© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/03 20. Juni 2003

 
Integration setzt Stärke voraus
von Björn Schumacher

Kaum eine andere Materie ist so starken Zielkonflikten ausgesetzt wie das Ausländerrecht, das heißt die Gesetzgebung für in Deutschland lebende Nicht-EU-Bürger. Die Interessensphären von Ausländern und profitorientierten Wirtschaftsunternehmen sowie die Sehnsüchte nationalskeptischer Zirkel nach einer "bunten Republik Deutschland" (Udo Lindenberg) konkurrieren mit dem Anspruch auf innere Sicherheit und leistungsstarke Bildungs- und Sozialsysteme. Gegen die Vision einer bunten Republik spricht auch das bewährte kulturelle und gesellschaftliche Gefüge unserer Nation, das von Millionen Menschen als prägend deutsch empfunden und in der packenden Sprache des aufgeklärten Konservatismus "nationale Identität" genannt wird. Hat nicht ein auf soziokultureller Homogenität gründender Nationalstaat jahrzehntelang Identifikation ermöglicht und sinnerfüllte Geborgenheit verschafft?

Im Vordergrund der rechtspolitischen Debatte stehen zum einen das Asylrecht einschließlich Abschiebeschutz und daraus resultierenden "Bleiberechten" für abgelehnte Asylbewerber (sogenanntes kleines Asyl), zum anderen ein (vermeintlicher) Einwanderungsbedarf aus volkswirtschaftlichen Gründen. Eher marginal wird bislang der Familiennachzug thematisiert - erstaunlich auch deswegen, weil die meisten Migranten durch diese ausländerrechtliche Pforte kommen.

Ein deutscher Staat, der die brennenden Sorgen seiner Bürger ernst nimmt, muß die Praxis liebevoller Familienzusammenführung überdenken. Sosehr wir jedem Nicht-EU-Ausländer die Nähe seiner Angehörigen wünschen, so selbstverständlich sollte es andererseits sein, daß auseinandergerissene Familien sich regelmäßig in ihrem Herkunftsland vereinigen. Ausnahmen kommen in Betracht, wenn ein Nicht-EU-Ausländer bei Rückkehr in die Heimat rechtsethisch illegitimen Repressalien ausgesetzt ist, insbesondere also bei nachgewiesener politischer Verfolgung, oder etwa dann, wenn sein Aufenthalt in Deutschland dem berechtigten Interesse unseres Volks entspricht.

Daß zumindest Teile der im Bundestag vertretenen Parteien eine sinnvolle Neustrukturierung des Familiennachzugs wünschen, zeigte sich 2001/2002 in den parlamentarischen Debatten um eine Neufassung des Paragraphen 20 Abs. 2 Nr. 2 Ausländergesetz (AuslG). Otto Schilys Bemühungen, das Höchstalter beim Kindernachzug richtungweisend zu senken, fielen indes der rot-grünen Koalitionsräson zum Opfer. Der - vom Bundesverfassungsgericht gestoppte - Kompromiß des "Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes" (regelmäßiges Höchstalter zwölf Jahre mit zahlreichen Ausnahmetatbeständen) blieb weit hinter den Anforderungen rationaler Gesellschaftsarchitektur zurück.

Die Einbindung junger Muslime in die freiheitlich-individualistischen Kulturen des Westens mitsamt ihren nationalen Besonderheiten, in vagem Neudeutsch und meist relativierender Absicht "Integration" genannt , nähert sich oberhalb eines Nachzugsalters von sechs bis acht Jahren der Sisyphus-Schwelle. Dringender gebraucht hätten wir die Begrenzung im übrigen in den 1970er Jahren. Damals lebten noch 650.000 Kinder türkischer Zuwanderer, hundertmal mehr als heute, in ihrer Heimat. Tatsächlich wollten die regierenden Unionsparteien das Problem Mitte der 1980er Jahre mit einem restriktiven Gesetzesentwurf lösen. Sie scheiterten nicht nur an der Opposition, sondern auch am kleinen Koalitionspartner FDP, der nicht zum ersten Mal Liberalismus als freiheitliches Wertesystem mit permissiver Prinzipienarmut verwechselte. Die fatalen Folgen in Gestalt wachsender Parallelgesellschaften und eines mancherorts kollabierenden Schulwesens sind nicht erst seit Pisa bekannt.

Um so unabweisbarer wird eine Korrektur der einwanderungsfreundlichen Paragraphen 17 und 18 AuslG. Sie ermöglichen den Ehegattennachzug keineswegs nur für Paare, die zum Zeitpunkt der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis bereits verheiratet sind. Vielmehr werden die Paragraphen 17 und 18 AuslG auch dann zum Einfallstor, wenn ein in Deutschland aufenthaltsberechtigter Nicht-EU-Ausländer einen Menschen aus seiner Heimat heiratet ("nachfolgende Ehe") und die eheliche Gemeinschaft zudem ohne Schwierigkeiten im gemeinsamen (kulturellen) Herkunftsland aufgenommen werden könnte. Diese Nachzugsvariante kommt meist hierzulande geborenen oder als Minderjährige eingereisten Ausländern zugute. Ins Blickfeld rücken traditionalistisch erzogene Deutsch-Türken, junge muslimische Männer, die ungeachtet ihrer eigenen Verhaltensstandards von der künftigen Partnerin vor allem sexuelle Unerfahrenheit verlangen. Essentielle Gleichberechtigungspostulate werden nicht einmal im Ansatz akzeptiert. Auffallend häufig heiraten diese Männer keine Deutsche oder hier ansässige Türkin. Sie holen sich statt dessen eine mit der deutschen Sprache nicht vertraute, abseits westlicher Verhaltensmuster aufgewachsene Frau aus der türkischen Provinz. Resultat: Die unerträgliche Distanz vieler einheimischer Muslime zu Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland setzt sich von Generation zu Generation fort. Ein in der Geschichte unseres Landes einzigartiges Strukturphänomen!

Die sogenannten Volksparteien müssen endlich den damit verbundenen Zielkonflikt lösen. Wollen sie in Übereinstimmung mit dem Mehrheitswillen des deutschen Volks den Ehegattennachzug, vor allem bei nachfolgenden Ehen, spürbar einschränken? Wollen sie zudem eine Hinwendung nachziehender Ehegatten zu deutscher Sprache und Alltagskultur sowie dem Gebot umfassender Nächstenliebe und den freiheitlichen Gedanken der Aufklärung? Dann müssen sie das Ausländerrecht nachhaltig novellieren. Oder wollen sie aus qualvoller nationaler Allergie, aus alten deutschen Schuldkomplexen heraus die ungebremste multikulturelle Verdünnung unserer Nation? Dann dürfen sie untätig bleiben, werden sich aber bald einem explosiven Neben- oder Gegeneinander kaum kompatibler, gleichberechtigter Kulturen gegenübersehen. Die Existenzbedingungen der gerade im linken Spektrum beschworenen "Zivilgesellschaft" würden gesprengt. Als Heilmittel preisen alle staatstragenden Parteien die "Integration". Ohne Präzisierung und rechtsverbindliche Regelungen wird dieses Instrument aber bald an die Grenzen seiner Tauglichkeit stoßen.

Nach wie vor mangelt es an klärenden Analysen des Integrationsbegriffs, die auch seine Nähe zur Assimilation (Angleichung) herausarbeiten müßten. Der jeder Deutschtümelei unverdächtige Otto Schily hält Assimilation gar für die beste Form der Integration. Diese begriffliche Unschärfe kommt den Multikulti-Sehnsüchten des linken Spektrums entgegen. Sie fördert dessen Tendenz, Ausländer bereits dann für integriert zu erklären, wenn sie ein paar Brocken Deutsch verstehen oder Namen einheimischer Sportler aufzählen können. Eine solche Klassifizierung hilft jedoch niemandem, auch nicht Einwanderern bei der tastenden Suche nach neuer kultureller Identität. Zwar darf unter dem Etikett der Integration nicht in rechtlich geschützte Positionen eingegriffen werden. Zudem brauchen Zuwanderer sich nicht stärker anzupassen als Deutsche. Sie dürfen weder zum Hören einheimischer Radiosender noch zur vertieften Lektüre deutscher Dichterfürsten verpflichtet werden, ebensowenig zur Teilnahme an abendländischen Riten oder gar zum Eintritt in eine christliche Religionsgemeinschaft. Die Grundrechte des Art. 2 Abs. 1 GG (Freie Entfaltung der Persönlichkeit) beziehungsweise Art. 4 Abs. 1 GG (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit) verhindern das.

Trotzdem gibt es eine Lösung. Sie erschließt sich in einer problemadäquaten, national inspirierten Fortentwicklung des Konzepts einer europäischen Leitkultur (Bassam Tibi). Immigranten müssen die abendländische Zivilisation in ihrer deutschen Ausprägung als verbindlichen Verhaltensrahmen anerkennen. Der Kulturbegriff sollte hier als Gesamtheit geistiger Schöpfungen verstanden werden, die gesellschaftliches Verhalten beeinflussen. Auch der Begriff "deutsch" wird rein empirisch und frei von jenen chauvinistischen Beimengungen verwendet, die Nationalneurotiker sogleich assoziieren. "Eine deutsche Wahrheit, einen deutschen Gott als Aufgaben deutschen Strebens gibt es nicht, aber was ein Deutscher um der Sache willen tut, wird unentrinnbar deutsch." (Gustav Radbruch, 1932) Deutsche Kultur in diesem Sinne sind die von unserem Volk entweder geschaffenen oder als angemessener Ausdruck eigener Empfindungen von einem fremden Kollektiv entlehnten Schöpfungen des Geistes.

Der Führungsanspruch einer solchen Leitkultur verhält sich ambivalent. Er ist universell, wo es um fundamentale Errungenschaften unseres gemeinsamen abendländischen Wertgefüges geht (und verweist insoweit auf die allgemeine Hegemonie-Debatte zwischen den Hochkulturen der Welt, die keineswegs zwingend im clash oder gar war of civilizations US-amerikanischer Kriegsideologen enden muß). Und er ist beschränkt auf das soziale Leben in Deutschland, soweit die spezifisch deutsche Ausprägung der Leitkultur in den Vordergrund rückt.

Folgende unabdingbare Integrationsmerkmale lassen sich aus diesem Modell ableiten: erstens gute deutsche Sprachkenntnisse, zweitens das ernsthafte Bemühen um ausreichendes Erwerbseinkommen, drittens die uneingeschränkte Akzeptanz elementarer Verfassungsmaximen wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit einschließlich der ihren Schutz verbürgenden Staatsziele Demokratie, Rechts- und Sozialstaat, viertens ausreichende Informationen über die gesamte (also nicht auf die Jahre 1933 bis 1945 beschränkte) deutsche Geschichte und Kultur sowie fünftens - daran anknüpfend -- die vorbehaltlose Respektierung (nicht notwendig Übernahme) aller christlichen, ethischen, ästhetischen Grundwerte Mitteleuropas, sechstens die Beachtung deutscher Konventionen im Umgang mit der angestammten Bevölkerung und siebtens - in der Konsequenz - die allmähliche Identifikation mit dem deutschen Adoptiv-Vaterland.

Das Modell ist nicht nur verfassungskonform, seine aufklärerischen Inhalte würden die "Verfassungswirklichkeit" sogar merklich bessern. Es sollte im neuen Ausländerrecht, etwa in einem "Integrationsgesetz", verankert werden. Dieses muß hinreichende Eingliederungsangebote für Zuwanderer, aber auch Sanktionen bei fehlender Integrationsbereitschaft oder -fähigkeit vorsehen. Auf den Prüfstand gehört beispielsweise Paragraph 15 AuslG (Aufenthaltserlaubnis), der in Verbindung mit den Paragraphen17 ff. AuslG den zunächst befristeten Aufenthalt nachziehender Familienmitglieder ermöglicht. Aufenthaltserlaubnisse für offenkundig integrationsunfähige Nicht-EU-Ausländer, etwa Mitglieder fundamentalistisch-muslimischer Gruppierungen, sollten gesetzlich von vornherein ausgeschlossen werden.

Einer restriktiveren Fassung bedürfen auch die Paragraphen 24 und 27 AuslG, in denen die Erteilung einer "unbefristeten Aufenthaltserlaubnis" bzw. einer völlig uneingeschränkten "Aufenthaltsberechtigung" geregelt wird. Wer sich als Nicht-EU-Bürger in Deutschland trotz entsprechender Förderung nicht assimiliert oder wenigstens alle tragenden Kulturelemente unserer Nation übernimmt (sich also nicht integriert), sollte mit Ablauf seiner Aufenthaltsfrist wieder ausreisen müssen. Vonnöten ist ferner eine Rückkehr zum traditionellen, Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl wahrenden Staatsangehörigkeitsrecht. Deutscher Staatsbürger darf nur werden, wer von deutschen Eltern abstammt (ius sanguinis) oder seine Anpassung an tragende Kulturelemente und den Wertehorizont unseres Volks nachweist.

Liegt es am Multikulturalismus oder am wahltaktischen Kalkül des rot-grünen Spektrums? Wie dem auch sei: rationale, einer aufgeklärten Leitkultur verpflichtete Gesetzentwürfe kommen von keiner Bundestagspartei. Statt dessen kämpfte die SPD-geführte Regierung - teilweise erfolgreich - für ein pseudoliberales Staatsangehörigkeitsrecht mit massenhaften Einbürgerungen und doppelten Staatsbürgerschaften. Wie konnte es zu einer Entwertung des Begriffes "Volk" ohne breite öffentliche Diskussion überhaupt kommen? Wo sind Parlamentarier, die nach den Kürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz die Anreize zum alimentierten Verbleib in Deutschland weiter verringern? Was ist aus der in den 1980er Jahren vollmundig propagierten "Förderung der Rückkehrbereitschaft" geworden? Wann endlich melden sich Bundespolitiker, die (aufenthaltsberechtigten) Nicht-EU-Bürgern mit unüberbrückbarer Abneigung gegen Toleranz, Gleichberechtigung und die freiheitlichen Prinzipien des Grundgesetzes eine Rückkehr in die angestammte Heimat nahelegen (also beispielsweise Muslimen, die ihre Kinder unbeirrt in Koranschulen des Herkunftslandes schicken)? Ein derartiger Appell würde auch der schwierigen soziokulturellen Lage dieser Menschen Rechnung tragen. Er wäre zudem die natürliche Ergänzung zur Mahnung des Bundespräsidenten, sich durch Erlernen der deutschen Sprache stärker einzugliedern.

Bild: Fortunato Depero, "Köstlich mit Salz zum Campari", 1926: Für die Oberschichten hat die multikulturelle Gesellschaft vorwiegend angenehme Seiten

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Zuletzt schrieb er in JF 10/02 über "Zuwanderung nach Recht und Gesetz".


 
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