© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/03 09. Mai 2003

 
Die Scheidung ist unvermeidlich
Geopolitik: Europa muß sich im nächsten Jahrhundert freundlich von den USA emanzipieren und ein neues Balancesystem etablieren
Eberhard Straub

Der Aufstieg der USA zur größten unter den Weltmächten ist das erstaunlichste politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Phänomen unserer Tage." Das meinte der Engländer W. T. Stead 1902 in seinem Essay "The Americanisation of the World. The trend of the twentieth century". Seinen Landsleuten riet er, darin eine erfreuliche Entwicklung zu erkennen. Denn die USA setzten nur die Mission fort, die von der Vorsehung der "englischsprechenden Rasse" auferlegt wurde: den Frieden in der Welt zu sichern. Was immer die USA tun werden, "all goes to the credit of the family".

Menschen in Paris, Berlin, Petersburg, Wien oder Rom redeten um die Jahrhundertwende ängstlich von einem wirtschaftlichen, sich zu einer politischen Einheit erweiternden Europa, um eine Vorherrschaft der USA zu verhindern. "Europa den Europäern", riefen sie erregt. Aber die "anti-amerikanischen Paneuropäer" würden nichts ausrichten. Dessen war sich Stead sicher. Die Amerikanisierung ist ein naturgesetzlicher Vorgang. Wer sich ihr widersetzt, handelt unvernünftig, verletzt die Natur. W. T. Stead versuchte deshalb, ganz vernünftig zu sein.

Mit dem Sieg über Spanien 1898 begann ein neuer Abschnitt der Imperialisierung der USA. Bislang dehnten sich die USA nur in Amerika aus, verdrängten die Indianer oder zwangen Mexiko zu weiträumigen Abtretungen. 1898 "befreiten" die US-Amerikaner die spanischen Philippinischen Inseln. Die Befreiten rebellierten sofort gegen die Besatzer und mußten mit recht drastischen Methoden befriedet werden. Die USA besaßen auf einmal Kolonien. Hawai wurde ebenfalls, weil der US-Amerikaner einfach Aufgaben übernehmen muß, beiläufig annektiert. Der Pazifik als Einflußsphäre war endgültig gesichert und das ehemals spanische Amerika mehr oder weniger spürbar einer Oberaufsicht aus dem Norden unterworfen. Kein Wunder, daß W. T. Stead die heftigsten Anti-Amerikaner unter den Ibero-Amerikanern ausmachte.

Die USA schätzen sich als unentbehrliche Nation ein

Die nächste Aufgabe der "Großen Republik des Westens" erkannte er in der Befreiung des Nahen Ostens, dieser wilden Gegend eines unberechenbaren religiös-politischen Fanatismus. Gerade christlich-fromme Frauen in der "unverwundbaren Festung" USA müßten für Kriege gegen den Islam zu begeistern sein. Ginge es doch darum, deren unter männlicher Despotie schmachtende Schwestern zu befreien. Die USA erfüllten, wie er frohgemut erwartete, als treibende Kraft den alten angelsächsischen Traum: im zerrütteten Orient Wohlstand und Frieden dauerhaft zu begründen, ihn zu einem Garten Gottes, zum Garten Eden auszubauen.

Das alles klingt ungemein vertraut. Hundert Jahre später, in unseren Tagen, wird wieder die Amerikanisierung beschworen. Freihandel, uneingeschränkter Wettbewerb rund um den Globus und die "weichen Mächte" der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie sollen der Hypermacht dazu verhelfen, sich in ihrer Einzigartigkeit erhalten zu können. Nach eigener Einschätzung sind die USA mittlerweile die unentbehrliche Nation. Sie dürfen Gewalt anwenden, wann immer es ihnen angebracht erscheint. Eben weil sie unentbehrlich sind. Das verkündete schon vor Jahren Madeleine Albright. Denn die unentbehrliche, große Nation mit ihrem durchdringenden Weitblick weiß, wann die Waffen reden müssen. Gerade das macht sie so unentbehrlich. Die Argumentation dreht sich im Kreise.

Auf jeden Fall wollen die USA keinen Widerspruch gegen ihren imperialen Rang dulden, damit das 21. Jahrhundert tatsächlich zum Jahrhundert Amerikas werde. Im Zwanzigsten Jahrhundert hatte es genug Versuche von Schurken und anderen Europäern gegeben, die Macht der Vereinigten Staaten in Grenzen zu halten. Der Kommunismus und die Sowjetunion blieben nach 1945 für Jahrzehnte eine eindrucksvolle Gegenmacht mit universaler Anziehungskraft. Vor allem in den ehemaligen Kolonien der europäischen Mächte, die in der Amerikanisierung nur eine anders motivierte Kolonisierung fürchteten.

Westeuropäer nahmen die Hilfe und den Schutz der USA in Anspruch, um mit deren Macht ihr Dasein vor der sowjetischen Bedrohung zu sichern. Sie taten es aus Notwendigkeit. Die atlantische Allianz war ein Zweckbündnis. Sie erübrige sich sofort, wie der französische Politologe Raymon Aron (1905-1983) kühl zu bedenken gab, sobald die Gefahr verschwunden sei, die zu dem Bündnis nötigte. Die Nato bewährte sich als Interessengemeinschaft. Auch die USA begriffen, daß ihre Sicherheit in Europa verteidigt wurde. Ein besonderer atlantischer Enthusiasmus, etwa gemeinsam eine Wertegemeinschaft zu bilden, lag allen Beteiligten fern. Die bitteren Umstände europäischer Schwäche ließen gar keine andere Wahl.

Sämtliche Bemühungen im Zuge des jeweils nationalen wirtschaftlichen Aufbaus und der zunehmenden europäischen Verflechtung galten allerdings dem Zweck, Europa dazu zu verhelfen, aus eigener Kraft selbständig aufzutreten, sich aus der Abhängigkeit von den USA zu lösen, um frei und gleichberechtigt im Bündnis handeln zu können. Die USA wahrten lange erstaunlich viel Takt im Umgang mit den Europäern. Sie konnten sich, unmittelbar am Eisernen Vorhang, gar keine ernsthaften Verstimmungen leisten. Sie hielten sich deshalb auch sehr zurück, die Europäer in demokratisierender oder amerikanisierender Absicht zu bevormunden. Der abermalige Aufbau einer Demokratie in Deutschland wurde den Deutschen selber überlassen. Es gab genug Politiker der Weimarer Zeit, auf die zurückgegriffen werden konnte.

Die gröbste Beschimpfung, die Adenauer erfahren mußte, war Kurt Schuhmachers Vorwurf, "der Kanzler der Alliierten zu sein". Adenauer fühlte sich schwer beleidigt. Gerade das wollte er nicht sein. Einer bewußten Amerikanisierung Europas enthielten sich die USA klugerweise. Sie erachteten es als bekömmlicher, es den Europäern zu überlassen, an ihre je eigenen freiheitlichen, auch demokratische Traditionen anzuknüpfen. Für die USA ganz sonderbare Bestrebungen wie Christliche Demokratie oder fast verdächtige wie Sozialdemokratismus konnten sich zwanglos entfalten. Die Christlich-Demokratische Bewegung wie die Sozialdemokratische gaben der westeuropäischen Demokratie im Sozialstaat einen Charakter, der sie von der US-amerikanischen nach europäischen Vorstellungen vorteilhaft unterscheidet.

Europa von Gibraltar bis zum Ural auf sich stellen

Europa begrenzte auch die freie Marktwirtschaft auf eine soziale, die von den USA nie verstanden wurde. Die US-Amerikaner ließen die Europäer gewähren. Die sowjetische Konkurrenz legte es nahe, zuzugestehen, daß viele Wege zum guten Ziel führen, nicht allein der american way of life. Mit dem wurden die Europäer nach und nach vertraut. Einflüsse von Film, Mode, Schlager, auch der Literatur machten sich kräftiger bemerkbar als in der Vorkriegszeit. Aber sie bildeten nur ein Element in einem bunten und gar nicht leicht überschaubaren Angebot. Wie eh und je unterhielten oder bildeten sich die Europäer nämlich vorzugsweise miteinander und untereinander. Das taten sie nicht zuletzt, um Europa neben dem Markt auch einen geistigen Inhalt geben zu können.

Eine gewisse Skepsis gegenüber den USA war deshalb ganz selbstverständlich. Europa mußte unweigerlich seine Alterität, seine Andersartigkeit betonen, wenn es danach trachtete, wenigstens die Europäer untereinander in einer gemeinsamen Kultur zusammenzuhalten. Theodor Adorno, gleichsam der Staatsphilosoph der alten Bundesrepublik, verachtete als europäischer Bildungsbürger nichts so sehr wie Amerikanisierung, also Trivialisierung und Banausentum, im Reiche des Geschmackes und der Wissenschaften. "Antiamerikanismus" konnte unter solchen Voraussetzungen überhaupt kein Hinweis auf finstere, undankbare Umtriebe sein. Ein Europäer rüttelte nicht am unvermeidlichen Bündnis, legte er Wert auf geistige Eleganz und Unabhängigkeit in seinen Gedanken und Formulierungen. Das Pentagon wurde noch nicht als intellektuelle, gar spirituelle Autorität gewürdigt.

Paradoxerweise wurden amerikanische Einflüsse in der sich entwickelnden Jugendkultur auffällig, als die Jugend gegen den Vietnamkrieg protestierte und damit gegen die USA. Die "weiche Macht" der Musik, der Moden - die Jeans wurden jetzt obligatorisch -, der Kinobilder oder pazifischer Küstenverse ist mehr oder weniger neutral. Mit ihren Formen lassen sich spielerisch alle Inhalte verbinden. Außerdem war und blieb die Jugendkultur ein synkretistisches Gemisch aller möglichen Tendenzen: Lebensreform, sexuelle Befreiung, östliche Weisheit, indische Esoterik. Diese aufgrund ihrer Kommerzialisierung die Welt umspannende "Jugendbewegung" kann, wie sich gerade jetzt erst wieder zeigte, in Jeans, mit amerikanischen Parolen und Klängen gegen die USA demonstrieren. Die "soft power", die heute US-Ideologen als mögliches Mittel benutzen möchten, um der einzigen Weltmacht ihren imperialen Rang zu sichern, ist keine unbedingt zuverlässige Kraft.

Sie hat nie verhindert, daß in den Zeiten der Abhängigkeit der Wunsch lebendig blieb, doch einmal wieder Bewegungsfreiheit gewinnen zu können. Das war eine der Überlegungen bei der deutschen Ost-Politik, den Versuchen, das starre Blockdenken aufzuweichen, für Lockerungsübungen zugänglich zu machen. Willy Brandt befand sich damit durchaus in Übereinstimmung mit früheren Überlegungen de Gaulles.

Denn unter allen Politikern sprach General de Gaulle am deutlichsten in Zeiten militärischer Schutzbedürftigkeit davon, Europa endlich ganz auf sich zu stellen, in seiner großen Einheit von Gibraltar bis zum Ural. Er hoffte auf eine deutsche Wiedervereinigung in den heutigen Grenzen. Sie erschien ihm als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Europas und weiter hinaus, Westeurasiens. Ohne Rußland gab es für de Gaulle kein wahres Europa. Hat Rußland sich des Kommunismus entledigt, dann gibt es nur eines, sich mit ihm zu verständigen und die US-Amerikaner auf ihren Kontinent zurückzuschicken. Denn sie haben ihren Auftrag erfüllt, Westeuropa vor dem Kommunismus zu bewahren. Hat sich der Kommunismus erledigt, dann erledigt sich die Nato, und die Beziehungen zu der raumfremden Macht USA bedürfen einer neuen Interpretation.

Die Eurasier unter sich werden zu ihrer Ordnung finden, zu einer multipolaren, in der die USA ihren angemessenen, aber nicht bevorzugten Platz finden. Charles de Gaulle wußte wie Metternich oder Bismarck, daß Gefühle in der Politik fehl am Platze sind, vor allem sehr noble, wie Dankbarkeit. Staaten kennen nur eins: ihre wechselnden Interessen. Die müssen sie frei und selbständig koordinieren. De Gaulle hoffte auf ein freies Europa. Er machte nie einen Hehl daraus, daß Bündnisse wie Rosen und junge Mädchen ihre Zeit haben. Auch Allianzen verblühen. Und auch die Nato war nur für eine Zeit gedacht und hat ihre Zeit gehabt.

Westeurasien braucht keinen amerikanischen Schutz

Diese Zeit ist seit 1989 vorbei. Der Kommunismus ist zusammengebrochen. Rußland erneuert sich mittlerweile aus seinen Ruinen. Nichts ist jetzt so selbstverständlich wie die kontinentale Einigung, von Paris über Berlin nach Moskau. Nichts so notwendig. Es gibt keinen Feind mehr mitten in Europa. Die Europäische Union, die stärkste Wirschaftsmacht der Erde, braucht keine USA zu ihrem Schutz. Zusammen mit dem freien Rußland kann ein freies Europa als selbständige politische Einheit in den eurasischen Zusammenhängen des wiedervereinigten Westeurasien seine Angelegenheiten ohne Einspruch der USA ordnen. Die US-Amerikaner verkünden als ihre politische Devise seit der Monroe-Doktrin: Amerika den Amerikanern. Sie werden allerdings sehr unruhig, sobald Europäer sich zu ähnlichen Überzeugungen bekennen und zaghafte Versuche beginnen, sich zum Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte zusammenzuschließen.

Aus gutem Grund. Zbigniew Brzezinski, ein erfrischend klarer Imperialist, erläuterte schon vor Jahren, daß sich der wirtschaftliche und politische Schwerpunkt der Welt wieder nach Eurasien verlagert. Die USA können nur Weltmacht mit imperialem Rang bleiben, wenn sie als raumfremde Macht ihren Einfluß in Eurasien erweitern. Verlieren sie ihren Einfluß, dann allerdings geraten sie in Isolation und können von ihrer Insel aus dem Treiben in ROW, dem rest of the world, zuschauen. Verständlicherweise eine entsetzliche Vorstellung für einen klugen Imperialisten. Die schlimmste Möglichkeit vermag sich dieser ideenreiche politische Spieler allerdings gar nicht vorzustellen: daß sich Paris, Berlin und Moskau auf eine enge Zusammenarbeit verständigen.

Europa und die USA müssen sich freundlich scheiden

Die USA waren hilfreich und notwendig für die Europäer. Jetzt fangen sie allmählich an, unter vollständig veränderten Verhältnissen, ihnen lästig zu fallen. Die USA werden zunehmend nervöser im Umgang mit den Europäern und unberechenbarer. Die Pläne, jetzt das unbotmäßige Frankreich zu bestrafen, veranschaulichen, um die Europäer einzuschüchtern, daß Ungehorsam unweigerlich böse Folgen hat. Als dienstpflichtige Vasallen haben sich die Europäer freilich nie verstanden. Aber noch gelingt es den USA, die Europäer zu spalten.

Ein Kontinentalblock, den die USA fürchten, bietet den Europäern allerdings die Möglichkeit, sich endlich aus ihre Abhängigkeit lösen zu können. Die Nachkriegszeit des Kalten Krieges, die die USA verlängert hatten, um den Zerfall und die Einkreisung Rußlands voranzutreiben, läuft aus. Die Nato, die Idee einer atlantischen Gemeinschaft, verliert ihren Sinn. Zumindest ihren hergebrachten. Der US-Amerikaner Charles Kupchan empfiehlt Europäern und US-Amerikanern, sich freundlich zu scheiden, damit man unter neuen Bedingungen zu einem freundlichen Verhältnis findet. Die Scheidung ist unvermeidlich. Paris, Berlin, Moskau, das deutet auf eine künftige multipolare Ordnung, mit China, Japan und Indien, der sich die USA werden fügen müssen.

Die USA haben ihre ehemalige Funktion eingebüßt. Statt die Welt ununterbrochen zu beunruhigen, um ihre Unentbehrlichkeit zu demonstrieren, müssen sie lernen, sich in neue Balancesysteme einzuordnen, die sich allmählich entwickeln zum Vorteil der kollektiven Sicherheit. Eine "neue Welt" entsteht. Die USA können diese Entwicklung nur verzögern, aber nicht verhindern. Das 21. Jahrhundert wird sowenig wie das 20. ein amerikanisches Jahrhundert sein.

Foto: Vergoldete Freiheitsstatue von Frederice-Auguste Bartholdi in der südfranzösischen Stadt Saint Cyr sur Mer: Allianzen verblühen

 

Dr. Eberhard Straub ist habilitierter Historiker und lebt heute als freier Publizist und Schriftsteller in Berlin. Mit seinem Beitrag ergänzt er die in der JF geführte Debatte um die Neuordnung Europas. In dieser Reihe schrieben bisher Günter Zehm (JF 14/03), Lothar Höbelt (JF 15/03) und Alain de Benoist (JF 16/03).


 
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