© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/03 16. Mai 2003


Verfassung
Rütteln am Grundgesetz
Dieter Stein

Bis gestern noch war es ein Sakrileg in Deutschland, Hand an die Verfassung zu legen. Es gibt sogar in allen 16 Bundesländern und im Bund eigens eingerichtete Behörden, deren Aufgabe es ist, die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung zu schützen. Und nun das: Der Spiegel, der von seinem verstorbenen Herausgeber Rudolf Augstein einst zum "Sturmgeschütz der Demokratie" ernannt worden war, bläst zur Attacke auf eben dieses Grundgesetz.

Die aktuelle Titelseite ist geschmückt mit einem vergilbten Buch mit Goldschnitt, dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Auf dieser Kladde klebt ein brennender Kerzenstummel. Das Wachs des bald verlöschenden Lichtleins hat sich über einen Teil des Einbandes ergossen und bildet die Umrisse des vereinigten Deutschland. Darüber prangt die verächtliche Schlagzeile: "Die verstaubte Verfassung", ergänzt am unteren Rand der Titelseite durch den Satz "Wie das Grundgesetz Reformen blockiert".

Wenn die Düsseldorfer Schlapphüte nicht allein schon beim Spiegel-Titel alarmiert sind, dann spätestens beim Inhalt. Dort wird Deutschland für "unregierbar" erklärt, die Ursache dafür sei: "Dieser Oldie, der am 23. Mai 54 Jahre alt wird", dieses "Provisorium des 'Weststaates' der Alliierten", die Verfassung. Selbst amtierende Verfassungsrichter hielten das Gründungsdokument der Bundesrepublik für stark reparaturbedürftig, so das Blatt. Der Spiegel resümiert genüßlich:

"Heulen und Zähneklappern bei den Verfassungspatrioten der Republik. Der Stolz der Deutschen seit mehr als einem halben Jahrhundert wird nun von Juristen, Politikexperten und Wirtschaftsführern, von Rechten wie Linken zur Disposition gestellt. Das Provisorium aus der Nachkriegszeit, so die von der offiziellen Politik noch unter dem Tisch gehaltene Diagnose, taugt nicht zum Regieren." Doch die Verfassung sei nicht erst seit heute ein Bremsklotz, sondern "schon von seinen Vätern verdorben worden".

Und frisch werden tiefgreifende Änderungen gefordert: Die Direktwahl des Bundespräsidenten und weiterer "wichtiger Ämter" durch das Volk, damit die Politiker "unabhängiger" werden, die "Abschaffung des Bundesrates", die Neugliederung der Länder, mit Plebisziten sollen Gesetzesbeschlüsse des Parlaments erzwungen oder rückgängig gemacht werden, die Macht der Parteien soll zurückgestutzt, der Einfluß von Gewerkschaften, Interessenverbänden eingeschränkt werden, der Handlungsspielraum für die Regierung größer werden.

Viele dieser Forderungen, insbesondere nach Zurückdrängen der Parteien und Stärkung der direkten Demokratie, sind in dieser Zeitung seit Jahren diskutiert worden. Man hat uns dafür "antidemokratisches Denken" vorgehalten. Es ist erfreulich zu sehen, daß Deutschland offenbar inzwischen reif ist für eine Verfassungsreform-Debatte auf breiter öffentlicher Basis, ohne daß die Verteidiger der Erbhöfe der Parteien diese mit dem Vorwurf der "Verfassungsfeindlichkeit" gleich wieder abwürgen könnten. Dann laßt uns mal streiten!


 
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