© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/03 06. Juni 2003

 
Sparen allein reicht nicht
von Alexander Griesbach

Seit ihrer Gründung kennt die Bundesrepublik Deutschland bei Lichte betrachtet nur ein Staatsziel: nämlich die Bedienung der individuellen Wohlfahrt, die die raison d'être dieser Gesellschaft darstellt. Politik im eigentlichen Sinne, verstanden als Sicherung und Erhaltung des eigenen Volksbestandes, wird von deutschen Politikern - oder besser gesagt: von Politikern in Deutschland - seit langem nicht mehr betrieben.

Die Konsequenzen dieses Paradigmenwechsels zeigen sich jetzt im Hinblick auf den Zustand des deutschen Sozialstaates, dessen rücksichtslose Überdehnung an eine definitive Grenze gekommen ist. Aufgrund der notorischen Finanzkrise der öffentlichen Kassen drohen die Grundlagen des Wohlfahrtsstaates sukzessive erodiert zu werden. Wie dieser Entwicklung erfolgreich begegnet werden könnte, darüber herrscht in Deutschland großes Rätselraten. Die Schnitte, die jetzt anzusetzen wären, müßten so gravierend ausfallen, daß ein Verlust der Regierung für diejenige Partei die Konsequenz wäre, die diese Schnitte zu verantworten hätte. Genau in diesem Dilemma befindet sich jetzt insbesondere die SPD. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Bundeskanzler Schröder bei dem Versuch, moderate Reformen durchzusetzen, stürzt. Dies würde aber nichts an der eisernen Konsequenz ändern, daß "ein Ruck durch Deutschland gehen muß", wie es der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog einmal ausgedrückt hat.

Noch herrscht freilich die Erwartung vor, daß es in der bisher gewohnten Art und Weise weitergehen kann, wenn dieses Land erst "fit" für den "globalen Wettbewerb" gemacht worden sein wird. Und irgendwann wird schließlich auch die Wirtschaft wieder "anspringen". Diese Erwartung dürfte bitter enttäuscht werden. Wir nehmen derzeit Abschied von den halkyonischen Tagen der Bundesrepublik, wie wir sie aus den siebziger und achtziger Jahren kennen, die vielen Zeitgenossen noch in seliger Erinnerung sein dürften. Zwischen dem, was uns heute beschäftigt, und der damaligen Zeit liegt nicht weniger als ein Epochenwechsel, dessen Konsequenzen Deutschland jetzt mit aller Wucht treffen.

Wenn von Härte die Rede ist, wird immer wieder auf den Begriff der Globalisierung abgehoben. Dieser Begriff gehört inzwischen zum unverzichtbaren Repertoire eines jeden, der "diskursfähig" sein möchte. Für viele sind es die Konsequenzen der Globalisierung, die die deutsche Sozialordnung untergraben und damit den Nukleus deutscher Schwundstufenidentität, so wie sich diese nach 1945 herausgebildet hat, bedrohen. Tatsächlich aber sind die gravierenden Probleme in Deutschland keineswegs der Globalisierung allein geschuldet. Diese hat nur schneller offensichtlich gemacht, daß das Modell Deutschland kein Vorbild mehr ist. Im Gegenteil.

Der Wirtschaftsstandort Deutschland steht heute für Stagnation, Inflexibilität, Überbürokratisierung und Bewegungslosigkeit. Allein die bürokratischen Lasten, mit denen sich heute in Deutschland Unternehmer herumzuschlagen haben, sind derart komplex, daß es vielen schwerfällt, diesen Wildwuchs an Verordnungen noch bedienen zu können. Es sollte zu denken geben, wenn beispielsweise Philippe Delmas, ENA-Absolvent und Manager der französischen Airbus-Industrie, mit Blick auf Deutschland feststellt: "Deutschland ist heute konservativer und dirigistischer als Frankreich. Seine Wirtschaft ist die am stärksten subventionierte und reglementierte der Welt."

In der Tat: Längst liegt in Deutschland die Betonung nicht mehr auf "Marktwirtschaft", sondern auf "sozial". Im Mittelpunkt des derzeitigen Gezerres steht dementsprechend auch nicht eine wirkliche Sanierung Deutschlands an Haupt und Gliedern, sondern Strategien, mit denen das derzeitige Sozialsystem mehr oder weniger bewahrt werden kann. Es geht um die moderate Neujustierung von Stellschrauben, an denen sich die Ministerialbürokratie übt, damit die Konsequenzen für den Einzelnen nicht allzu schmerzhaft ausfallen. Die Politiker wissen: Die soziale Absicherung in jeder Lebenslage ist der neuralgische Punkt der Bundesrepublik. Eine Erosion oder gar ein Zerfall dieses Sicherungssystems könnte auch den Bestand der derzeitigen Gesellschaftsordnung in Deutschland in Frage stellen.

Dieses Wissens eingedenk mutet es um so erstaunlicher an, mit welcher Rücksichtslosigkeit das System der sozialen Sicherungen vor allem in den zurückliegenden zehn Jahren belastet worden ist. Neben den exorbitanten Kosten für die Wiedervereinigung, die von der Regierung Kohl sträflicherweise bei weitem unterschätzt worden sind, sei hier nur die jedes Maß sprengende Zuwanderung nach Deutschland genannt. Innerhalb von zehn Jahren hat Deutschland sieben Millionen legale und illegale Zuwanderer aufgenommen, siebenmal mehr als Frankreich.

Delmas erkennt auch dieses Problem: "Insgesamt bewältigt Deutschland eine in ihren Ausmaßen mit keinem Land vergleichbare Einwanderungsflut, zu der noch die Deutschen im Ausland (300.000 im Jahr), illegale Einwanderer (bis zu 300.000 jährlich) und Asylbewerber (bis zu 400.000 jährlich) gerechnet werden müssen." Anfang 1997 wurden in Deutschland 7,5 Millionen nichtdeutsche Zuwanderer und 2,5 Millionen Deutsche aus dem Ausland gezählt, was 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Daß diese Zuwanderung in vielen Fällen eine Belastung für die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland darstellt, wird selbst von Vertretern der etablierten Parteien nicht mehr abgestritten. Dennoch hält die Zuwanderung unvermindert weiter an. Dadurch daß immer mehr eingebürgerte Ausländer als Ausländer aus der Statistik verschwinden, wird den autochthonen Deutschen suggeriert, daß sich die Zuwanderung nach Deutschland in Grenzen hält. Ein Blick auf die Realität vor allem westdeutscher Großstädte zeigt aber, daß dem keineswegs so ist.

Was die Kosten der Wiedervereinigung und ihre Konsequenzen allein für den deutschen Mittelstand angeht: 1996 war die Hälfte der Ende 1989 in der DDR vorhandenen Arbeitsplätze verschwunden. Allein in Thüringen gingen innerhalb von drei Jahren 65 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze verloren. Daß das auf die DDR übertragene westdeutsche Wirtschaftssystem im gleichen Maße an Akzeptanz verloren hat, ist offensichtlich. Diese Ernüchterung geht Hand in Hand mit der eigenen Identitätskrise, in der sich viele Mitteldeutsche immer noch befinden.

"Das ist ein Bruch mit der Identität. Wir sind in ein riesiges Loch gefallen. Das macht die Leute unzufrieden, nervös und obendrein aggressiv", erklärte, wohl stellvertretend für viele andere Mitteldeutsche, der Chefarzt der psychotherapeutischen Klinik in Halle. Die enorme Fehlkalkulation im Hinblick auf die zu erwartenden Kosten der Wiedervereinigung hat nicht wenig zu der latenten Unzufriedenheit beigetragen, die heute zwischen West- und Mitteldeutschen spürbar ist. Diese Unzufriedenheit steigt natürlich in einer kritischen wirtschaftlichen Phase, die aktuell in eine Rezession zu münden droht, weiter an.

In der Wahrnehmung vieler ist jetzt die Politik am Zug. Diese hat eine erfolgversprechende Strategie, die eine überzeugende Antwort auf die komplexen deutschen Probleme geben könnte, bis heute freilich nicht finden können. Dies gilt sowohl für die Regierung als auch für die Opposition. Im Gegenteil: Das dürftige Ergebnis, das beispielsweise die sogenannte Rürup-Kommission präsentierte, läßt befürchten, daß weitere Kommissionen folgen werden, die als Nachweis ihrer Existenzberechtigung zwar viel Papier produzieren, im Kern aber wenig bis nichts liefern, um die deutsche Depression zu überwinden.

Was tun?

Da das Maß der Komplexität der Probleme, denen sich Deutschland zu stellen hat, den Horizont eines Einzelnen bei weitem überschreitet, bleibt an dieser Stelle nur das Gedankenspiel. Dieses könnte am Vorbild der deutschen Industrie ansetzen, die sich in den letzten Jahren ja durchaus erfolgreich auf den internationalisierten Märkten hat behaupten können. Globalisierung von Markt und Wettbewerb bedeutet heute für viele Unternehmen wachsenden Wettbewerbs-, Markt- und Innovationsdruck. Dieser Druck setzt sich bis in die betrieblichen Prozesse hinein fort.

In dieser Situation sind unter anderem der zunehmende Zwang zur Integration, der schnelle Informations- und Wissenstransfer, die Konzentration auf wenige Steuergrößen, beschleunigte Innovationszyklen zu nennen. Viele Unternehmen konnten sich in den letzten Jahren dennoch reorganisieren und haben damit einen wesentlichen Schritt zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit geleistet. Solchermaßen erfolgreich durchgeführte Reorganisationsprojekte haben aufgrund deutlich gesteigerter betrieblicher Effizienz viele Unternehmen in die Lage versetzt, zum einen dem Kostenwettbewerb und zum anderen den Anforderungen an die Flexibilität besser als bisher gerecht werden zu können.

Viele Unternehmen haben weiter begriffen, daß die Marktturbulenzen selbst zum integralen Bestandteil der unternehmerischen Planung gemacht werden müssen, um nachhaltiges Wachstum sicherstellen zu können. Das aber heißt in der Konsequenz nichts anderes, als daß Unternehmen heute so etwas wie eine nachhaltige Wandlungsfähigkeit erzeugen müssen. Genau diese zukunftsorientierte nachhaltige Wandlungsfähigkeit, so lautet die hier vertretene These, muß auch seitens der Politik angestrebt werden, soll die deutsche Malaise überwunden werden.

Wie kann nun eine derartige Wandlungsfähigkeit hergestellt werden? Diese kann zum Beispiel durch die intensive Beschäftigung mit zukünftigen Entwicklungen erreicht werden. Das Stichwort hierfür lautet "strategische Früherkennung". Wer seine Potentiale nicht rechtzeitig erkennt, der büßt nicht nur Wettbewerbsvorteile sein, sondern gerät sukzessive ins Hintertreffen.

Mit Blick auf Deutschland ist dies beispielsweise in der Bildung geschehen. Die hier liegenden Potentiale wurden nicht nur nicht erkannt, sondern durch nicht enden wollende Experimente ihrer Entwicklungsperspektiven beraubt. Das Ergebnis, Stichwort Pisa-Studie, ist bekannt - die gravierenden Konsequenzen, die letztlich jeden gesellschaftlichen Bereich betreffen, allerdings weniger.

Wer sich der Notwendigkeit strategischer Früherkennung stellt, sieht sich schnell mit der Frage konfrontiert: Wie organisiere ich eigentlich meinen Lauschangriff auf die Zukunft so strukturiert wie möglich? Denn das Hauptproblem im Hinblick auf den Aufbau von Früherkennungssystemen liegt keineswegs in der Anerkennung der Notwendigkeit von Früherkennung, sondern vielmehr in deren dauerhafter Anwendung. Gefragt sind Such- und Navigationsinstrumente, die so etwas wie einen "Radar" darstellen. Diese Instrumente sollten in der Lage sein, selbst "schwache Signale" zu erkennen - ein Begriff, den der Wirtschaftswissenschaftler Igor H. Ansoff Mitte der siebziger Jahre zum ersten Mal vorstellte. Dieser betrat damals noch Neuland, als er die Forderung aufstellte, Unternehmen müßten so etwas wie eine Früherkennung praktizieren. Seiner Meinung nach gingen jedem Ereignis Signale voraus, auf die ein Unternehmen unbedingt reagieren sollte. Diese Ereignisse, insbesondere aber Trends am Markt, sind freilich nicht immer ohne weiteres erkennbar. Sie müssen bewußt und planmäßig aufgespürt, bewertet und verarbeitet werden.

Als Beispiel aus der Sozialpolitik läßt sich der Geburtenrückgang anführen, unter dem Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre leidet. Die Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme sind seit langem erkennbar. Die Leistung der Politik bestand aber daran, die "schwachen Signale", die sich Ende der sechziger Jahre abzeichneten, zu ignorieren oder bewußt zu verdrängen. Was damals als "schwaches Signal" begann, droht heute das System der sozialen Sicherung in Deutschland zu zerstören. Verzichtet ein Unternehmen auf eine systematische "strategische Früherkennung", dann läuft es Gefahr, seine Zukunftsaussichten einzubüßen. Dasselbe gilt für gesellschaftliche Großgebilde.

Die Entscheidung für eine Strategie benötigt nachprüfbare bzw. nachvollziehbare Grundlagen, seien dies nun Kennzahlen, Indikatoren oder Trends. Je transparenter diese Entscheidungsgrundlagen gemacht werden, desto größer wird das Maß an Zustimmung ausfallen.

Hilfestellung leistet dabei zum Beispiel das Instrument Balanced Scorecard (BSC). Auch dieser Begriff stammt aus der Betriebswirtschaft. Hier reicht es zu wissen, daß eine BSC ein Ansatz zur Visualisierung verschiedener, meist gleichrangiger, aber untereinander heterogener Ziele darstellt, um mehrere Dimensionen eines Unternehmenserfolges abbilden zu können. Darüber hinaus dient eine BSC aber auch als Steuerungsinstrument. Über die BSC erfolgt die Definition eines operationalen Sets von strategierelevanten Zielen. Diese können die Standortqualität, die Steuerbelastung oder den Zustand der öffentlichen Infrastruktur betreffen. Um diese Ziele erreichen zu können, müssen entsprechende finanzielle und nichtfinanzielle Meßgrößen definiert und deren Planwerte den zugehörigen Ist-Größen gegenübergestellt werden. Ziele, Meßgrößen und Aktionen beziehen sich auf die wichtigen Perspektiven einer Gesellschaft und ihres Umfelds. Die ausgewogene Konkretisierung und Detaillierung der Perspektiven im Hinblick auf ihre Ableitung aus der Gesamtstrategie führt zu einem für die Früherkennung gut verwendbaren Zielsystem.

Die über die BSC generierten Kennzahlen können für eine Gesellschaft als Wissensvorsprung fruchtbar gemacht werden, wenn diese an die strategische Planung gekoppelt werden. Erst diese Kopplung führt zur Sicherung der eigenen Position im internationalen Standortwettbewerb. Weil strategische Früherkennung eine überaus komplexe Tätigkeit ist, könnte über die Einrichtung von "Monitoring-Gruppen" nachgedacht werden. Entscheidend ist, daß das Konzept ständig an ein sich wandelndes Umfeld angepaßt wird.

Wir benötigen heute - auch und gerade in der Politik - dynamischere und flexiblere Strategien, um möglichst viele Pfade vordenken zu können. Ein wichtiges Element hierfür sind Szenarien und Früherkennung. Szenarien werden vielfach kritisch beäugt, da sie die Situation auf den ersten Blick zu komplizieren scheinen. Werden gar Entwicklungen erkannt, die ein Unternehmen (oder einen Staat) in seiner Existenz bedrohen, weigern sich viele Führungspersonen in der Wirtschaft, diese Situation möglichst frühzeitig zu durchdenken und sich zu fragen, welche Frühwarnindikatoren diese Entwicklung anzeigen könnten.

Was hier über Manager gesagt wird, kann getrost auf Politiker übertragen werden. Mit rechtzeitiger Früherkennung kann die Reaktionszeit verkürzt werden und ein größerer Entscheidungsspielraum geschaffen werden. Dieser schwindet natürlich deutlich, wenn die Herausforderungen zu spät oder gar nicht erkannt werden. Diesen Entscheidungsspielraum hat die deutsche Politik heute nicht mehr.

Zu welchen Konsequenzen dies führen wird, darüber soll hier nicht spekuliert werden. Entscheidend ist: Die heutigen Politmanager sind Getriebene der Situation und nicht deren Herren. Daraus kann keine Zukunftsgestaltung erwachsen. Dieser Zustand muß nicht nur überwunden , sondern zukünftig soweit wie möglich verhindert werden. Dies kann nur erreicht werden, wenn die Zukunft selbst zum Parameter politischen Handelns gemacht wird.

Fedele Azari, "Flugperspektive", 1926: Auf halber Höhe ist der Flug vom Sturz kaum zu unterscheiden

 

Alexander Griesbach schrieb zuletzt in JF 21/03 über aktuelle Probleme des Datenschutzes.


 
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