehr zu machen. In der SPD ist Feuer unterm Dach!" Der designierte IG-Metall-Chef und derzeitige Vize Jürgen Peters, der als "kämpferisch" gilt, wird im Konflikt kaum besänftigend wirken, wie er bereits letzte Woche durch seine Ermunterung der SPD-Dissidenten in der Parteilinken durchblicken ließ.

"Seit' an Seit'" hatten die Genossen von SPD und DGB-Gewerkschaften 1998 für einen Machtwechsel gekämpft. "Pro DGB-Mitglied eine Mark", lautete die Devise in der Führung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, um mit diesem Geld offizielle Wahlkampfunterstützung für Gerhard Schröder zu betreiben. Auf hemmungslose Weise wurde so der ursprüngliche Gedanke einer zur parteipolitischen Neutralität verpflichteten Einheitsgewerkschaft ad absurdum geführt. Viele Mitglieder empörten sich, manche traten aus. Um ganz sicher zu gehen, daß gewerkschaftliche Interessen Regierungspolitik werden, legte die IG Metall noch vier Millionen Mark auf die 8,6 Millionen Mark DGB-Wahlhilfe oben drauf. Im Bundestagswahlkampf 2002 unterstützte der DGB die rot-grüne Bundesregierung immerhin noch mit zwei Millionen Euro.

Die DGB-Rechnung ging 1998 auf: Rot-Grün und damit auch eine Menge Gewerkschafter übernahmen die Macht. Der für die tatkräftige gewerkschaftliche Unterstützung dankbare Neu-Kanzler Schröder zeigte sich damals umgehend erkenntlich: Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhöhte Rot-Grün wieder auf 100 Prozent, die Lockerung des Kündigungsschutzes wurde rückgängig gemacht und die 630-Mark-Jobs erschwert. Später folgte die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung und der Rechtsanspruch jedes Arbeitnehmers auf Teilzeitarbeit. Vor allem die Reform der Mitbestimmung war damals als Ausgleich für die Rentenreform gedacht, an der die Gewerkschaftsfunktionäre schwer zu schlucken hatten.

SPD-Bundestagsfraktion als wohliges Nest für den DGB

In Gerhard Schröders Kabinett sind 24 DGB-Mitglieder vertreten. Einige Beispiele: Schröder selbst gehört zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), aber auch Familienministerin Renate Schmidt (SPD), der Staatsminister im Auswärtigen Amt Hans Martin Bury (SPD) sowie die Parlamentarischen Staatssekretäre Walter Kolbow (SPD/Verteidigungsministerium), Angelika Mertens (SPD/Verkehrsministerium), Barbara Hendricks (SPD/ Finanzministerium) und Uschis Eid (Grüne/Entwicklungsministerium).

Für die Industriegewerkschaft Bergbau, Energie , Chemie (IG BCE) sitzen Superminister Wolfgang Clement (SPD) und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) an den bundesrepublikanischen Schaltstellen der Macht. Ebenfalls zur IG BCE gehören eine ganze Reihe Parlamentarischer Staatssekretäre: Franz Thönnes (SPD/Gesundheitsministerium) war früher Geschäftsführer der IG Chemie,-Papier-Keramik in Hamburg, Gerd Andres (SPD/Wirtschaftsministerium) ehemals Sekretär beim Hauptvorstand der heutigen IG BCE. Weiterhin schmücken sich die BCE-ler Marion Caspers-Merk (SPD/Gesundheitsministerium) und Hans Georg Wagner (SPD/Verteidigungsministerium) mit der Staatssekretärs-Würde. Obendrein verfügt Wagner sogar noch über einen Verdi-Mitgliedsausweis. Was wäre Rot-Grün ohne "seine Lehrer"? Folglich darf die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) am Kabinettstisch nicht fehlen. Die GEW repräsentieren Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) und Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD), außerdem die Parlamentarischen Staatssekretäre Karl Diller (SPD/Finanzministerium) und Marieluise Beck (Grüne/Familienministerium). Heinrich Tiemann machte einst als Referent für Grundsatzfragen beim IG Metall-Vorstand Karriere - heute sitzt er wohlbestallt als beamteter Staatssekretär im Gesundheitsministerium.

Ein wohliges Nest für Gewerkschaftsmitglieder bildet die SPD-Bundestagsfraktion. Von den 251 SPD-Abgeordneten sind 186 - und damit drei Viertel der gesamten Fraktion - Mitglieder von DGB-Gewerkschaften: Verdi 98 Abgeordnete, GEW 31, IG Metall 26, IG BCE 23, IG Bau zehn, Gewerkschaft der Polizei (GdP) drei und die Gewerkschaft Nahrung, Genußmittel, Gaststätten (NGG) hat immerhin noch einen Parlamentarier vorzuweisen. Der wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Klaus Brandner, ist Erster Bevollmächtigter der IG Metall Gütersloh. Sein Fraktionskollege Fritz Schösser führt den DGB-Bezirk Bayern und sitzt als Vorsitzender im Verwaltungsrat des AOK-Bundesverbands.

Schösser ist nur ein Beispiel dafür, wie die Gewerkschafter nicht nur an den politischen Schalthebeln der Macht sitzen, sondern als durchorganisierte Interessengruppe ein feingliedriges Netzwerk über alle gesellschaftlich relevanten Bereiche spannen: DGB-Funktionäre sitzen auch in den Aufsichtsräten von großen Konzernen. In fast allen Aufsichtsräten der "Dax-30-Unternehmen" sind die großen Gewerkschaften vertreten. Von den meist 20 Aufsichtsratsposten stehen rechtlich zehn der Arbeitnehmerseite und davon drei betriebsfremden Gewerkschaftsvertretern zu. So sitzt DGB-Chef Michael Sommer beim Aufsichtsrat der Deutschen Telekom, der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel bei Volkswagen, der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Bsirske bei RWE und Lufthansa sowie der IG BCE-Chef Hubertus Schmoldt bei Bayer und Eon. Gewerkschaftsfunktionäre haben Schlüsselpositionen in den Selbstverwaltungsgremien der gesetzlichen Krankenversicherungen, der Rentenversicherer, Berufsgenossenschaften, der Bundesanstalt für Arbeit, der Kreditanstalt für Wiederaufbau inne, sie stellen Beiräte der neun Hauptverwaltungen der Deutschen Bundesbank sowie Rundfunk- und Fernsehräte bei ARD und ZDF.

Ausbau des Einflusses trotz abnehmender Mitgliederzahl

Keine andere Organisation betreibt so erfolgreiche Lobbyarbeit wie die Gewerkschaften. Dazu dient eine systematische Personalpolitik. Als etwa die Ex-Jusovorsitzende Andrea Nahles im letzten Jahr mit dem Wiedereinzug in den Bundestag scheiterte, fing die IG Metall die Vorzeigelinke weich auf und parkt sie seitdem als Leiterin der IG Metall-Repräsentanz in Berlin, bis sie als nächste Nachrückerin wieder im Reichstag Platz nehmen und dort als MdB "Gewerkschaftsinteressen befördern" darf.

Mitgliederzahlen und Organisationsgrad der Gewerkschaften sinken seit Jahren kontinuierlich. Nur noch knapp 22 Prozent aller Arbeitnehmer sind nach Schätzungen des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung noch gewerkschaftlich organisiert. Ihren gesellschaftlichen Einfluß haben die Funktionäre dennoch weiter ausgebaut - immerhin sind 74 Prozent der SPD-Bundestagsabgeordneten im DGB. Stolze 11,8 Millionen Mitglieder hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund noch im Jahre 1991. Doch seitdem geht es steil bergab. Selbst die Einverleibung der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) durch die zum DGB gehörende Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft konnte den Trend nicht stoppen: Nur noch 7,7 Millionen Mitglieder gehörten im Jahr 2002 zum DGB. Tendenz weiter fallend. Über die häufig angeführten arbeitslosen Gewerkschaftsmitglieder gab es auf Anfrage der JF beim Deutschen Gewerkschaftsbund noch nicht einmal konkrete Zahlen.

Viele Arbeitnehmer stehen dem DGB und seinen Einzelgewerkschaften ablehnend gegenüber. Einige Kritikpunkte lauten: Die Gewerkschaften seien völlig verkrustete und anonyme Großorganisationen geworden. Traditionell für Arbeiter eingerichtet, hätten moderne Angestellte darin keinen Platz. Der Beitrag sei zu hoch und eine entsprechende Gegenleistung nicht ersichtlich. Die maßgebliche Beteiligung der Gewerkschaften an Gerhard Schröders "Aufstand der Anständigen" im "Kampf gegen Rechts" sowie die ausufernden "Antifa-Kampagnen" der Gewerkschaftsjugend stoßen nicht wenige DGB-Mitglieder ab, weil sie den Blick auf den Kern ihrer Probleme als Arbeitnehmer verstellen.

Arbeitnehmer brauchen eine starke Vertretung. Sie verdienen Gewerkschaften, die über den Tag hinaus an die Zukunft denken und ideologische Scheuklappen ablegen. Viele Betriebsräte haben das verstanden. Weil sie die Praxis kennen und flexibel sind, holen sie mehr für ihre Arbeitskollegen heraus. Diese Denkweise muß bis zur Führung der DGB-Einzelgewerkschaften und ihres Dachverbandes vordringen. Dort sollten Pragmatiker sitzen. Ein Mann wie Michael Sommer, der jetzt für sinkendes Rentenalter eintritt, gehört nicht dazu.

Die Praxis zeigt es: Betriebliche Bündnisse für Arbeit stärken, bedeutet mehr Rechte für die Beschäftigten statt Fremdbestimmung durch Gewerkschaftsfunktionäre. Dazu gehört die Beteili­gung des Be­triebsrates sowie kür­zere und prozeßbegleitende Mitbestim­mungsverfah­ren. Das Günstigkeitsprinzip muß weiter als bisher ausgelegt werden. Neben Lohn und Arbeitszeit sollten zukünftig auch Beschäftigungsaussichten berücksichtigt werden. Gerade in kleinen und mittleren Betrieben arbeiten Geschäftsführung und Belegschaft eng zusammen. Während die hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre immer noch den Klassenkampf predigen, haben die Beschäftigten längst erkannt, daß ihr Arbeitsplatz nur dann sicher ist, wenn es dem Unternehmen als ganzes gut geht. Der Arbeitsmarkt braucht ein sinnvolles Gleichgewicht zwischen individuellem Schutzbedürfnis und betriebswirtschaftlicher Anpassungsfähigkeit. Dies können die Betriebe im Zweifelsfall besser entscheiden, als betriebsfremde Funktionäre.

Was nun aus der angekündigten "Mobilmachung" der Gewerkschaften gegen Schröders Reformpläne und dem "heißen Mai" wird, bleibt abzuwarten. Schon rudern Gewerkschaftsbosse zurück. DGB-Chef Sommer erklärt: "Es geht nicht um einen Konfrontationskurs gegen den Kanzler. Ziel ist nicht, die rot-grüne Bundesregierung zu bekämpfen, sondern deren Politik zu ändern." Der noch-IG-Metall-Vorsitzende Zwickel stellt klar: "Es gibt mittel- und langfristig auf Bundesebene keine sinnvolle politische Alternative zu Rot-Grün." Das untermauert auch IG Bau-Chef Wiesehügel: "Die Gewerkschaften müssen ihren Verbündeten weiterhin in der SPD suchen. Das ist für mich als Sozialdemokrat eine Frage der Glaubwürdigkeit." So werden die Gewerkschafter ihren exorbitanten Einfluß in der SPD zu nutzen wissen, glauben sie doch noch immer an die Solidarität der Genossen. Doch wenn am 1. Mai DGB-Gewerkschafter auf ihren Kundgebungen fahnenschwingend "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" singen, denkt sich manch Arbeitsloser: "Zur Arbeit wär' mir lieber!"


 
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