© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/03 13. Juni 2003

 
Finanznot sucht Opfer
Experten fordern: Keine Operationen für Menschen über 75 Jahre
Angelika Willig

Im Berliner Gropiusbau läuft zur Zeit eine Prachtausstellung über die Azteken. Seit deren Entdeckung im Jahre 1521 entsetzt man sich über den Brauch, Gefangenen bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust zu reißen. Kann man sich etwas Grausameres und Sinnloseres vorstellen? Wir brauchen uns nur an die eigene Nase zu fassen: Täglich sterben Kinder auf unseren Straßen, als ob das völlig selbstverständlich wäre.

Wer über Ethik spricht, tut meist so, als ob es eine einzige Ethik gäbe. Aber bei den Eskimos gehört es zur guten Sitte, daß alte Menschen sich selbst den Tod geben. Nicht etwa um die eigenen Leiden abzukürzen, stürzen sich diese Alten oft mit Hilfe ihrer Söhne ins Messer, sondern aus Verantwortungsgefühl gegenüber dem Stamm. Im arktischen Winter können die Eskimos sich schlicht keine Rentner leisten.

Trotz Krise sind wir noch nicht so arm, daß eine schnelle Entsorgung der Alten ethisch zu rechtfertigen wäre. Daher wird der Vorschlag, den drei sogenannte Experten in der ARD-Sendung Report am Montag vor Pfingsten vortrugen, allgemein empört zurückgewiesen. Der katholische Theologie-Professor Joachim Wiemeyer, der Philosoph Hartmut Kliemt von der Universität Duisburg und Friedrich Breyer, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Konstanz, hatten übereinstimmend gefordert, zur Senkung der Kosten im Gesundheitswesen Patienten über 75 Jahre nicht mehr in den Genuß aufwendiger Operationen und Behandlungen kommen zu lassen.

Dagegen gibt es eine Menge einzuwenden. Andere Einsparmöglichkeiten sind längst nicht ausgeschöpft. Und wenn schon Menschenleben geopfert werden müssen, warum dann die Alten, die ein Leben lang gearbeitet haben und sozial durchaus noch nützlich sind, während schwerstbehinderte Neugeborene mit hohem technischen Aufwand am Leben erhalten werden?

Auch ist die Vermeidung einer Operation, die zum Beispiel die Gehfähigkeit betrifft, keine Ersparnis, wenn dadurch eine jahrelange Intensivpflege notwendig wird. Die Lösung "ab 75 nur noch Beruhigungsmittel" ist also alles andere als befriedigend - obwohl sie in Großbritannien bereits schleichend Einzug in die öffentlichen Krankenhäuser gehalten hat. Wir Deutsche fordern wieder einmal die philosophisch fundierte, logisch einwandfreie Argumentation. Wer allerdings von den Ärzten bei diesem Thema Hilfe erwartet, könnte sich zur Empfehlung einer Abmagerungskur auch an die Süßwarenindustrie wenden.

Die Versprechungen der Apothekenzeitschriften über ein genußvolles Altern mit Lecithin-Kapseln und Inkontinenz-Einlagen sind ähnlich verharmlosend. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß die gestiegene Lebenserwartung mit einem medizinischen Aufwand erreicht wird, der nicht nur teuer ist, sondern oft auch zermürbend für Patienten und Angehörige. Mit der somatischen Gentherapie wird sich das übrigens nur noch steigern. Noch mehr Menschen werden von ihren Leiden nicht befreit, sondern durch Zufuhr von außen mehr oder weniger angenehm am Leben erhalten werden. Und das wird riesige neue Kosten hervorrufen. Jede Kostensenkung im Gesundheitswesen geht gegen das Interesse der Ärzteschaft und wird mit der ganzen moralischen Autorität bekämpft, die diesem Berufsstand dank Serien wie der "Schwarzwaldklinik" zur Verfügung steht. Die - egal aus welchen Gründen - unterlassene Behandlung stellt einen Angriff auf die totale Medizin und ihre unbegrenzten Möglichkeiten dar und wird entsprechend verteufelt. So fühlt sich der Präsident der Ärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe durch die Report-Sendung bereits "an die Euthanasie erinnert".

Die wissenschaftlich-technische Entwicklung führt dazu, daß eine grenzenlose Behandlung aller finanziell nicht mehr tragbar ist. Nun beginnt die Auseinandersetzung darüber, welche Leistungen sehr wichtig, wichtig oder weniger wichtig sind. Viele halten diese Abwägung bereits für inhuman und potentiell faschistisch. Nach einer verbreiteten Auffassung sind die ökonomischen Bedingungen, mit denen jede Gesellschaft buchstäblich rechnen muß, bloß ein lästiger Störfaktor, der "eigentlich" bei der politischen Planung überhaupt keine Rolle spielen dürfte. In Wirklichkeit aber sind es erst diese Einschränkungen, die ethisches Verhalten und kulturelle Formgebung begründen. Das gilt für die Eskimos, und auch die altmexikanischen Rituale zielen auf bessere Ernten, abergläubisch zwar, aber nicht idealistisch.

In dem Schlaraffenland, das wir einige Jahrzehnte bewohnten, verfielen Moral und Kultur eben deshalb, weil der wirtschaftliche Druck fehlte. Das "Anything goes" resultierte letztlich daraus, daß für alles Geld bereitstand. Schon das Wort Kultur stammt bekanntlich aus der Land-wirtschaft. Da das Geld uns ausging, kommen wieder Entscheidungen auf uns zu, und die müssen begründet werden. Erschauernd wird bezüglich der Medizin von "Selektion" gesprochen. Doch Selektion ist gerade das, was uns in den letzten Jahrzehnten auf allen Gebieten fehlte, auch bei der Bildung, bei der Zuwanderung, in der Kunst. Auf die Rückkehr der Notwendigkeit in ein Reich unverbindlicher Freiheiten haben wir lange gewartet und sollten nun nicht zögern, uns an der Debatte zu beteiligen - auch wenn sie die Tabugrenzen nicht immer einhält.


 
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