© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/03 06. Juni 2003

 
Des Menschen Feind
Kino I: "28 Days Later" von Danny Boyle
Claus-M. Wolfschlag

In ihrer inzwischen sechsten Zusammenarbeit haben sich der britische Regisseur Danny Boyle und Produzent Andrew Macdonald ("Train-spotting", 1996; "The Beach", 1999) mit "28 Days Later" an einen Genre-Film gemacht, eine Mischung aus Zombie- und Post-Apokalypse-Streifen. Einen rasanten und atemberaubend spannenden Horrorfilm zudem: Bei einer Tierbefreiungsaktion militanter Tierschützer in London wird ein sich rasend schnell verbreitender Virus freigesetzt, der es vermag, Menschen innerhalb von Sekunden in mörderische Bestien zu verwandeln. 28 Tage später wacht Jim (Cillian Murphy), der nach einem schweren Fahrradunfall im Koma lag, in einem Londoner Krankenhaus auf. Er erhebt sich von seinem Bett, irrt durch die offenbar verlassenen und verwahrlosten Krankenhausflure, schließlich durch die vollkommen menschenleer wirkende Stadt.

Als die Dämmerung anbricht, findet er Unterschlupf in einer Kirche, auf deren Boden sich zu seinem Entsetzen Berge von Leichen türmen. Ein Geräusch macht ihn auf die Anwesenheit eines Priesters aufmerksam, der sich ihm schnell, schreiend, krankhaft zuckend und mit blutunterlaufenen Augen nähert. Jim flüchtet verängstigt, doch mehr und mehr Infizierte werden vom Lärm der Schreie angelockt und verfolgen Jim drohend. Jim wird gerettet, als er auf Selina (Naomie Harris) und Mark (Noah Huntley) trifft, die es verstehen, die Infizierten mittels kleiner Brandsätze abzuwehren. Die beiden klären Jim über die Auswirkungen der Virus-Epidemie und deren Übertragung durch Blutkontakt auf.

Kurze Zeit darauf wird Mark durch einen Angriff selbst infiziert und Selina tötet ihn innerhalb von Sekunden, bevor er sich ebenfalls in eine Bestie verwandelt. Auf der Suche nach weiteren Überlebenden entdecken Selina und Jim bunte Lichter in einem Hochhausfenster. Sie treffen dort in einer verbarrikadierten Wohnung auf Frank (Brendan Gleeson) und dessen Tochter Hannah (Megan Burns). Da deren Wasservorräte dem Ende zugehen, beschließen die vier, einem Radiosignal zu folgen: eine Soldatentruppe brüstet sich, die Antwort auf die grausame Infektion gefunden zu haben, und lädt alle Überlebenden ein, sich ihr anzuschließen ...

Boyles Film bietet nichts wirklich Neues. Daß er dennoch zu überzeugen weiß, liegt an der Souveränität der dramaturgischen Gestaltung, vor allem an dem spannenden Drehbuchskript des "Beach"-Autors Alex Garland, und an der ungewöhnlichen Verwendung von Zitaten und Anspielungen aus alten Zombie-Filmen. Zugleich verweist er auf Gemeinsamkeiten zu Terry Gilliams Film "Twelve Monkeys", wo ebenfalls - wenngleich irreführend - eine gutgemeinte Tierbefreiungsaktion mit der Ausbreitung eines für die Menschheit tödlichen Virus in Verbindung gebracht wird.

Darüber hinaus erinnert die Einsamkeit in einer von der menschlichen Rasse beinahe entvölkerten Welt stark an diverse post-apokalyptische Filme, die in der Vergangenheit die Verlorenheit einer Welt nach einer atomaren Katastrophe den Zuschauern eindringlich zu schildern versuchten.

Boyles Arbeit mit Digital-Kameras schließlich gehört seit den "Dogma"-Filmen zum akzeptierten guten Ton in der Filmbranche und seit "The Blair Witch Project" auch innerhalb des phantastischen Genres. "28 Days Later" erhält dadurch ein ausgesprochen modernes Gesicht, das Endzeitlichkeit gekonnt mit dem Rauhen, Körnigen des Großstadtlebens vereint.

Boyle besteht darauf, keinen typischen Genre-Streifen gedreht zu haben: "Ich bin kein großer Fan dieses Genres, aber ich liebe die Art, wie Alex der gesamten Viren-Endzeit-Thematik einen neuen Dreh verpaßt hat - den psychologischen Virus anstatt eines klinischen. Deshalb finde ich im nachhinein, daß wir dem Genre zwar Respekt gezollt, uns dennoch neue Sichtweisen erlaubt haben."

Der Infizierte erscheint in Boyles Film nicht als heilbarer Patient, dem unser Mitgefühl zu gelten habe, sondern als Gefahr für die Menschheit, deren einzig erfolgversprechende Behandlung in ihrer rücksichtslosen Ausmerzung liegen kann. Zugleich erscheinen die zynischen Militärs kaum weniger bedrohlich denn die Infizierten, der Mensch ist sich selber Feind.

Danny Boyle: Endzeitlichkeit mit dem Rauhen der Stadt vereint


 
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