© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/03 30. Mai 2003

 
Wir brauchen eine Länderreform
von Ulrich Penski

Sieht sich die deutsche Politik vor Schwierigkeiten gestellt, so gerät immer auch die föderative Ordnung der Bundesrepublik in den Blick. Die zu bewältigenden Aufgaben müssen entweder unter den Bedingungen dieser Ordnung aufgegriffen werden, oder sie sind durch sie bedingt. Bedenkliche Entwicklungen im staatspolitischen Geschehen werden nicht zuletzt auf bestimmte Strukturen des Föderalismus zurückgeführt. Parteipolitische Belastungen durch häufige Landtagswahlen während der Legislaturperiode des Bundestages verdanken sich bundesstaatlichen Gegebenheiten. Zu ihrer Milderung schlug deshalb der Bundeskanzler vor, Landtagswahlen zusammenzulegen. Der festgestellte Bedeutungsverlust der parlamentarischen Gesetzgebung wurde jüngst vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts der Entwicklung des deutschen Bundesstaates zu einer "unitarisch-kooperativen Staatsform" angelastet. Zeigen sich weiter Mängel im Bildungsbereich, wird einerseits die bildungspolitische Länderhoheit beklagt, andererseits die bestehende gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern in Frage gestellt. Laufend - und nicht nur bei leeren Kassen - stellt sich das Problem der Finanzierung staatlicher Aufgaben, die zwischen Bund und Ländern aufgeteilt sind. Bund und Länder sowie die Länder untereinander, arme und reiche, feilschen um den angemessenen Ausgleich sowie um die Verteilung von Bundeszuschüssen.

Bei allem freilich steht die föderative Ordnung als solche, die Bundesstaatlichkeit, nicht in Frage. Sie ist auch verfassungsrechtlich nach Art. 79 III GG festgeschrieben und könnte damit allenfalls bei Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung aufgegeben werden. Selbst eine neue Verfassung aber würde höchstwahrscheinlich das föderative System beibehalten. Es hat in Deutschland eine lange politische Tradition, über die sich kaum eine politische Kraft hinwegsetzen würde, wenn sie nicht gerade totalitäre Ziele verfolgte. Steht also die föderative Ordnung als solche nicht in Frage, so muß doch die Überlegung erlaubt sein, ob sie nicht einer Veränderung von Strukturen und Gliederungen bedarf.

Eine föderative Ordnung lebt grundsätzlich auch von der Selbständigkeit und Eigenheit ihrer Glieder. Sie hat ihren wesentlichen Sinn darin, diese zu erhalten und zu fördern und gleichwohl eine politische Einheit zu begründen. Schon vor der Wiedervereinigung ist die föderative Ordnung der Bundesrepublik als unitarisch gekennzeichnet worden. Tatsächlich hat der Bund als Gesamtstaat insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse die Länder vielfach aus dem Bereich der beiden zustehenden Gesetzgebungszuständigkeiten, das heißt der konkurrierenden Gesetzgebung, verdrängt. Da die Länder weitgehend auch die Bundesgesetze durchführen, geht die gesetzgeberisch unitarische Ordnung mit einem Vollzugsföderalismus einher. Überspitzt gesagt: Die Länder verwandeln sich dabei in regionale Verwaltungsorganisationen des Bundes.

Auch in den Bereichen, die in die Zuständigkeit der Länder fallen, ist eine Vereinheitlichung durch Kooperation der Länder betrieben worden. Diese Entwicklungen zu einem unitarischen Bundesstaat sind auch nach der Wiedervereinigung insofern verstärkt worden, als die neuen Bundesländer auf unmittelbare finanzielle Unterstützung durch den Bund und durch die sonstigen Hilfen der alten Länder angewiesen sind. Auch wenn sie seit 1995 in das Regelsystem des bundesstaatlichen Finanzausgleichs aufgenommen wurden, bleibt noch eine erhebliche Abhängigkeit von Bundeszuweisungen erhalten. Damit aber sind zwei Sachverhalte angesprochen worden, die dem Sinn einer föderativen Ordnung zuwiderlaufen und eine Veränderung nahelegen.

Erweist sich auf der einen Seite ihre starke Unitarisierung als bedenklich, wird dem Föderalismus auf der anderen Seite vorgehalten, daß er langwierige Entscheidungsverfahren bedinge und insofern eine politische Schwerfälligkeit zeige. Nicht zuletzt im Bildungsbereich wird eine Unübersichtlichkeit und Zersplitterung beklagt. In der parteipolitischen Auseinandersetzung wird die Häufigkeit von Landtagswahlen zwischen den Bundestagswahlen als Störfaktor empfunden.

Um einer Unitarisierung entgegenzuwirken, wird vorgeschlagen, die Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu stärken und die gesetzgeberischen Rahmenkompetenzen des Bundes zu beschneiden. Ein dahingehender Versuch ist mit einer Änderung des Artikels 72 des Grundgesetzes unternommen worden. Dabei sind strengere Voraussetzungen für die Gesetzgebung des Bundes in Konkurrenz mit den Ländern festgesetzt worden, und bei Wegfall dieser Voraussetzungen wurde ein Aufleben der Länderkompetenzen vorgesehen. Eine Stärkung der Gesetzgebungskompetenzen hat jedoch wenig Sinn, wenn die Länder nicht "stark" genug sind, solche Kompetenzen auch auszuschöpfen. Leistungsfähige Länder sind in einer föderativen Ordnung allgemein Voraussetzung dafür, daß die ihnen zukommenden staatlichen Aufgaben erfolgreich wahrgenommen werden. Die finanzielle Solidarität zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten sowie zwischen diesen untereinander wird gefährdet oder führt zu systemwidrigen Abhängigkeiten, wenn die Gliedstaaten sich in ihrer Leistungsfähigkeit in großem Maße unterscheiden.

Tatsächlich gibt es mehr als die Hälfte sogenannter Nehmerländer, denen die Geberländer zum Teil mehr als die Hälfte der über dem Bundesdurchschnitt liegenden Einnahmen als Ausgleichszahlung zur Verfügung stellen müssen. Soll also der aufgezeigten Entwicklung begegnet werden, drängt sich als Mittel letztlich eine Neugliederung der Bundesländer und des Bundesgebietes auf mit dem Ziel, leistungsstärkere Ländereinheiten zu schaffen und insgesamt die Anzahl der Länder zu verringern. Eine solche Neugliederung würde im übrigen auch Abstimmungs- und Entscheidungswege verkürzen und die beklagte Unübersichtlichkeit in manchen Aufgabenbereichen zumindest eingrenzen; abgesehen von einer Verringerung der Verwaltungsapparate.

Die 1970 eingesetzte sogenannte Ernst-Kommission hat bis 1972 einen Neugliederungsvorschlag erarbeitet. Er sah vor, aus den norddeutschen Ländern ein oder höchstens zwei Länder zu bilden sowie in der Mitte Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland zusammenzulegen. Damit hätte sich die Anzahl der Länder auf fünf bzw. sechs verringert. Dieser Vorschlag ist aber wegen politischer Besitzstände nicht verwirklicht worden. Vielmehr ist der Neugliederungsauftrag von Art. 29 GG in eine bloße Neugliederungsmöglichkeit umgewandelt worden, wovon freilich kein Gebrauch gemacht wurde. Durch die Wiedervereinigung 1990 wurde nun die Bundesrepublik ein Bundesstaat mit 16 Bundesländern. Mit Ausnahme von Sachsen, das 4,5 Millionen Einwohner zählt, kommen die anderen neuen Länder, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen, nicht über drei Millionen Einwohner hinaus. Die Anzahl kleinerer Länder hat sich damit erheblich erhöht. Im Hinblick auf die allgemeine Maßgabe für eine Neugliederung nach Art. 29 GG, Länder zu schaffen, die "nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben noch wirksam erfüllen können", spricht der aufgezeigte Sachverhalt für die Erforderlichkeit einer Neugliederung. Die gleichzeitig in Art. 29 GG geforderte Berücksichtigung der "landsmannschaftlichen Verbundenheit", der "geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge", der "wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit", sowie der "Erfordernisse der Raumordnung und Landesplanung" spricht nicht dagegen.

Die Gesichtspunkte der Größe und Leistungsfähigkeit der Länder bei einer Neugliederung können nicht als bloße ökonomische und betriebswirtschaftliche Sicht gegenüber der politisch-historischen abgewertet werden. Vielmehr müssen sich beide Maßgaben ergänzen und verbinden. Eine politische Einheit, die aus historischen, landsmannschaftlichen und sozialen Gründen bei der Bevölkerung legitimiert ist, kann diese Legitimation nicht auf Dauer erhalten, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre staatlichen Aufgaben auch in ökonomischer Hinsicht zu erfüllen. Auf den Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit im Zusammenhang mit Größe läßt sich deshalb nicht verzichten. Diese Maßgabe hat in dreierlei Beziehung Bedeutung: 1. Sie verspricht die Bewahrung der Selbständigkeit der einzelnen Länder gegenüber dem Gesamtstaat. 2. Sie schafft die Voraussetzungen für ein ausgewogenes Verhältnis der Länder untereinander. 3. Schließlich kann sie gewährleisten, daß die Länder auch im Rahmen der Europäischen Union ihr Gewicht erhalten und geltend machen können.

Berücksichtigt man die angeführten Maßgaben, legt sich eine Neugliederung und Verringerung der Länder sowohl im alten Bereich der Bundesrepublik wie auch im Gebiet der neuen Bundesländer nahe. Dabei wären auch Lösungen miteinzubeziehen, die beide Bereiche übergreifen. Für das Gebiet der alten Bundesrepublik kann im wesentlichen auf die Vorschläge der Ernst-Kommission zurückgegriffen werden. Danach kommt als weitgehend unumstritten eine Zusammenlegung der Länder Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland in Betracht. Im Norden ließe sich die Zwei-Länder-Lösung dadurch ergänzen, daß das aus Hamburg und Schleswig-Holstein zu bildende Land noch mit Mecklenburg verbunden wird. Dies entspräche dem Erfordernis größerer Einheiten, gleichzeitig würden aber auch historische Verklammerungen und landschaftliche Zusammenhänge berücksichtigt werden. Daß sich im Gebiet der neuen Länder Berlin und Brandenburg zusammenschließen sollten, ergibt sich schon aus der Regelung des Art. 118 a GG, die auf eine solche Verbindung abzielt.

Historische Gründe sind in der Diskussion bereits dafür geltend gemacht worden, dieses Land um den nördlichen Teil Sachsen-Anhalts zu erweitern. Gewichtig sind auch Vorschläge, wegen der gemeinsamen preußischen Vergangenheit Vorpommern in dieses Gebiet miteinzubeziehen. Damit würde eine nach Größe und Leistungsfähigkeit beachtliche Einheit geschaffen, die sowohl historisch begründet ist als auch einen zusammenhängenden Landschaftsraum darstellt. Schließlich wäre ein Land Sachsen-Thüringen zu bilden. Trotz mancher Unterschiede könnte ein solches Land auf vielfältige historische Gemeinsamkeiten zurückgreifen, von der Sprachverwandtschaft noch ganz abgesehen. Der südliche Teil von Sachsen-Anhalt sollte hier einbezogen werden. Das Land würde damit aufgelöst. Im übrigen sollten ausgleichende Umgliederungen von Teilen der größten Länder Bayern (zum Beispiel Aschaffenburger Raum) und Nordrhein-Westfalen (Ostwestfälischer Raum) trotz politischer Widerstände nicht ausgeschlossen werden. Dafür gäbe es ökonomische wie historische Gründe.

Danach würde sich eine Gliederung der Bundesrepublik in acht Länder ergeben, deren Bevölkerungszahl zwischen sechs und sechzehn Millionen läge. Damit wären ausgeglichene Ländergrößen geschaffen, die gleichwohl noch deutliche Unterschiede enthalten. Denn diese gehören zu einer föderativen Ordnung. Größere und in ihrer Größe ausgeglichene Länder sprechen grundsätzlich für eine größere und angeglichene Leistungsfähigkeit. Dabei soll die Sondersituation der neuen Länder hier unberücksichtigt bleiben.

Die Erkenntnis vom Erfordernis einer föderativen Neugliederung verbürgt keineswegs ihre Verwirklichung. Artikel 29 GG enthält auch keinen verbindlichen Verfassungsauftrag. Auch wenn sie in der politischen Öffentlichkeit Zustimmung findet und von hochrangigen Politikern befürwortet wird, läßt sie sich ohne verbindliche Grundlage kaum realisieren. Die politischen Beharrungskräfte stehen dem entgegen, sie haben sich in anderen Fällen selbst bei Vorliegen eines Verfassungsauftrages durchgesetzt. Es bleibt aber für eine Länderneugliederung nur der Weg über einen neuen Verfassungsauftrag . Dabei müßte er für bestimmte Gebiete konkretisiert werden.

Aus dem allgemeinen Grundsatz der Bundestreue läßt sich keine Verpflichtung der Länder zu Neugliederungsmaßnahmen herleiten, da er inhaltlich zu unbestimmt ist. Auch ein Verfassungsauftrag kann ignoriert werden, wenn seine Nichterfüllung keine Sanktionen nach sich zieht. Er müßte daher - wie bereits diskutiert wurde - mit einer Regelung verbunden werden, wonach die langjährig in einem hohen Maße finanzabhängigen Länder aus dem Finanzausgleich herausfallen, wenn sie sich einem möglichen Zusammenschluß verweigern. Vermutlich wäre eine solche Regelung wirksamer als eine Ermächtigung, in entsprechenden Fällen eine Neugliederung durch Bundesgesetz vorzunehmen. Dies würde auch den Grundsätzen einer föderativen Verbindung widerstreiten, die auf Einigung baut.

Der Weg zu einer Neugliederung ist sicherlich schwierig, aber möglich und notwendig. Er kann nur über einen Verfassungsauftrag gehen, in dem sich der gemeinsame politische Wille und das gemeinsame Ziel ausdrückt.

Bild: Guglielmo Sansoni Tato, "Ich pfeife drauf und steige in die Höhe" (1935): Steigende Stimmung ist eine Grundbedingung für den Erfolg

 

Ulrich Penski, Jahrgang 1934, lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Siegen. Er ist Mitverfasser von "Staat und Gesellschaft", 6. Auflage 1986.


 
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