© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/03 27. Juni 2003

 
Stachel stumpf gemacht
Walter Thomas Heyn

Von der Krise der Kultur hören wir jeden Tag. Eine Schule macht dicht, eine kleine Bibliothek schließt, Musiker fliegen aus Orchestern, einem Kiez-Projekt geht die Luft aus. Die Antwort der Künstler darauf müßte eigentlich in den Orchestersälen und auf den Theaterbühnen zu sehen und zu hören sein: radikale Sichtweisen, gekonnte Unterhaltung, Gegenentwürfe wohl gar.

"Stadtluft macht frei", sagten unsere Urgroßeltern, aber diese Freiheit hat immer zwei Seiten. György Ligetis Oper "Le grand macabre" an der Komischen Oper Berlin handelt vor allem von den menschlichen Abgründen beziehungsweise Kehrseiten des Lebens und präsentiert folgerichtig neben nassen Hosen und manch nacktem Hintern auch eine eindrucksvolle Menge Fäkal-Müll. Die Reaktion des Regisseurs Barrie Kosky auf die politische Krise der Gesellschaft scheint vor allem auf eine Aufhebung der Ekelgrenzen hinauszulaufen.

Die Oper selbst ist ohne Kenntnis der literarischen Vorlage von Michel de Ghelderode kaum verstehbar. Nach einer lesbischen Liebesszene steigt Nekrotzar, der große Makabre, aus der Gruft, um seinen selbstgewählten Auftrag auszuführen. Er sucht sich einen Philosophen, der seiner Ehe-Domina entkommen will, und einen saufenden Landstreicher als Weggefährten. In der Hauptstadt findet gerade "Prinzenerziehung" statt, eine grausame Szene zwischen einem kleinen Jungen und den Politikern seines Reiches, die ihn beständig mit Hungerkuren und angedrohten Prügeln in ihre volksfeindliche Politik einzwingen. Nach einer Szene "im Himmel" verflacht dieser Entwurf allerdings zu einer banalen Beziehungskiste. Der große Makabre ist bloß ein verlassener Ehemann und entschwebt mit der Himmelsleiter. Den "Weltuntergang" überlebt haben die Säufer, die Kinder, die Philosophen und die Liebenden. Doch ein Rabbi, der Papst und ein Moslem stehen starr in der Wolkenstadt und versperren alle Perspektiven. Endlos lange schneit es, während sich unter der Stadt Fabelwesen ansiedeln. Licht aus, Ende.

Für viel Geld wurde große Kunst voller tiefsinniger, mehrdeutiger Bilder produziert. Brillante sängerische Leistungen sind zu vermerken, ein hinreißendes Bühnenbild, die vorzügliche Lichtregie, blendend aufgelegte Musiker, die zum Teil auch auf der Bühne agieren. Nur: Musiktheater wird so ganz schnell zum Seh-Theater, zur Schaubühne verkommen. Der Stachel gerade der Neuen Musik wird stumpf gemacht, funktionalisiert zur Folie für einen Film, den alle schon mal gesehen haben.


 
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