© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/03 13. Juni 2003

 
Ein Tag entspannender Belanglosigkeit
Der 17. Juni erinnerte in der Bundesrepublik mehr an den Kalten Krieg als an die nationale Einheit und überlebte sich dadurch
Thorsten Hinz

Das freiheitliche Datum des 17. Juni 1953 war und ist ein deutsches Waisenkind. Daß die DDR es bis zu ihrem Ende nicht adoptieren mochte, ist plausibel. Die Revolte war die Delegimitation des SED-Regimes. Keine ideologischen Kunstgriffe konnten mehr verbergen, was einmal offenbar geworden war: Die Macht der SED beruhte ausschließlich auf russischen Panzern, ihre Parteiführer waren "Quislinge" - Kollaborateure einer Besatzungsmacht. Eine historische Forschung zum 17. Juni durfte es nicht geben, die Akten lagen unter Verschluß, die Geschichtsbücher vermerkten knapp, es habe sich um einen "faschistischen Putsch" gehandelt, provoziert von westlichen Geheimdiensten, die eine temporäre Unzufriedenheit über kleine Fehler der Partei ausgenutzt hätten, die schon längst korrigiert waren. Doch das Trauma blieb. Wie aus der Tiefe seines schlechten Gewissens fragte Erich Mielke am 31. August 1989 in der Dienstbesprechung seines Stasi-Ministeriums: "Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?"

Ein Trauma blieb auch in der Bevölkerung zurück, die erkennen mußte, daß die europäischen Nachkriegskonstellationen sie zur Machtlosigkeit verurteilten. Von den Intellektuellen, soweit sie im Lande blieben, nahmen nur wenige die Ereignisse zum Anlaß, das Band der falschen Loyalitäten zu zerschneiden, auch die Regimekritiker nicht. Ihr Nestor Robert Havemann verbreitete noch 1970, bei aller anfänglichen Berechtigung hätte die Revolte "objektiv konterrevolutionäre Formen" angenommen, also sei sie zu Recht gescheitert. Auch den Bürgerrechtsgruppen der achtziger Jahre blieb der nationale und soziale Impuls des Volksaufstands fremd, was 1989 ein Grund für ihre rasche Marginalisierung war.

Vereinnahmung des 17. Juni als moralische Begründung

Und im Westen? Der Bundestag erklärte den 17. Juni einen Monat danach zum "Tag der Deutschen Einheit". Alljährlich wurden im Hohen Haus Reden gehalten, von den bedeutendsten Historikern des Landes, von Ministern und Bundespräsidenten. 1964 sprach Theodor Schieder davon, daß dieser "Tag unsere geschichtliche Rehabilitation als Nation" und die Rettung der "tief gekränkten moralischen Autorität des deutschen Namens" beinhalte. Wohl wahr, aber hinter solch hochtönenden Worten stand die Absicht, den 17. Juni für die moralische Begründung der Bundesrepublik zu vereinnahmen. Nach dem Mauerbau verlor der 17. Juni in der Bevölkerung den emotionalen Rückhalt. Er bot Gelegenheit für ein verlängertes Wochenende und war im übrigen ein "Tag entspannender Gedankenlosigkeit", so Friedrich Sieburg 1958.

Auch die Politiker in Bonn verdrängten die Ereignisse und Bedeutung des 17. Juni. Die "Organisation Gehlen", Vorläuferin des BND, glaubte wie die SED an seine westliche Fernsteuerung. Menschen, die sich spontan gegen ein Unrecht auflehnten, das sich "Staat" nannte, paßten weder dem Osten noch dem Westen ins Konzept. Man redete die Vorgänge klein. In Arnulf Barings Dissertation aus dem Jahr 1956, die lange das Standardwerk zum Thema blieb, heißt es: "Der Aufstand ist nicht durch sowjetische Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen aufmarschierten." Was für ein Irrtum! Ohne das Eingreifen der russischen Armee wäre das SED-Regime von der Bühne gefegt worden!

1989 hielt der SPD-Linke Erhard Eppler eine der politischsten Ansprachen, die je zu diesem Anlaß gehalten wurden. Erst zwei Jahre zuvor hatte er mit der SED ein Gemeinsames Papier vereinbart, in dem beide Seiten sich Demokratie- und Reformfähigkeit konzedierten. Nun ließ er seinem Zorn und der Enttäuschung darüber freien Lauf, daß die SED-Führung sich noch angesichts der Massenflucht über Ungarn in einer poststalinistischen Wagenburg verschanzte. Er machte "so etwas wie Existenzangst" bei ihr aus. Die sei "nur allzu verständlich", denn die DDR sei "begründet in der Sprache der Staatspartei, in sozialen, ideologischen, nicht nationalen Kategorien". Auch in Deutschland könne der "Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrosten". In diesem Kontext wurde, was in den Jahren davor bloß Lippenbekenntnis gewesen war, plötzlich zum Donnerwort: "Die Deutschen haben, wie alle Völker, ein Recht auf Selbstbestimmung."

Bundesrepublik als Status statt deutscher Einheit

Aber was hieß Selbstbestimmung? Gleich nach dem kühnen Vorstoß stellte Eppler klar, daß er kein gemeinsames Neues meinte. Deutschlandpolitik könne nur auf der Grundlage des "westlichen Wertekatalogs" erfolgen. Da er eine Interpretation des Katalogs vermied, konnte nur die Ausweitung des bundesdeutschen Status quo gemeint sein. Damit verweigerte Eppler sich der Einsicht, daß der Grundsatz "Freiheit geht vor Einheit", der jahrzehntelang den Willen zur Selbstbehauptung gegenüber der Sowjetunion ausdrückte (und der virtuell auch den DDR-Bürgern zugute kommen konnte), inzwischen auf die Verteidigung des reformbedürftigen, anachronistisch gewordenen Bedingungsgefüges der BRD hinauslief.

Die SED hatte den "Werktätigen" in der DDR stets versichert, sie seien die "herrschende Klasse", die Partei verwalte die Macht lediglich treuhänderisch. Sie mußte 1953 erleben, daß das Selbstbewußtsein, welches sie so geweckt hatte, sich spontan gegen sie wandte. Der 17. Juni war nicht nur der Aufstand gegen eine Partei, sondern ein emanzipatorischer Akt gegen die obrigkeitsstaatliche Tradition in Deutschland überhaupt. Hier liegt die anhaltende Brisanz des 17. Juni 1953. Ist es wirklich nur Zufall, daß es keine zentrale, repräsentative Ausstellung zu seinem 50. Jahrestag gibt, etwa im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags mit seinem riesigen Atrium? Fürchtet man peinliche Assoziationen der Besucher, die Frage zum Beispiel, wie sich der blockierte und gefräßige Parteienstaat mit dem Verfassungsgrundsatz verträgt, die Staatsgewalt gehe vom Volke aus? Und was zu tun wäre, um diesem Ideal näherzukommen?

Niemand kann also behaupten, das 1953 gescheiterte Projekt "Einheit in Freiheit" sei 1989 vollendet worden. Denn die politische Phantasie der DDR-Opposition reichte nur bis zum Nachvollzug von Gorbatschows Perestroika, einer vormundschaftlichen Revolution von oben. Vor allem aber wurde der Sturz der SED durch die Massenflucht ausgelöst, einer Summe aus unzähligen, resignativen und isolierten Einzelentscheidungen, die sich zu keinem triumphalen, politischen Willen mehr bündeln ließen. Was danach noch kam, war die Implosion eines Staatsgebildes, keine Emanzipation der Gesellschaft. Für eine politische, soziale und mentale Befreiung, die auch den Westen hätte inspirieren können, war die Zeit zwischen der ersten Massendemonstration in Leipzig und dem Mauerfall zu kurz. Schließlich traten knapp 17 Millionen verunsicherte Landsleute einem Staat bei, der zwar reich, innerlich aber abgestorben und kaum weniger verunsichert war. Heute stehen Ost und West gemeinsam vor dem materiellen und geistigen Offenbarungseid.

Der 17. Juni 1953 weckt also nicht nur Stolz. Er mahnt an Unvollendetes und feige Versäumtes und löst deshalb auch Scham aus. Einheit und Freiheit Deutschlands aber lassen sich nur voranbringen, wenn seine Bürger bereit sind, dieses freiheitliche Datum und den Stolz und die Scham, die sich daran knüpfen, von ganzem Herzen anzunehmen.


 
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