© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/03 06. Juni 2003

 
"Wir wollen die Einheit!"
17. Juni 1953: Wolfgang Venohr marschierte vor 50 Jahren mit den Arbeitern von Siemens Plania / Es ging um mehr als Normerhöhungen
Wolfgang Venohr

Der 17. Juni 1953 wurde zu einem der bewegendsten Tage meines Lebens. Ich marschierte an der Spitze von "S.A.G. Siemens-Plania" (S.A.G. = Sowjetische Aktien-Gesellschaft) über die Stalinallee, den Alexanderplatz und die Straße Unter den Linden bis zum "Haus der Ministerien" an der Ecke Wilhelm-/Leipziger Straße. Das Erlebnis der fünf Stunden von 8.00 bis 13.00 Uhr habe ich in einer Reportage festgehalten, die von der Realpolitik und sieben westdeutschen Tageszeitungen publiziert wurde:

"Es ist der 17. Juni 1953 morgens 8.00 Uhr. Ich stehe bei strömendem Regen auf der Stalinallee. Ich schlage meinen Mantelkragen hoch und starre in den trüben flimmernden Regenschleier. Gestern nachmittag - am 16. Juni - hat mich die Nachricht von den Demonstrationen der Bauarbeiter der Stalinallee alarmiert. Ich fuhr in den Ostsektor und stand abends vor dem Friedrichstadt-Palast, während drinnen Grotewohl und Ulbricht vor dem Parteiaktiv der Berliner SED sprachen. Als die Funktionäre auf die Straße kamen, hörte ich Gesprächsfetzen. Die kleinen und mittleren Funktionäre waren durch und durch verbittert, daß die "Großen" die schwersten Fehler begangen hatten, die sie vor der Bevölkerung nun verantworten sollten. Als Grotewohl in der Versammlung erklärt hatte, man habe einen falschen Führerkult betrieben, der jetzt abgeschafft werden müßte, hatte einer der Funktionäre laut geschrien: "Welchen Pappkopp sollen wir denn nun nicht mehr tragen?" Sie schienen zu ahnen, daß ihnen furchtbare Stunden bevorstanden.

"Berliner, reiht Euch ein! Wir wollen keine Sklaven sein!"

Die lange Stalinallee ist so gut wie leer, alle Baustellen liegen stumm und verlassen. Da biegt aus der Möllendorfstraße mitten auf dem Fahrdamm ein grauer Zug Menschen in die Stalinallee ein. Sie marschieren unentwegt im Regen, in schlechtem Schuhwerk, in ihren blauen Monteur- und Arbeitsanzügen, ohne gleichen Tritt und viel Ordnung, in einem unaufhaltsamen schlürfenden Schritt. Es sind Arbeiter, technisches Personal, Frauen, Lehrlinge; alles ohne Unterschied durcheinandergewürfelt. Tatsächlich, es sind Elendsgestalten, jetzt sehe ich es selbst. Graue abgehärmte Gesichter, auf deren gespannter Haut der Regen den Schmutz verschmiert. Sie rauchen Zigaretten, in den Augen ist ein hektischer Glanz. Sie rufen, sie schreien im Chor:

Ich habe das Empfinden, daß mir das Herz im Halse schlägt.

Ich laufe an die Spitze des Zuges und frage, wer sie seien. "Siemens-Plania", kommt die Antwort. Die Arbeiter von Siemens-Plania. "Los, komm mit", fordern sie mich auf. Ich will nicht, ich bin doch West-Berliner. Darf ich mich hier einmischen? "Wir sind doch alle Deutsche und wollen die Einheit", sagt ein älterer Arbeiter vorwurfsvoll zu mir. Ich reihe mich ein und marschiere. Ich marschiere vorne an der Spitze von Siemens-Plania. Mir ist beklommen und sehr glücklich zumute. Ich stamme nicht aus der Arbeiterklasse, und ich habe das Gefühl, alle sehen mir das an. Aber niemand stößt sich daran. "Wir sind alle Deutsche", sagte jener Arbeiter. Ja, und jetzt sind wir alle Klassenkämpfer! Klassenkämpfer gegen eine kleine verräterische Kaste von Nutznießern am deutschen Zusammenbruch.

Es regnet nicht mehr, und wir sind jetzt in der Mitte der Stalinallee. "Die HO macht uns k.o." - "Grotewohl erzählt uns Kohl" - "Wir wollen freie Wahlen und keine DDR-Armee", grollt der Chor aus Tausenden von heiseren Kehlen gegen die kalten Prachtfassaden nach Moskauer Muster. Und immer wieder schreien wir - dieser Ruf wird von den Arbeitern mit einer fanatischen Leidenschaft ausgestoßen - "Es hat alles keinen Zweck, der Spitzbart (Ulbricht) muß weg!" Die Leute in den Fenstern der kleinen Häuser klatschen Beifall und lachen, die Geschäftsinhaber verhalten sich vorsichtig, die alten Damen am Straßenrand können sich vor Freude und Kopfnicken kaum lassen. Ein Vorarbeiter schreit in einer Telefonzelle in den Apparat: "Meister, wir streiken! Wir haben die Faxen dicke! Hör'n Sie mal: ich halte den Hörer raus ... Die Arbeiter marschieren!" Wie wild vor Empörung schreien die Menschen: "Der Spitzbart muß weg!" Der Zug wird immer länger. Von allen Seiten schließen die Berliner sich an. Nur aus den Prachtbauten kommt keiner. Dort stehen sie auf den Balkonen und schauen entsetzt auf die Lawine, die auf dem rechten Fahrdamm der Stalinallee heranrollt. SED-Genossen stehen fassungslos am Straßenrand, die Demonstranten schauen über sie hinweg.

Als in dem Fenster eines Hochhauses die rote Fahne erscheint, hört man Pfeifen und Johlen.

Da kommen uns plötzlich auf der linken Straßenseite dreiachsige sowjetische Schützenpanzerwagen entgegen. Die Mannschaften sitzen an den MG's oder pressen die Gewehre mit den aufgepflanzten Bajonetten zwischen die Beine. Vorne stehen die Kommandanten unbeweglich unter ihren olivgrünen Stahlhelmen. Ich rede auf die Arbeiter in der ersten Reihe ein. Ich beschwöre sie, durch den Zug die Parole zu geben, keinerlei Ausschreitungen gegen die Besatzungsmacht zu begehen und die Sowjets gar nicht zu beachten. "Wir kämpfen nicht gegen die Besatzungsmacht, das wäre aussichtslos. Unser Kampf gilt nur der SED. Heute noch muß die Regierung fallen." Die Leute im ersten Glied nicken. Ein Arbeiter mit einem alten zerbeulten Hut auf dem Kopf sagt: "Jawohl, nur gegen die SED und für freie gesamtdeutsche Wahlen!" Schnell wird die Parole nach hinten durchgegeben.

Jubelnde Demonstranten und schwarz-rot-goldene Fahnen

Als die Schützenpanzerwagen an uns vorbeifahren, tönt der Sprechchor: "Der Spitzbart muß weg!" Die Soldaten winken. Ein Riesengelächter antwortet ihnen, viele Leute winken zurück. Mir schnürt sich der Hals vor Aufregung zusammen: Ist der Augenblick da, in dem die Sowjets die SED fallen lassen? Ein Sowjetpanzer vom Typ T 44 rollt langsam auf uns zu, versperrt unserer Kolonne den Weg, schiebt sich dann zur Seite. Die Besatzung winkt. Da taucht das Stalindenkmal auf. Volkspolizisten ziehen sich in den Hintergrund zurück. Die Lehrlinge von Siemens-Plania wollen jetzt fordern: "Der Schnauzbart (Stalin) muß weg!" Ich habe mit ihnen schon Ärger gehabt, weil sie am liebsten den Sowjetpanzer umkippen wollten. Sie waren noch nie Soldaten. Jetzt rede ich auf sie ein, sich nicht um den toten Schnauzbart zu kümmern, der käme im wiedervereinigten Deutschland in ein Museum. Die älteren Arbeiter unterstützen mich, sie setzen sich durch.

Kurz vor der Leninallee steht in zwei Gliedern die Volkspolizei und sperrt den Weg. Die Vopos fassen sich unter, und hinter ihnen geben die Kommissare mit blassen Gesichtern und leiser Stimme Befehle. Jetzt kommt also der Zusammenprall. Aber ohne eine Sekunde Zeitverlust bricht Siemens-Plania die Sperrkette entzwei, marschiert zum Alexanderplatz und weiter zum Marx-Engels-Platz, dem ehemaligen Lustgarten. Lastkraftwagen mit jubelnden Demonstranten und schwarz-rot-goldenen Fahnen brausen an uns vorüber. Eine Armee von Arbeitern, Angestellten und Hausfrauen marschiert! Die Stadt hallt wider von massenweisen Sprechchören: "Wir wollen freie Wahlen!" und "Berliner, reiht Euch ein! Wir wollen alle Deutsche sein!"

Die Arbeiter fordern freie gesamtdeutsche Wahlen

Doch nun, auf dem Lustgarten, treffen die ersten Gruppen von West-Berlinern ein. Es sind fast alles Jugendliche, zum Teil mit Fahrrädern. Sie stimmen in die Sprechchöre ein, setzen aber auch die ersten HO-Kioske in Brand. Entgegenkommende sowjetische Schützenpanzerwagen werden mit Pfeifen, Zischen und Drohungen empfangen. Die Kommandanten haben erstarrte Gesichter, die Soldaten grinsen. Ich ziehe meinen Mantel aus und fühle mich unruhig und etwas deprimiert.

In hellem Sonnenschein marschieren wir nun Unter den Linden, Richtung Brandenburger Tor. Da schreien sie hinter uns auf. Wir an der Spitze drehen uns um und sehen, wie die Schützenpanzerwagen von hinten langsam durch die Marschkolonne schneiden. Nur widerwillig weichen die Menschen vor den Fahrzeugen auseinander, die Frauen halten den Sowjetsoldaten ihre Regenschirme unter die Nasen. Alles schreit und drängt sich drohend um die Wagen. Da verliert der Führer im ersten Fahrzeug die Nerven, sein Fahrer gibt Gas, der gepanzerte Wagen reißt einen Arbeiter nieder, der zweite fährt über ihn hinweg. Ein irrsinniger Aufschrei der Wut gellt über die Linden. Neben mir sagt der Arbeiter mit dem zerbeulten Hut leise: "Nun erst recht." Der überfahrene Arbeiter ist tot, aus seiner Schädelwunde sickert das Gehirn.

Ich schreie: "Weiter!", und der Zug setzt sich langsam wieder in Bewegung. Da kommen etwa 30 FDJ-Studenten in ihren Uniformjacken und mit haßerfüllten Gesichtern aus der Linden-Universität und passieren den Demonstrationszug. Sekunden später liegen sie alle blutiggeschlagen auf dem Straßenpflaster. Ein Student schreit: "Mein Vater ist auch ein Arbeiter!" "Um so schlimmer, Du Hund, dann bist Du also ein Arbeiterverräter!" Harte Fäuste klatschen ihm ins Gesicht. Ein großer grauhaariger Vorarbeiter wirft sich mit ausgebreiteten Armen dazwischen:

"Halt, Kameraden! Keine Ausschreitungen! Macht Euch Eure sauberen Arbeiterhände nicht mit dem Blut der Verräter dreckig ..." Wir ordnen gemeinsam den Zug, und es geht weiter über die Friedrichstraße hinweg, an der sowjetischen Botschaft vorbei und links in die alte Wilhelmstraße hinein. Und immer wieder der brausende Sprechchor: "Berliner, reiht Euch ein! Wir wollen alle Deutsche sein!"

Wo wollen wir hin? Was wollen wir tun? Ich rede ununterbrochen auf die älteren Arbeiter ein, diese von niemandem ernannten Unterführer der Kameraden. "Die Russen sehen ja ruhig zu! Das Unter den Linden war ein bedauerlicher Zwischenfall, der sich nicht wiederholen darf. Wenn sie gewollt hätten, dann hätten sie unseren Marsch schon auf der Stalinallee abwürgen oder mit einer Salve zerstreuen können. Sie sehen zu, und wir schaffen es: noch heute fällt die SED ..." Ich sage, daß wir den Rundfunk besetzen müßten, um die Regierung für abgesetzt zu erklären; daß wir sofort eine Delegation nach Karlshorst senden müßten, um den Hohen Kommissar Semjonow aufzufordern, sich auf die Seite des werktätigen Volkes zu stellen und eine Regierung von unbelasteten parteilosen Fachleuten bis zu den freien gesamtdeutschen Wahlen zu bestätigen. "Am besten, wir gründen jetzt sofort eine deutsche Volksbewegung für die Wiedervereinigung und jagen die Verräterparteien zum Teufel!" Die Arbeiter nicken und sagen alle: "Jawohl, parteilose Fachleute wollen wir endlich mal haben, nichts anderes. Die SED und die Regierung müssen noch heute weg. Die Russen helfen ihnen ja nicht einmal mehr." Aber ein neu Hinzugekommener sieht mich feindlich an und sagt: "Wir jagen die Kommunisten und die Russen alle zusammen weg! Und dann machen wir freie Wahlen." Er bejaht meine Frage, ob er Westberliner sei, und erklärt: "Die sitzen ja alle auf einem Haufen, die Russen und die Kommunisten, im Regierungsviertel. Da schnappen wir sie alle!"

Plötzlich marschieren sowjetische Soldaten auf

Aber der Sturm auf das Regierungsviertel ist inzwischen schon von der Volkspolizei mit Einsatz ihrer letzten Kräfte zurückgeschlagen worden. Eine unübersehbare Menschenmenge drängt sich in der Wilhelmstraße und in der Leipziger Straße bis hin zum Potsdamer Platz. Von 9.30 bis 12.00 Uhr immer wieder Sprechchöre. Die Absperrketten der Volkspolizei und der FDJ können die drängenden Menschenmassen kaum noch zurückhalten. Aber ist denn das hier wirklich entscheidend, diese Massendemonstration vor dem Regierungssitz? Könnten wir nicht inzwischen für die ganze Zone handeln und die Initiative an uns reißen? Warum spricht keiner? Die Leute warten nur auf Anweisungen, sie sind zu allem bereit. Ich rede auf die Leute ein, bis es einen Zwischenfall gibt. Auf dem Dach des Ministeriums erscheint ein Mann, der aussieht wie Ulbricht. Ist er es? Ganz gleich, er könnte es jedenfalls sein. Eine Woge von Haß und Wut schlägt an der Hauswand empor, die Leute drohen wie die Wahnsinnigen mit erhobenen Fäusten und verzerrten Gesichtern zum Dach hinauf, sie fordern Ulbrichts Tod. Der Mann verschwindet. Diese Menschen sind zu lange gequält worden! Ich begreife, daß die Vernunft jetzt keinen Raum hat in der Wilhelm- und in der Leipziger Straße. Heute regieren die Leidenschaften.

Um 12.00 Uhr marschieren sowjetische Truppen demonstrativ in der Wilhelm- und Leipziger Straße auf. Es sind etwa vierzig Panzer vom Typ T 34 und T 44 sowie lange Kolonnen motorisierter, feldmarschmäßig ausgerüsteter Infanterie, an deren Fahrzeugen schwere Pak und schwere Granatwerfer hängen. Die amerikanischen Jeeps, die vorher Unter den Linden neben unserer Marschkolonne herfuhren, sind wie vom Erdboden verschwunden.

Hunderttausende singen das Deutschlandlied

Wir sprechen mit den Iwans und fordern sie auf, uns in Ruhe zu lassen. Sie grinsen. Es ist ein Bild, wie es die Welt noch nicht gesehen hat: Mitten in der schwarzen unbeweglichen Menschenmasse stehen wie fremde Farbtupfer die sowjetischen Panzer mit ihren Besatzungen, und niemand weicht einen Schritt. Vom Potsdamer Platz, von der Sektorengrenze her dringt der Sprechchor "Wir schlagen alle Russen tot". Bei uns aber wird das Deutschlandlied gesungen:

"Deutschland, Deutschland, über alles,

über alles in der Welt,

wenn es stets zum Schutz und Trutze

brüderlich zusammenhält ..."

Rund um die Sowjetpanzer und neben der sowjetischen Infanterie stehen Hunderttausend Arbeiter und singen das Deutschlandlied. Die Russen hören zu. Und überall wehen schwarz-rot-goldene Fahnen. Da fährt ein T 34 auf die Kreuzung von Wilhelm- und Leipziger Straße. Neben der Panzerkuppel steht ein untersetzter flachsblonder Generalmajor der Sowjettruppen. Ist das General Dibrowa? Der sowjetische Stadtkommandant? Die Menge sieht ihn erwartungsvoll an. Und da - nein - doch: der General winkt mit beiden Armen der Bevölkerung zu, und die sowjetischen Offiziere und Soldaten lachen und grüßen die Demonstranten. Ein einziger Jubelschrei antwortet ihnen. Alles winkt. Mir bleibt der Atem weg. Ist es soweit? Machen die Sowjets jetzt mit dem Volk gemeinsame Sache und lassen die SED fallen? Das wäre das Ende und ein neuer Anfang. Wir winken und schreien: "Nieder mit der SED ... Nieder!" Doch da grüßt der General zum Ministerium hinauf, und eine Woge von Gebrüll und Haß schlägt ihm aus der Menge entgegen. Die ersten Steine fliegen. Pfiffe und geschwungene Fäuste. Hat der Kerl uns nicht verstanden? Schon peitschen vom Potsdamer Platz her die ersten Schüsse. Steine prasseln auf die sowjetischen Panzerwagen. Der General auf dem Panzer reißt seinen olivgrünen Umhang ab, tritt ihn mit den Füßen und erteilt nach allen Seiten Befehle.

Jetzt kommt es umgekehrt. Es ist 13.00 Uhr. Nach allen Seiten fahren die Panzer in die Demonstranten hinein. Es gibt keine Verletzten, aber die Menschen stürmen in wilder Panik davon. Nun - im Schutze sowjetischer Panzer - geht auch die Volkspolizei mit geschwungenen Knüppeln vor. Lautsprecherwagen geben bekannt, daß der Ausnahmezustand über Ost-Berlin verhängt worden ist ..."

Dem Volksaufstand in der DDR ist es merkwürdig ergangen. 35 Jahre lang hat man ihn als "Tag der deutschen Einheit" begangen, um ihn dann, nach der Wiedervereinigung, 1991 als Feiertag abzuschaffen. In der Zwischenzeit hat man in beiden Teilen Deutschlands die größten Anstrengungen unternommen, um den 17. Juni wahrheitswidrig zu manipulieren und ihn seines patriotischen, seines gesamtdeutschen Charakters zu entkleiden. In der DDR sprach die SED-Führung haßerfüllt von einem "faschistischen Putsch", in Bonn behauptete US-Professor Fritz Stern in einer Feierstunde des Bundestags am 17. Juni 1987, der Aufstand habe keinen gesamtdeutschen Charakter gehabt, es sei lediglich ein "Aufstand für ein besseres, ein freieres Leben" gewesen. Jeder, der an diesem Tag dabei war, der mit den Arbeitern gegen die SED marschierte, hat erlebt, daß sich das Aufstandsunternehmen, das als sozialer Protest begann, im Laufe des Vormittags des 17. Juni, zwischen 10.00 und 10.30 Uhr, zu einer nationalen Erhebung wandelte. In meinem Buch "Die roten Preußen" habe ich das damalige Geschehen als Augenzeuge und Teilnehmer beschrieben. Es handelt sich um eine durch nichts zu widerlegende Dokumentation. Denn ich lasse acht Aufstandsführer zu Wort kommen, die in Ost-Berlin, Merseburg, Görlitz, Bitterfeld, Dresden, Rathenow und Jena die Ereignisse erlebten, die ihre Schilderungen im SFB vor Kamera und Mikrofon ausbreiteten und anschließend beeideten.

Die Wiedervereinigung war damals zum Greifen nahe

Von den westdeutschen und Westberliner Journalisten war ich wohl der einzige, der an diesem Tag mit den Arbeitern marschierte. Und so kam ich - im Gegensatz zu fast allen meinen Kollegen - in den folgenden Jahrzehnten der Spaltung niemals auf den Gedanken, am gesamtdeutschen Patriotismus der DDR-Bewohner zu zweifeln. Daß achtzig oder neunzig Prozent von ihnen leidenschaftlich die Wiedervereinigung begehrten, hatte ich ja auf der Straße, angesichts sowjetischer Panzer, erfahren. Und ich hatte auch erlebt, wie die SED-Mitglieder massenweise ihre Parteiabzeichen weggeworfen hatten, wie die Volkspolizisten mit blassen Gesichtern vor den waffenlosen Demonstranten zurückgewichen waren. Ich wußte, daß die DDR-Staatsmacht ausschließlich auf den Spitzen sowjetischer Bajonette ruhte. (Als ich mich zu Beginn der achtziger Jahre einmal etwas pessimistisch über den Zeitraum bis zur Wiedervereinigung äußerte und zu Wolfgang Seiffert sagte, eigentlich habe der Publizist Hermann Rudolph ja nicht ganz unrecht, wenn er uns höhnisch "Nationalisten ohne Nation" nannte, faßte mich Seiffert fest ins Auge: "Nanu? Vergessen Sie etwa die 14 oder 15 Millionen Deutschen in der DDR, die hinter uns stehen?" Das traf es. Unvermittelt stand das Bild der marschierenden Arbeiter vor meinem geistigen Auge, die mir auf der Stalinallee zugerufen hatten: "Komm mit! Wir sind doch alle Deutsche!")

Damals, in der Zeit vom Sommer '53 bis Ende '54, war die Chance einer Wiedervereinigung Deutschlands mit Händen zu greifen. Das lag daran, daß die Sowjetführung nach Stalins Tod außenpolitisch tief verunsichert und daß Englands Premier Winston Churchill in einem Anfall von Hellsichtigkeit bereit war, die deutsche Einheit zu akzeptieren. Jeden Montag erschien die Spiegel-Kolumne von Rudolf Augstein, der unter dem Pseudonym "Jens Daniel" ganz im Sinne der britischen Politik für die deutsche Einheit schrieb. Die Sowjets waren - natürlich aus sacro egoismo - damals zu vielem bereit. Nicht von Bonn wurde das SED-Regime in Frage gestellt, nein: Moskau war kein verläßlicher Partner seines eigenen Satellitenstaates! Die SED-Genossen waren in den Augen der Sowjets Kollaborateure. Entsprechend verachtungsvoll spielte und jonglierte man mit ihnen. (Und ganz in diesem Sinne ließ Moskau sie 1989/90 für ein paar Milliarden D-Mark ins Nichts fallen.)

Der 17. Juni 1953 hat mir persönlich die Kraft gegeben, niemals an der Wiedervereinigung, an der Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates zu zweifeln. Immer blieb ich der Überzeugung: Die Deutsche Einheit kommt bestimmt.

Foto: Sowjetische Panzer in der Leipziger Straße in Berlin: "Der gepanzerte Wagen reißt einen Arbeiter nieder, der zweite fährt über ihn hinweg"

 

Dr. Wolfgang Venohr, Jahrgang 1925, war von 1965 bis 1985 Chefredakteur von "Stern TV" und "Lübbe TV". Zwischen 1969 und 1974 wurde er bekannt als der einzige westdeutsche Journalist, der aus der DDR direkt berichten durfte. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Der Text ist entnommen aus: Wolfgang Venohr, Die Abwehrschlacht. Jugenderinnerungen 1940-1955. Edition JF, Berlin 2002


 
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