© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/03 25. April 2003

 
Plädoyer für den Sozialstaat
von Eberhard Straub

Wer heute als reifende Nachruf persönlich keit in Deutschland am sausenden Webstuhl der Zeit sitzt, sieht sich in die Pflicht genommen, zu mahnen und zu warnen. Er darf nicht schweigen, das gehört zu seiner Verantwortung. Er muß Mängel und Defizite schonungslos beim Namen nennen, damit Deutschland weiterhin in der ersten Liga spielen kann. Wie einst Dada-Künstler fordern solche Verantwortungsträger die Abschaffung aller Mißstände. Also endlich freie Bahn den Leistungsträgern, den kreativen Potentialen, den Seiteneinsteigern, Querdenkern und Orientierungshelfern, um in europäischer Verantwortung die Zukunft Deutschlands gemeinsam mit seinen Nachbarn und Freunden zu gestalten. Unbürokratisch, einfallsreich und sensibel.

Radikaler Mut ist erforderlich, der Mut konstruktiven, weil konsequenten Handelns, ohne den es nicht gelingt, verkrustete Strukturen aufzubrechen, mehr Wettbewerb zu wagen, damit der Standort Deutschland attraktiver werde und Leistung sich wieder lohne. Es gilt, Signale zu setzen, die verstanden werden: So kann es ganz einfach nicht weitergehen. Überall, draußen im Lande, gibt es Trägheiten und Antriebsarmut, die Reformstaus erzeugen. Das muß endlich aufhören. Von der Erstarrung im Gewohnten befreit nur eins: die hochmotivierte Freude am Risiko. Sie muß dem lähmenden Denken in Besitzständen weichen. Raus aus der sozialen Hängematte - wer rastet, der rostet, wer wagt, gewinnt -, hinein in die Konkurrenz des freien Marktes!

An solche Redensarten sind wir seit bald zwanzig Jahren gewöhnt. Ununterbrochen geht ein Ruck durch irgendeinen Teil Deutschlands, der sich gerade fit für das dritte Jahrtausend macht, wo alte Zöpfe abgeschnitten und Zukunftsmodelle in systemübergreifenden Planungsarbeiten vorangetrieben werden. Es wird unermüdlich gebastelt, renoviert, reformiert, umgebaut, abgebaut, konzentriert oder dereguliert, um Menschen und Institutionen reif für den erlösendenen Wettbewerb auf dem freien Markt zu machen. Der Markt wird mit fast religiöser Inbrunst als der große Wohltäter gefeiert, der Ordnung stiftet, wo Unordnung sich breitmachte, der Impulse verleiht, wenn Routine in Stagnation übergeht. Man muß den Markt nur wirken lassen.

Eine Marktfrömmigkeit versetzt die von ihr Ergriffenen geradezu in Ekstase. Mit Engelszungen verkünden sie die frohe Botschaft vom Neuen Bund unter dem Zeichen der Konkurrenz, die Menschen und Völker versöhnt, sie zur Zusammenarbeit anleitet und allen dazu verhilft, sich in wechselseitigem Austausch dauernd friedlich zu ergänzen, im Vorteil des anderen den Nutzen für sich zu finden. Dann erübrigen sich auch Kriege, weil die Sachlichkeit wirtschaftlichen Denkens die Irrationalität des Machtstrebens endlich überwindet. Ein novus ordo saeculorum bricht an, eine neue Ordnung der Welt. Produzenten und Konsumenten erkennen im anderen ebenfalls Konsumenten und Produzenten. Der Gegensatz von Produzent und Konsument verschwindet. Auch der Produzierende verbraucht und verwertet, was andere herstellten. Auch er ist Verbraucher. Der Aufstieg vom Mensch zum Verbraucher ist unaufhaltsam. Im Sinne gesteigerter Bedürfnisbefriedigung erleben sich alle auf dieser bald einen Welt als Verbraucher. Es gibt keine Alterität mehr, nichts Fremdes. Der Markt und die sogenannte Marktwirtschaft ermöglichen eine Welt des Friedens als grenzenloses Einkaufsparadies. Der Staat, der immer dazu neigte, viel zu viel an sich zu reißen, lernt es, sich nahezu überflüssig zu machen. Er zieht sich möglichst aus allem zurück.

Er wird höchstens noch gebraucht, um als Schiedsrichter die gelbe Karte Marktverletzern zu zeigen oder sie unter Umständen vorübergehend vom Platz zu verweisen. Solche liebenswürdigen Niedlichkeiten werden seit dem späten 18. Jahrhundert in wechselnden Abständen vorgetragen, unerschüttert von Kriegen und den übrigen Ausbrüchen menschlicher Irrationalität. Dazu kam es ja nur, weil Unbefugte in die Freiheit des Marktes eingriffen, den Wettbewerb verzerrten, nach Monopolen strebten oder sich hinter Schutzzöllen verbarrikadierten. Der gestörte Markt muß unweigerlich zu Verhaltensstörungen unter den verunsicherten Verbrauchern zu führen. Eine Warnung mehr: Laßt nur den guten Markt wohl walten. Er erlöst von allem Übel. Der Markt ist gerecht. Vorübergehende Nachteile, die eben verdienterweise jene erfahren, die am Markt vorbeiproduzierten und handelten, gleicht er wieder aus. Seine Zauberhand rückt wieder ins Gleichgewicht, das störrische Unüberlegtheiten aus der Balance brachten. Auf dem freien Markt, im Wettbewerb kann auf die Dauer keiner verlieren. Keiner kommt zu kurz. Jedem wird das Seine zugesprochen.

Doch entgegen all dieser Verheißungen und wettbewerbsfroher Entzerrungen, Verschlankungen und Begradigungen, hat sich grundsätzlich nichts an der stereotypen Klage geändert, daß die Deutschen das Wagnis scheuen. Die Deutschen, das meint vor allen die deutschen Arbeiter, die es mit ihrem marktfernen, illusionären Anspruchsdenken der Wirtschaft schwermachen, sich im globalisierten Wettbewerb zu behaupten. Das wird seit bald zwei Jahrzehnten von händeringenden Unternehmervertretern beteuert. Dabei ist Westdeutschland und dann das wiedervereinigte Restdeutschland wie eh und je die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Erde und Exportweltmeister geblieben.

Die Unterstellung, die Deutschen hielten sich an die Devise von Wagners Fafner: "Ich lieg und besitz: / laßt mich" trifft weder auf Unternehmen zu, die sich offenbar geschickt an die wechselnden Herausforderungen anzupassen vermögen, noch auf die Arbeitnehmer. Denn gerade sie haben ihren Besitzstand gar nicht wahren können, weil viele unter ihnen "freigesetzt" wurden.

Selbst große, kapitalkräftige Unternehmen empfangen Subventionen und steuerliche Vorteile. Sie achten auf ihre Privilegien und suchen ihren Vorteil. Der Staat, ob Bund oder Länder, kommt ihnen beflissen entgegen, um deren internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, die der Markt, wie es ansonsten in Festreden heißt, ganz von selbst jeweils herstellt. Der Markt und seine Gesetze sind hingegen die magischen Beschwörungsformeln, um dem Mißgeschick des Hilflosen, des Lohnabhängigen, wenn entlassen, einen objektiven Sinn zu vermitteln.

Es sind keine unmittelbaren Interessenten, die ihn arbeitslos machen. Deutsche Unternehmen möchten gerne als gemeinnützige Einrichtungen verstanden werden. Aber, leider, der Markt, Gesetze, Prozesse, Konjunkturen, fast naturhafte Entwicklungen, machen es unumgänglich, verdiente Mitarbeiter um ihren Verdienst zu bringen.

Die Unternehmen, die durchaus Gewinne einfahren, werfen Ballast ab, trennen sich von unrentablen Kostenverursachern. Alle, die vorerst weiter verwertet werden, müssen es lernen, den Gürtel enger schrauben, ihre Ansprüche zurückschrauben, Privatinitiative für Altersvorsorge und Krankenversicherung entwickeln, statt an die Gesellschaft als eine Leistungsgesellschaft dauernd Forderungen zu richten. Dabei handelt es sich bei den Arbeitslosen meist gar nicht um Leistungsunwillige. Möchten gut ausgebildete "Freigesetzte" entsprechend ihren Fähigkeiten wieder beschäftigt werden, dann bekunden sie eben ärgerlichen Mangel an Flexibilität und Realismus.

Immerhin erkannte vor einem halben Jahrhundert Papst Pius XII., kein Wegweiser zur Bequemlichkeit, im Recht auf Arbeit ein christliches Grundrecht. Mehrmals erinnerte er an das Recht auf freie Berufswahl, das zur Persönlichkeitswürde oder zur Menschenwürde gehöre.

Der Zweck einer Nationalökonomie erfülle sich nicht im erbarmungslosen Spiel von Macht und Ohnmacht. Ihr Zweck liege vielmehr darin, die materiellen Grundlagen dafür zu schaffen, daß jeder seine menschliche Persönlichkeit wahren, entfalten und vervollkommnen kann. Das setzt freilich einen sittlich verankerten Begriff des Sozialen voraus, eine Vorstellung von einer sozialen Ordnung. Die Katholische Soziallehre wurde seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelt, gerade weil die Kirche grundsätzlich den liberalen Verheißungen mißtraute, der entfesselte Erwerbssinn werde bei unkontrolliertem Wettbewerb Freiheit und Gerechtigkeit sichern. Der kirchliche Versuch, den Sozialismus zu theologisieren, entspricht durchaus den Bemühungen deutscher Neoliberalen, die zusammen mit Ludwig Erhardt die soziale Marktwirtschaft nach dem Krieg ausbauten und neu begründeten. Wilhelm Röpke sprach nie vom Rohstoff Mensch oder dem Humankapital. Es erschien ihm zutiefst unsittlich, Arbeiter als Kostenfaktor oder liquide Biomasse zu betrachten. Für ihn als Humanisten und Christen war es ganz selbstverständlich, daß die Wirtschaft es mit Menschen zu tun hat.

Dem Menschen muß die Wirtschaft dienen und nicht der Mensch ihr zur Verwertung zur Verfügung stehen. Es gehört zu den Aufgaben einer gerechten Wirtschaft, wie er unablässig wiederholte, den Menschen als geistige und moralische Größe zu behandeln, immer all die Beziehungen im Auge, die den eigentlichen Sinne des Lebens und die Voraussetzung des menschlichen Glückes ausmachen. Die Katholische Soziallehre meint nichts anderes. Das Grundgesetz steht mit solchen Überlegungen im Zusammenhang, und nicht zuletzt mit dem sozialistischen Erbe, wenn es eindringlich an die Sozialpflichtigkeit des Eigentums erinnert.

Viele Traditionen vereinten sich, um den Staat, in dem wir heute leben, nicht nur als Rechtsstaat einzurichten, der die bürgerlichen Freiheiten schützt. Er sollte ebenfalls ein Sozialstaates ein, um den Schwachen zu schützen, um Benachteiligten die Möglichkeiten einzuräumen, sich im Sinne einer freien Menschenwürde zu entfalten, zu bilden, zu vervollkommnen. All jene, die dauernd an Markt, Leistung und Wettbewerb erinnern, sprechen kaum von Ordnung von Gerechtigkeit. Die ergibt sich nach ihren Erwartungen bei freiem Marktverkehr aus diesem fast naturhaft. Der Staat, der im Sozialstaat als tätiger Regulator des Marktgeschehens gedacht wird, muß für sie unweigerlich als Hemmnis oder Ärgernis gelten. Die Marktideologie wendet sich gegen eine soziale Marktwirtschaft und den Sozialstaat.

Mit dem Sozialstaat im modernen Verständnis hatte Bismarck begonnen, durchaus in der Absicht, daß der Schwache, der Arme, den Staat nicht allein als nützliche Anstalt, sondern eben auch als wohltätige erleben solle. Die Widerrede der Industrie und staatssozialistische Experimente belasteten sie so sehr, daß sie im globalen Wettbewerb nicht mehr mithalten könnten, vermochten den Reichskanzler nicht zu beirren. Schließlich schickte sich damals das Reich dazu an, die zweitstärkste Exportnation zu werden, was Deutschland bis heute geblieben ist. Man durfte der Wirtschaft schon einiges zumuten. Die allmähliche Auflösung des Sozialstaates berührt, unabhängig von ökonomischen Fragen, aber vor allem unmittelbar das Funktionieren der Demokratie. Millionen von Arbeitslosen, darunter zu erheblichem Teil hochqualifizierte, geraten, je länger sie aus dem Berufsleben abgedrängt sind, desto nachdrücklicher, in Abhängigkeit und Unfreiheit. Wer auf staatliche Hilfe angewiesen ist, gerät vielleicht nicht ins Elend. Aber er ist nicht mehr frei. Die Grundvoraussetzung, eine auch demokratisch begründete Menschenwürde zu wahren, entfällt. Freiheit beschränkt sich nicht auf die Teilnahme an öffentlichen Abstimmungen wie Wahlen. Unser Begriff von Menschenrecht und Menschenwürde ist mit materiellen Bedingungen verbunden. Freiheit der Arbeit, vielleicht ein Recht auf Arbeit, das Bismarck als selbstverständlich erachtete. Ein gerechter Lohn, der erlaubt, womöglich ein bescheidenes Privateigentum zu ersparen und damit Unabhängigkeit zu gewinnen, sich frei zu bewegen, zu reisen, sich zu bilden.

Wer auf Unterstützung angewiesen ist, wird aus den Zusammenhängen der demokratischen Chancengleichheit ausgegliedert. Das trifft sofort auch seine Kinder. Ein lange arbeitsloses Ehepaar, und das gehört heute nicht mehr zu Ausnahmen, kann beim besten Willen dem Kinde oder den Kindern nicht die Förderung zukommen lassen, die sie unter Umständen noch erfuhren. Die Klavierstunde, ein Sprachkurs, Mitarbeit in den unterschiedlichsten Gruppen und Kreisen, kosten Geld. Die Möglichkeiten sind von vornherein beschränkt, dem Kind dazu zu verhelfen, sich gemäß seiner Talente zu entwickeln.

Zur demokratischen Freiheit gehört das Recht auf aktive Mitbestimung in Gremien, in Parteien oder in gemeinnützigen Vereinigungen. Für einen Arbeitslosen ist es fast aussichtslos, auf diese Art von seinen demokratischen Rechten und Freiheiten Gebrauch zu machen. Vor allem ist er, wie der Bauer im Mittelalter, an die Scholle gebunden, an den Ort, wo er arbeitslos, ständig erreichbar unter offizieller Kontrolle leben muß.

Sind einmal erhebliche Teile der Gesellschaft marginalisiert, Ausländer ohnehin, Arbeitslose, Rentner, die unter oder dicht an der Armutsgrenze leben, dann gefährdet das die Funktionstüchtigkeit der Demokratie. Sie nähert sich - vielleicht unweigerlich im Zeichen eines reinen Wirtschaftliberalismus - dem bourgeoisen Klassenstaat vor 1871, in dem nur die Reichen am politischen Leben teilnehmen konnten und nur der Bourgeois sich auch als Citoyen zu bewähren vermochte. Daß demokratische Mitbestimmung allen ermöglicht wurde, ist eine Errungenschaft.

An erkämpften Errungenschaften festzuhalten, bestätigt nicht eklatant träges Besitzstanddenken. Die Demokratisierung und Entproletarisierung der bourgeois-liberalen Gesellschaft war eine Leistung, sie ist unmittelbar mit dem Ausbau des Sozialstaates verknüpft unter der Idee sozialer Gerechtigkeit.

Von sozialer Gerechtigkeit wird höchstens noch mit einer gewissen Verlegenheit gesprochen. Wer unverhohlen an sie erinnert, gibt sich als Sozialromantiker, unverbesserlicher Umverteiler, sozialistischer Gleichmacher, überhaupt als Schädling zu erkennen. Eine Wirtschaft, die nicht ihre politischen und sozialen Folgen bedenkt, die sich von jeder auch sie verpflichtenden Ordnung emanzipiert, darf man durchaus als kapitalistisch charakterisieren. Der junge Karl Marx schilderte wie die liberale, gewinnorientierte Bourgeoisie alles in dem "eiskalten Wasser der Berechnung" ertränkte. "Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen, verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt." Der entfesselte Liberalismus mit seinen Egoismen führte alles, endlich selbst die Familie, auf reine Geldverhältnisse zurück. Es hat die kontinentalen Europäer, nicht nur die Deutschen, einige Anstrengungen gekostet, diese Schäden eines ungeordneten Liberalismus zu beseitigen. Wie es einmal Georges Bidault sagte, ein kluger Politiker vor der Ära de Gaulles: Von der Mitte aus regierend, um mit rechten Methoden die Politik der Linken zu machen. Darin lag das Geheimnis des Sozialstaates. Es kann nicht darum gehen, freie Bahn allein dem Tüchtigen zu gewähren. Freie Bahn jedem einzelnen, das war und ist das Versprechen der Demokratie und des Sozialstaates. Wer den Sozialstaat verteidigt, dem ist nicht Mangel an Phantasie vorzuwerfen.

Er kann höchstens getadelt werden, zu nachgiebig, zu schüchtern für eine politische Ordnung einzutreten, die sich bewährte. Der Sozialstaat ist die politische Form, in der im alten Europa Menschenrecht, Menschenwürde und demokratische Mitbestimmung zu ihrem freien Ausdruck fanden. Die allmähliche Demontage des Sozialstaates führt zur Reproletarisierung und zurück zur vordemokratischen Klassengesellschaft. Der hemmungslose Erwerbsliberalismus schuf Unordnung. Es wäre an der Zeit, wieder Mut zu fassen. Das heißt, dem Staat zu vertrauen, einer europäischen Ordnungspolitik, die den Wettbewerb, einen längst irrationalen Markt, wieder einer allgemeinen politischen Vernunft unterwirft. Wie der Krieg ist auch der Markt der Politik untergeordnet. Das muß man Soldaten immer wieder sagen. Nicht minder Ökonomen, um sie zur Ordnung zu rufen.

 

Dr. habil. Eberhard Straub ist freier Journalist und Historiker. Zuletzt erschienen von ihm im Siedler Verlag, Berlin, die Bücher "Albert Ballin - der Reeder des Kaisers" und "Eine kleine preußische Geschichte".


 
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