© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/03 25. April 2003

 
Die Vorhölle der Werktätigen
Verarmung in den USA - Michael Schneider sieht in der durch den "Neoliberalismus" zerstörten Sozialstruktur den Beginn eines "Krieges aller gegen alle"
Matthias Bäkermann

Das Imperium Americum und der Kreuzzug gegen die 'Achse des Bösen'", titelt Michael Schneider, Professor für Drehbuch an der Filmakademie Baden-Württemberg seinen kritischen Rundumschlag gegen die Außenpolitik wie auch gegen die soziale Struktur der USA in den Gewerkschaftlichen Monatsheften, GMH 3/2003.

Neben der Kritik am "imperialen Expansionskrieg", welcher in den USA durch die "psychologische Kriegsführung" gegenüber den Amerikanern als Verteidigungskrieg (gegen atomare und chemische Angriffe Saddam Husseins) gerechtfertigt wurde, einer völkerrechtswidrigen "Enteignung der Ölquellen und Rekolonialisierung", durch welche den Vereinigten Staaten "ein bislang nicht gekanntes ökonomisches und politisches Erpressungspotential erwachse, sieht Schneider vor allem im "aggresiven Neoliberalismus amerikanischer Machart" ein Schreckgespenst des sozialen Verfalls.

Bereits durch die "neoliberale Roßkur" unter Präsident Reagen sei für mehr als die Hälfte der Amerikaner ein "Abstieg ohne Ende" eingeleitet worden. Die durchschnittlichen Bruttolöhne für fast drei Viertel der Arbeitsbevölkerung fielen in der Clinton-Ära um 19 Prozent auf 258 Dollar pro Woche. Für das untere Drittel fiel der Lohnschwund mit 25 Prozent weniger als vor zwanzig Jahren noch drastischer aus. Die US-Mittelklasse, die in bescheidenem Rahmen vom Boom der neunziger Jahre profitierte, sei durch das Platzen der New-Economy-Blase "kalt erwischt" worden. Die private Alterssicherung von Millionen US-Bürgern, die meist durch Unternehmensaktien oder Pensionsfonds gedeckt gewesen ist, läßt diese nach den Konkursen vieler mittelständischer Unternehmen mit leeren Händen dastehen.

Neben dieser Verarmung ist es auch zur Verunsicherung in sämtlichen Lebensbereichen gekommen. 40 Millionen Amerikaner haben zum Beispiel keine Krankenversicherung. Durch den brutalen Sozialabbau, der durch die Bush-Administration noch forciert wird, sind immer breitere Schichten dazu gezwungen, zwei oder drei unterbezahlten Jobs nachzugehen und somit sechzig bis siebzig Stunden die Woche zu arbeiten. Urlaub, bezahlten gar, kennen sie nicht.

Das Wirtschaftssystem in den USA habe ein Klima geschaffen, das vom sozialdarwinistischen "struggle for life" beherrscht werde. "Dieser Neoliberalismus ist selbst eine Ideologie und Praxis des Krieges", so Schneider. Denn wenn das "Gesetz des Marktes" zum Naturzustand erklärt werde, stürze sich die Gesellschaft im hobbesschen Sinne in den wirtschaftlichen Überlebenskampf, in den "Krieg aller gegen alle". Und wo das tägliche Leben zu einer "war-zone" wird, da erscheine auch der wirkliche Krieg als unausweichliche Notwendigkeit, wie in der Studie "Entsichert. Krieg als Massenkultur des 21. Jahrhundert" von Tom Holert und Mark Terkessidis ausgeführt.

In den USA wird dieser Verfall in der exorbitant hohen Kriminalität deutlich - jährlich etwa 10.000 allein durch Schußwaffen Ermordete und mittlerweile zwei Millionen Gefängnisinsassen. Auch das öffentliche Schulsystem verfällt immer mehr, was dazu führt, daß 44 Millionen US-Bürger nicht imstande sind, Texte vom Niveau der vierten Schulklasse zu lesen, was sie zu faktischen Analphabeten mache. Ganze elf Prozent der Amerikaner lesen noch eine Tageszeitung. Darin sieht Schneider eine zunehmende Gefahr der Manipulierbarkeit der US-Bevölkerung.


 
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