© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/03 04. Juli 2003

 
Politik ist ganz einfach
von Detlef Kühn

Vor etwa 35 Jahren erklärte mir der damalige Bundestagsabgeordnete und Außenpolitiker der FDP Ernst Achenbach: Politik sei ganz einfach. Man müsse vor allem wissen, was man will. Dann müsse man es an die tausend Mal bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit sagen. Etwa beim 1001. Mal werde man einen Menschen finden, der dasselbe sagt. Nun dürfe man auf keinen Fall zu erkennen geben, man habe das alles ja selbst schon tausendmal erklärt, sondern müsse statt dessen den Gesprächspartner für seinen guten Gedanken loben. "Danach", fügte Achenbach hinzu, "sind Sie schon zu zweit und können das Spiel mit größerer Aussicht auf Erfolg fortsetzen."

Gut, versuchen wir einmal, diese Achenbach-Version der Definition von Max Weber über das Bohren dicker Bretter in der Politik auf unsere heutige Situation anzuwenden. Was will ich, oder was will ich auf keinen Fall? Ich will zum Beispiel nicht, daß das deutsche Volk ausstirbt. Ich will auch nicht, daß Deutschland Schauplatz eines terroristischen Partisanenkriegs wird, in dem Einwanderer aus aller Welt ihre unterschiedlichen Ziele und Interessen gewaltsam durchzusetzen versuchen. Ich bin dagegen, daß Menschen nur deshalb nach Deutschland einwandern dürfen, weil sie glauben, unter unserem Sozialsystem besser als in ihrer Heimat leben zu können. Ich kann keinen Sinn darin sehen, Ausländer aufzunehmen, die anschließend in überdurchschnittlicher Weise als Armutsflüchtlinge unsere Sozialämter, als Arbeitslose unsere Arbeitsämter und als Kriminelle unsere Gefängnisse bevölkern. Mir genügen eigentlich die Probleme mit deutschen Arbeitslosen, Armen und Kriminellen.

Oder, ins Positive gewendet: Ich möchte gern, daß die Deutschen endlich lernen, ihre Interessen rational, aber entschlossen zu artikulieren und dann auch in der Welt durchzusetzen. Ich möchte, daß Deutsche die Geschichte ihres Volkes nicht länger als eine Art Strafregisterauszug empfinden, daß eine tausendjährige Geschichte mit allen Höhen und Tiefen gering geachtet und vernachlässigt wird, nur um Raum zu schaffen für die Behandlung der zwölf Jahre von 1933 bis 1945. Ich möchte, daß die Deutschen aus den unbestreitbaren dunklen Flecken in ihrer Geschichte selbst ihre Lehren ziehen und sich nicht im politischen Tagesgeschäft durch entsprechende Hinweise unter Druck setzen lassen. Und schließlich wünsche ich mir eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die die Probleme unseres Landes nicht zukünftigen Generationen aufbürdet, sondern selbst löst. Dazu bedarf es einer politischen Klasse, die weiter denkt als bis zum nächsten Wahltag.

Ist das schon zuviel verlangt? Vielleicht ist das deutsche Volk ja als Folge der Katastrophen des 20. Jahrhunderts und der mehrfachen Umerziehungsmaßnahmen dekadent geworden und gar nicht mehr in der Lage zu erkennen, was in seinem Interesse ist, und daraus die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen? Ausschließen kann man leider nichts, aber glauben möchte ich das eigentlich auch nicht. Schließlich ist es noch keine 14 Jahre her, seit die Deutschen in der DDR das dortige System zum Einsturz gebracht haben.

Danach haben die Deutschen im Westen mit großer Mehrheit die Einheit freudig akzeptiert, obwohl Intellektuelle ihnen über Jahrzehnte hinweg einreden wollten, die Teilung sei die verdiente Strafe der Deutschen für die Untaten der Nazis. Auf Dekadenz deutete das damalige Verhalten der Deutschen eigentlich nicht hin. Vielleicht wiederholt sich ja das Wunder von 1990!

Nun ist Hoffnung allein in der Politik kein ausreichender Ratgeber. Politik geht davon aus, daß die Verhältnisse steuerbar, mindestens beeinflußbar sind. Also - was tun? Eine Frage, mit der sich bekanntlich schon Lenin herumgeschlagen hat. Sicherlich kann es nicht darum gehen, detaillierte Pläne für alle Eventualitäten zu entwerfen. Einige Leitlinien für eine Politik, die wahrscheinlich aus der nicht länger zu übersehenden Krise Deutschlands herausführen würde, kann man aber schon aufzeigen.

Da seit der von Kanzler Kohl 1982 versprochenen, aber nicht eingelösten politisch-moralischen Wende schon viel zu viel Wasser den Rhein und die Spree herunter geflossen ist, kommt es darauf an, auf breiter Front einen Prozeß des Umdenkens einzuleiten. Dies muß auf zahlreichen Gebieten geschehen, von denen hier nur einige verkürzt und beispielhaft angesprochen werden können.

Beispiel Sicherheitspolitik: Die amtierende Bundesregierung geht derzeit davon aus, daß eine Kampffähigkeit der Bundeswehr im Inland nicht mehr erforderlich sei, da Deutschland sozusagen "von Freunden umzingelt" sei. Der Kampfauftrag müsse daher auf Interventionen in aller Welt zur Bekämpfung des Terrorismus und zum Erhalt des Weltfriedens ausgerichtet werden. Abgesehen davon, daß die Bundeswehr weder technisch noch nach ihrer Ausbildung in großem Umfang auf derartige Einsätze vorbereitet ist und es auch an den entsprechenden Finanzen fehlt (die Einsätze auf dem Balkan, in Afghanistan und am Horn von Afrika bringen sie bereits an das Ende ihrer Leistungsfähigkeit), mutet die diesem Konzept zugrundeliegende Beurteilung der Sicherheitslage recht blauäugig an.

Es ist durchaus möglich, daß der internationale Terrorismus in Verbindung mit der unkontrollierten Einwanderung vor allem aus der Dritten Welt und Teilen der ehemaligen Sowjetunion bald wieder die Bereitstellung von militärischem Potential auch und gerade in Deutschland erfordert. Es ist daher nur konsequent, wenn die politische Führung der Bundeswehr - vorerst wenigstens - noch die Wehrpflicht beibehalten will. Das allein wird aber nicht ausreichen.

Beispiel Finanzen: Seit Jahrzehnten war es ein wesentliches Mittel der Außenpolitik der Bundesrepublik, Schwierigkeiten im internationalen Bereich durch großzügigen Umgang mit deutschen Steuergeldern aus dem Wege zu gehen. Angesichts der immer bedrohlicher anwachsenden Verschuldung Deutschlands und der immer mehr steigenden Steuerbelastung mit allen Folgen für eine sich ausbreitende Schattenwirtschaft stößt diese Politik aber an ihre Grenzen. Sie trägt zum Ruin Deutschlands bei. Dennoch dürfte sie bei der Erweiterung der EU in Anbetracht der Erwartungen der Beitrittskandidaten fortgesetzt werden.

Der Kollaps rückt immer näher, mit allen seinen Folge für Deutschland und seine Nachbarn. Deswegen muß der deutliche Abbau der Nettozahlerrolle Deutschlands in unserer Europapolitik Priorität haben. Generell gilt, daß der Einsatz finanzieller Aufwendungen in der deutschen Außenpolitik im Interesse unserer Zukunftsfähigkeit rigoros beschränkt werden muß.

Beispiel Einwanderung: Es gilt, so schnell wie möglich Abschied zu nehmen von der Idee, die Einwanderung könne einen Ausgleich für die Folgen der Geburtenverweigerung der Deutschen bieten. Dies wird schon deshalb nicht funktionieren, weil die einwandernden Ausländer hier besser leben wollen als in ihrer Heimat, nicht aber den Deutschen die Folgen einer katastrophalen Überalterung der Gesamtbevölkerung abnehmen wollen. Wir müssen schon froh sein, wenn es gelingt, die derzeit hier lebenden Ausländer (oft der zweiten oder gar dritten Generation mit immer noch dürftigen deutschen Sprachkenntnissen) einigermaßen zu integrieren und mit den kulturellen Gegebenheiten in Mitteleuropa vertraut zu machen. Dies kann nur gelingen, wenn die weitere Zuwanderung in unser Sozialsystem verhindert wird.

Daß im Schnitt ein Drittel aller Sozialleistungen an Ausländer geht, die allenfalls zum Anwachsen der Schattenwirtschaft oder der berufsmäßigen Kriminalität, nicht aber zum Bruttosozialprodukt beitragen, ist nicht zu verkraften. Hier schnell Abhilfe zu schaffen, bringt auch Spielraum für dringend nötige Steuersenkungen, die wiederum die wichtigste Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum in Deutschland sind, das derzeit im EU-Rahmen an letzter Stelle liegt.

Beispiel Familienpolitik: Vom Erfolg oder Mißerfolg der Familienpolitik hängt viel ab, nicht zuletzt auch unsere innere Sicherheit. Eine Politik, die sich ausdrücklich das Ziel setzt, die Reproduktion des deutschen Volkes zu ermöglichen, ist die Voraussetzung für eine bessere Geburtenrate und damit die Bekämpfung der katastrophalen demographischen Entwicklung in den letzten dreißig Jahren. Daß so etwas auch unter europäischen Bedingungen möglich ist, beweist nicht zuletzt die Entwicklung in unserem Nachbarland Frankreich, das wieder einen Geburtenüberschuß aufweist. Eine Steuer- und Sozialpolitik, die mit Vorrang die Mehrkinderfamilie fördert, ist hierfür das beste Mittel. Dabei sollte es den Eheleuten überlassen bleiben, ob die Frau berufstätig ist oder sich lieber der Kindererziehung widmet. In beiden Fällen darf die Familie materiell nicht schlechter gestellt werden als kinderlose Paare. Unbedingt zu vermeiden ist, daß Mütter (oder gegebenenfalls auch Väter, was sicherlich auch in Zukunft die Ausnahme sein wird), die sich "hauptamtlich" der Kindererziehung widmen wollen, gesellschaftlich diskriminiert werden.

Die Erziehung durch die Eltern ist nach allem, was wir wissen, grundsätzlich der durch familienfremdes Personal vorzuziehen. Diese Aussage mindert nicht im geringsten die verdienstvollen Leistungen von Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen. Insgesamt muß der grundgesetzliche Auftrag, Ehe und Familie zu schützen, wieder ernst genommen werden. Der derzeit festzustellende Verfall dieser seit Jahrtausenden bewährten Institutionen ist dem hedonistischen, aber unbeständigen Zeitgeist geschuldet. Er wird wohl kaum von Dauer sein. Gerade in Zeiten des materiellen Niedergangs haben sich Ehe und Familie immer auch als die beste Sozialversicherung bewährt.

Und schließlich das Beispiel Europapolitik: Demnächst wird die Europäische Union aller Voraussicht nach um die Beitrittskandidaten Polen, Tschechien, Slowenien und die baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen erweitert. Trotz dieser enormen Ausdehnung ist die wichtigste Frage der Europapolitik noch nicht klar beantwortet: Soll Europa ein Bundes- oder gar Einheitsstaat werden, oder soll es als "Europa der Vaterländer" die bisherigen Nationalstaaten beibehalten?

Für die Europapolitiker fast aller deutschen Parteien ist diese Frage anscheinend entschieden. Sie wollen den Bundesstaat mit umfassenden Kompetenzen, in dem allenfalls noch "Regionen", möglichst unter Überwindung nationaler Grenzen, ein beschränktes politisches Eigenleben führen. Auf diese Weise hoffen sie, der deutschen Vergangenheit zu entkommen. Allen Absagen an vermeintliche oder wirkliche "deutsche Sonderwege" zum Trotz ignoriert unsere politische Klasse dabei völlig, daß sie nun erst recht im Begriff ist, einen Sonderweg zu beschreiten.

Es fällt schwer zu glauben, daß eine veränderte Politik mit unserer bisherigen politischen Elite machbar sein könnte. Sie ist in Regierung und Opposition durch die folgenreichen Fehler der vergangenen Jahrzehnte viel zu sehr mit den Ursache unserer Misere verbunden. Sicherlich gibt es im Führungsnachwuchs der politischen Parteien auch Kräfte, die die Dinge realistisch sehen und den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gewachsen sein könnten. Insgesamt überwiegt aber in allen Parteien eine Mehrheit, die sich seit langem angewöhnt hat, die Augen vor den Problemen zu verschließen und sich mit den Folgen abzufinden, wenn nur sie persönlich noch hoffen dürfen, nicht unmittelbar betroffen zu werden.

Von diesen Kreisen ist ein Umdenken nicht zu erwarten. Dieser Tatsache muß sich jeder Wähler bewußt sein. Es genügt nicht mehr, das vermeintlich kleinere Übel zu wählen, das leider untrennbar mit dem größeren verbunden ist. Man muß alle Parteien laut und deutlich mit den Folgen ihres unverantwortlichen Tuns konfrontieren. Vielleicht ist der Versuch, den Staatsbürger im Sinne Arnulf Barings auf die Barrikaden zu treiben, bevor alles noch schlimmer wird, doch nicht ganz aussichtslos.

Ob ein erfolgreicher Politikwechsel noch möglich sein wird, ist angesichts des Ausmaßes unserer in erster Linie geistig-moralischen Misere zweifelhaft. Es kann durchaus sein, daß das materielle Elend erst unvorstellbar größer werden muß, bevor ein Neuanfang in Deutschland möglich wird. Allerdings dürfte dieser ohne die Deutschen als das maßgebende Volk in Mitteleuropa erfolgen. Nicht nur die Heimat der Deutschen, sondern ganz Europa wird sich dann entscheidend verändert haben.

Ein nicht unwesentlicher Teil unserer politischen Klasse, darunter nicht nur Grüne, sieht einem Abtreten der Deutschen als gestaltende Kraft zumindest in Mitteleuropa voller Hoffnung entgegen. Sie träumen von einem "europäischen Volk", das außer ihnen zwar niemand in Europa will und das sich nicht einmal schemenhaft am Horizont abzeichnet. Dennoch versprechen sie sich davon so etwas wie ein permanentes fröhliches multikulturelles Straßenfest. Diese Erwartung dürfte sich bald als irrig erweisen. Zustände wie jetzt schon in Palästina, Afghanistan oder Tschetschenien sind ungleich wahrscheinlicher. Wer sie nicht wünscht, hat nicht mehr viel Zeit, die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen.

Tullio Crali, "Die Kräfte der Kurve", 1930:

 

Detlef Kühn, Jahrgang 1936, war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn, danach Direktor der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen