© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/03 20. Juni 2003

 
Volk ohne Kinder
Die Konsequenzen aus der demographischen Katastrophe rücken immer näher
Kurt Zach

Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewußt. Seit Jahrzehnten bemühen sich Statistiker und Bevölkerungswissenschaftler beharrlich, die Politik vor den dramatischen Folgen der demographischen Katastrophe zu warnen und die Entscheidungsträger mit dem notwendigen Faktenmaterial zu versorgen, um rechtzeitig gegensteuern zu können. Ebenso beharrlich wurden im kurzatmigen "Weiter so" von Wahltermin zu Wahltermin die einsamen Rufer in der Wüste ignoriert. Johannes Hahlen wird es nicht anders gehen: Mit der soeben vorgestellten "zehnten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung" hat der Präsident des Statistischen Bundesamtes ein weiteres Mal eine Alarmglocke geläutet, die ungehört im Berliner Politikbetrieb verhallen dürfte.

Die Bevölkerungskatastrophe verläuft noch schneller und dramatischer, als man bis dato angenommen hat - das ist Hahlens wesentliche Botschaft. Das Problem selbst ist altbekannt: Einer Bevölkerungsexplosion bei den Älteren steht eine Bevölkerungsimplosion bei den Jüngeren gegenüber. In Relation zur Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter wird sich die Zahl derer im Rentenalter bis 2050 verdoppeln. Was das für die im Umlageverfahren aus den Beiträgen der im Arbeitsleben Stehenden finanzierten sozialen Sicherungssysteme bedeutet, liegt auf der Hand: Entweder wird das Leistungsniveau in Gesundheits-, Pflege- und Krankenversicherung halbiert - oder die Abgabenlast wird verdoppelt.

Wenn in einem entwickelten Land die Bevölkerung schrumpft, entsteht Migrationsdruck. Indien etwa produziert in einem einzigen Jahr einen Geburtenüberschuß von 16 Millionen Menschen - das entspricht der Summe aller jährlichen Geburtendefizite in Deutschland bis zum Jahr 2040. Seit dreißig Jahren sterben in Deutschland jährlich mehr Menschen, als geboren werden. Das Geburtendefizit wird durch die höchste Zuwanderung im Vergleich aller großen Industrieländer bisher nicht nur kompensiert, sondern sogar überkompensiert. War das zu wenig, und führt mehr Zuwanderung aus der Krise?

Auch das Statistische Bundesamt ist skeptisch, drückt sich aber vor der ganzen unangenehmen Wahrheit. Das Papier aus Hahlens Amt rechnet zwar mit unterschiedlichen Zuwanderungsszenarien, blendet aber die Konsequenzen für die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung aus. Fachkollegen sind weniger zimperlich: Der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg differenziert bei der Vorausberechnung zwischen Deutschen und Ausländern und kommt zu alarmierenden Ergebnissen. Demnach wird der Anteil der Zugewanderten an der Gesamtbevölkerung von gut neun Prozent heute auf 19,6 Prozent im Jahr 2030 und 27,9 Prozent 2050 zunehmen. Bei den unter 20jährigen steigt der Anteil sogar infolge der höheren Geburtenrate von 11,4 auf 26,9 Prozent (2030) bzw. 38,1 Prozent (2050). Schon um 2020 wird die Zahl der Zuwanderer größer sein als die Einwohnerzahl der neuen Bundesländer. Der Zeitpunkt ist absehbar, an dem die ethnischen Deutschen in der Minderheit sind; in vielen Großstädten braucht man darauf nicht mehr lange zu warten. Schließlich, sagt Birg mit Recht, sind Annahmen einer jährlichen Nettozuwanderung von 200.000 bis 300.000 Ausländern angesichts des politischen Drucks und der bisherigen Praxis eher zu niedrig gegriffen.

Für die demographische Katastrophe Deutschlands ist diese Entwicklung nicht die Lösung, sondern ein neues Problem. Denn Quantität ist nicht gleich Qualität. Für die letzten arbeitenden Beitragszahler ist es kein Trost, wenn sie außer für die doppelte Rentnerzahl auch noch für einen in Potenzen wachsenden eingewanderten Sozialhilfeadel aufkommen müssen.

Den Wettbewerb um die "besten" Zuwanderer hat Deutschland ohnehin längst verloren, wenn es ihn überhaupt je ernsthaft betrieben hat. Zwar kommen nach Deutschland mehr Einwanderer als in jedes andere große Industrieland, klassische Einwanderungsländer inklusive. Aber es kommen eben, via Familienzusammenführung, Asyl und illegale Einreise, vor allem solche, die das Gemeinwesen ausnutzen, statt ihm zu nützen. Hochqualifizierte gehen lieber in die USA, wo sie mehr verdienen, weniger Steuern zahlen und freier forschen können. Statt produktiver Beitragszahler streben nach Deutschland Transferempfänger mit hohen Integrationskosten und einem sinkenden Ausbildungs- und Qualifikationsniveau.

Einwanderung taugt also nicht als Patentrezept. Das Thema läßt sich auch nicht vom drückenden Reformstau in Staat und Gesellschaft abkoppeln. Doch angesichts der Zahlen, die auf dem Tisch liegen, erscheint das, was dem Bürger derzeit als "Reform" und "Agenda" verkauft wird, als rat- und wirkungsloses Klein-Klein.

Das liegt nicht nur an der Kurzatmigkeit der von einem Wahltag zum nächsten hechelnden Parteipolitiker. Es hat auch mit bewußter Realitätsverweigerung zu tun, wenn quer durch alle etablierten Parteien die Parole ausgegeben wird, alles könne so weitergehen, wenn man nur ein wenig am System herumdoktere. Das Eingeständnis des eigenen Scheiterns kommt der selbstzufriedenen Generation der 68er Wohlstandskinder, die das Heft derzeit in der Hand hält, nur schwer über die Lippen.

"Reform" nämlich muß heute zuerst dort ansetzen, wo die Fehlsteuerung am offenkundigsten ist: Bei den Besitzständen der "Achtundsechziger", die sich nach dem flotten Marsch durch die Institutionen den bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat zu Lasten der Generationen davor und danach aufs behaglichste eingerichtet haben. Die Schröder-Fischer-Generation ist immer nur nach oben gefallen: Was die Kriegsgeneration erwirtschaftete, wurde verjuxt und verteilt, und wenn's nicht reichte, gab es Beamtenstellen und immer neue "soziale Wohltaten" auf Pump. Die Zeche zahlen die immer spärlicher in die Welt gesetzten Kinder.

Nicht die heute Siebzig- und Achtzigjährigen, die ihr Leben lang gearbeitet, Beiträge gezahlt und das Land aus den Trümmern wieder aufgebaut haben, sind schuld an der absehbaren Pleite der Sozialsysteme: Schuld sind die, die Wohltaten untereinander verteilt haben, als es schon nichts mehr zu verteilen gab, statt umzusteuern, solange die Spielräume noch vorhanden waren, und die sich jetzt auf ein fröhliches Pensionärsdasein freuen oder schon den Vorruhestand genießen.

Die Umkehr wird jetzt um so schmerzhafter und teurer. Mehr arbeiten, weniger ausgeben, besser lernen und mehr Kinder haben sind die Wendemarken der Reform. Der Umbau der Sozialsysteme hin zu solider, kapitalgedeckter Finanzierung und höherer Eigenverantwortung hat seinen Preis. Zahlen sollten ihn vor allem die, die in der Zeit nicht sparen wollten, um in der Not zu haben. Solange der Bock als Gärtner amtiert, sind die Chancen dafür freilich denkbar gering.


 
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