© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/03 06. Juni 2003

 
Zeitschriftenkritik: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen
Mehrheiten unter sich
Werner Olles

Das 1988 gegründete und nunmehr im 16. Jahrgang erscheinende Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen zählt zu jenen Organen politikwissenschaftlicher Publizistik, die sich die Förderung sozialwissenschaftlicher Forschung im Bereich demokratischer Bürgerbeteiligung zum Ziel gesetzt haben. Die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift wird herausgegeben von der Forschungsgruppe Neue Soziale Bewegungen (NSB), die neben dieser Publikation weitere sozialwissenschaftliche Projekte in diesem Themenspektrum unterstützt und Veranstaltungen wie wissenschaftliche Tagungen, Seminare oder Studienreisen organisiert. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören unter anderen Wolfgang Thierse, Antje Vollmer und Heidemarie Wieczorek-Zeul an.

Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe ist unter dem Titel "Bundestagswahl 2002 - Analyse eines Zufalls" eine Untersuchung der Medienstrategien sozialer Bewegungen. Grundlage hierfür war ein vom Forschungsjournal im November 2002 initiierter Workshop mit dem Parteienforscher Joachim Raschke in Berlin zu diesem Thema. Ausgehend von den Medienstrategien "fortschrittlicher" Bewegungen nach 1960 und der Neuen Linken über die neuen sozialen Bewegungen bis hin zu den Globalisierungskritikern kommen die Autoren zu dem Schluß, daß in den drei betrachteten Generationen sich eine jeweils unterschiedliche Akzentuierung der medienbezogenen Strategien von Angriff, Anpassung und Alternativen etabliert hat. Neben der Schaffung einer wirksamen Gegenöffentlichkeit, die heute durch die intensive Nutzung des Internets eine größere Unabhängigkeit von den Medien und gleichzeitig eine Optimierung der Binnenkommunikation gewährleistet, war die Erkenntnis eines "prinzipiell asymmetrischen Verhältnisses" von sozialen Bewegungen und Massenmedien der Ausgangspunkt einer eigenen medialen Infrastruktur.

Zur Einordnung der Bundestagswahl 2002 geht Raschkes Analyse davon aus, daß es hier "eine kulturelle und eine Gerechtigkeitsmehrheit" gab, die in Richtung Rot-Grün wiesen, und eine "ökonomische Mehrheit", die Schwarz-Gelb favorisierte. Zudem sieht der Parteienforscher "eine tiefe Kluft zwischen der neoliberalen Medienmehrheit und der gerechtigkeitsorientierten Wählermehrheit". Dank dieser Medienunterstützung hätten Union und FDP vorne gelegen, als der Wahlkampf noch von Wirtschaftsthemen bestimmt war. Letztlich sei die Bundestagswahl für die Union aber nicht nur wegen "Flut und Irak" verloren gegangen, sondern vor allem weil es eine "kulturell aufgeladene Anti-Stoiberwahl" gewesen sei. Dieser habe für "ein traditionelles Kulturmodell von Leistung, Ordnung, Leitkultur und unerbittlichem Expertenernst" gestanden. Als die Wahl sich jedoch "kulturell geöffnet" habe, sei die Entscheidung gegen diesen "kulturellen Traditionalismus" gefallen.

Mit dem Zusammenhang von lebensweltlichen und politischen Milieus befaßt sich ein weiterer interessanter Beitrag, der die sozialen und politischen Desintegrationsprozesse untersucht, aus denen neue gesellschaftliche Konfliktstrukturen erwachsen, ohne daß diese Konflikte bislang politisch repräsentiert würden.

Anschrift: Brockhaus/Commission. Postfach. 70803 Kornwestheim. Einzelheft:13,50 Euro. Jahresabo: 36 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen