© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/03 13. Juni 2003 |
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Eine Stadt hat ihre Stimme zurück Fühlbare Geschichte: Zum ersten Mal seit 60 Jahren läuteten wieder die Glocken der Dresdner Frauenkirche Steffen Königer Es war eine Ode an die Lautlosigkeit. Am Samstag vor Pfingsten versammelten sich 40.000 Besucher mitten im wiedererstehenden Zentrum der Elbmetropole Dresden. Doch weder hatten Gewerkschaften zu einer Demonstration aufgerufen, noch lud eine Rockgruppe zu einem Konzert ein. Es galt, die Stimme der Frauenkirche das erste Mal nach sechzig Jahren zu vernehmen. Die Glocken, die erst am 5. Mai geweiht wurden (JF 21/03) und seither 20.000 Menschen Grund genug boten, in die Stadt zu pilgern, sollten erschallen. Während bei solchen Menschenmassen sonst lautstarke Unterhaltungen, Lachen und bierseliges Mitsingen die Ohren betäubt, war diesmal alles anders. Eine Dreiviertelstunde lang bei strahlend blauem Himmel und mehr als dreißig Grad im Schatten fröstelte es einen. Ein Blick durch den Bauzaun über die freigelegten Fundamente des Neumarktes ließ nur noch mehr Gänsehaut entstehen: Köpfe, so weit das Auge reicht, Augen, die auf die Frauenkirche fixiert sind, alte Menschen, die mit riesigen Radiorekordern Tonaufnahmen von diesem Ereignis machen wollen. Darüber Mikrophone von Fernsehsendern, dazwischen Stative von unzähligen Hobbyfilmern, die ein Stück dieser Stimmung mit nach Hause nehmen wollen. Schweigen. Je näher der Augenblick rückte, desto stiller wurden die Menschen. Von den Brühlschen Terrassen über die Hofkirche bis zum Altmarkt warteten alle gebannt auf das erste Bing von der kleinsten Glocke "Hanna". Ein Blick in die Gesichter machte einem klar, daß Geschichte fühlbar ist. Ein kleines bißchen erinnerte man sich an Mauerfall und deutsche Einheit. Dieses Grummeln im Bauch. Im Flüsterton wird sich mit dem Nachbarn unterhalten. Sogar Funktelefone, die läuteten, werden betreten und schuldbewußt ausgemacht. Genau um halb acht war die erste Glocke zu vernehmen. Jede von ihnen bekam ein Solo, konnte für zwei Minuten die Stille einzeln angenehm zerreißen. Bei "Jesaja", der größten des achtstimmigen Geläuts, freute man sich schon auf die dann folgenden Terzette und Quartette, die in unterschiedlichen Kombinationen zu einem wunderschönen Klangbild verschmolzen. Einzig die Tauben dürften verwirrt und genervt gewesen sein. Angesichts dieser Ruhe und Anteilnahme kommen Gedanken hoch: Ist es wirklich so, daß Kirchenerbauen heute keinen mehr interessiert? Denen, die das Geld für den Wiederaufbau der Frauenkirche lieber woanders investiert hätten, möchte man zurufen: Schweiget und schauet! Etwas Wunderbares wie dies hier kann nicht in Worte gefaßt werden. Wenn doch nur jene Zweifler, die in Leipzig und Potsdam sich gegen den Wiederaufbau der Universitäts- oder Garnisonkirche stellen, hier sein könnten. Würden sie nicht auch zu glühenden Befürwortern werden müssen und ihre ideologischen Vorbehalte aufgeben? Bei den vielstimmigen Sätzen konnte die Gelegenheit nicht ausgelassen werden, bei der eigenen Verwandtschaft anzurufen und das Telefon in Richtung Frauenkirche zu recken. Als sich alle Glocken vereinen, um im großen Plenum mit den Geläuten der Kreuzkirche und der Hofkirche zu erklingen, wird jedem Besucher klar: Dresden hat nun nicht nur seine Seele, sondern auch seine Stimme wiedergewonnen. |