© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/03 11. Juli 2003

 
"Das Ausmaß war ungeheuerlich"

Der DDR-Experte Jörg Bernhard Bilke über die Rosenholz-Datei und die Unterwanderung der Bundesrepublik durch das MfS
Moritz Schwarz

Herr Dr. Bilke, was genau enthalten die "Rosenholz"-Dateien, auf deren Auswertung Politiker, Historiker und Journalisten derzeit gespannt warten?

Bilke: Der Code-Name "Rosenholz" bezeichnet die Karteisätze F16 und F22 des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die die CIA 1990 unter ungeklärten Umständen an sich gebracht hat. Die Personenkartei F16 enthält Klarnamen und Registriernummern tausender Stasi-Spione. Nicht daraus hervorgeht allerdings, wer als Spitzel und wer als Bespitzelter geführt worden ist. Dies läßt sich anhand der F22-Kartei feststellen, die die Decknamen und die operativen Vorgänge des MfS-Auslandsgeheimdienstes Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) verzeichnet. Wobei Hauptangriffsziel dieses "Auslands"-Dienstes Staat und Bürger in Westdeutschland waren.

Eine Tatsache, die in der westdeutschen Öffentlichkeit ab Ende der sechziger Jahre intensiv verdrängt wurde.

Bilke: Das Ausmaß der Unterwanderung der Bundesrepublik war in der Tat ungeheuerlich! Nicht nur, daß - wie bekannt - die Stasi etwa durch ihren Spion Günter Guillaume sogar den Sturz eines Bundeskanzlers verursachen konnte, sie beeinflußte auch massiv westdeutsche Medien, und es gelang ihr sogar, verschiedene Organisationen entweder - wie die Friedensbewegung - für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, oder - wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte - unter erheblichen Druck zu setzen. Vor allem aber gelang es ihr, mindestens 11.000 Westdeutsche als Agenten für ihre Infiltration und Destabilisierung der Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen.

Fachleute gehen davon aus, daß einige dieser 11.000 Agenten heute in Amt und Mandat sind, dennoch will sich keine öffentliche Empörung einstellen.

Bilke: Erstaunlicherweise will die Mehrzahl der Deutschen heute nichts mehr wissen von den Verbrechen der Stasi. "Schwamm drüber", daß das MfS Menschen "zersetzt", also bis zum Grunde ihrer Persönlichkeit fertiggemacht, Familien zerstört und sogar verschleppt und gemordet hat - ganz zu schweigen von den politischen Gefangenen.

Der Berliner Historiker Hubertus Knabe stellt fest, in Deutschland gelten die Verbrechen der Stasi beinahe schon als "Kavaliersdelikte".

Bilke: Das ist leider genau das richtige Wort. Die Westdeutschen glauben immer noch, Stasi sei ein Thema, das vor allem die ehemaligen DDR-Deutschen angehe. Die Rosenholz-Daten beweisen aber, daß das ein Irrtum ist. Wer im Westen weiß schon, daß die DDR zum Beispiel bereits die Bürgermeisterposten für die 50 größten westdeutschen Städte verteilt hatte? Die Eroberung der BRD war real geplant. Die Rosenholz-Daten könnten uns endlich klar machen, daß die Stasi als Repressionsapparat der DDR - unser bisheriges Geschichtsbild - nur die halbe Wahrheit ist, ebenso war sie ein Apparat der Aggression gegen die Deutschen im Westen.

Selbst die Bundesanwaltschaft hat eingeräumt, daß viele Verfahren gegen Stasi-Spitzel aus "Opportunitätsgründen" oder im "Lichte der Wiedervereinigung" eingestellt worden sind.

Bilke: Das bedeutet doch, die Politik, die im Westen etwa von 1969 an gemacht wurde, und die doch 1989 grandios widerlegt worden ist, wider jede historische Erfahrung fortzusetzen, dem Unrecht der DDR eine gewisse Permanenz zu verleihen. Damit wird die Wiedervereinigung zu einem Synonym für eine zweite Schuld, statt für Gerechtigkeit, wie das so viele Menschen vor 1989 sich immer erhofft hatten. Mielke selbst hat 1984 - entgegen den Befürchtungen seiner Untergebenen, die genau davor Angst hatten, daß die Daten irgendwann einmal kompakt ihren Feinden in die Hände fallen könnten - die Erstellung dieser zentralen Kartei angeordnet. Nun sind wir dadurch tatsächlich in den Besitz dieser Daten gelangt - doch die Abrechnung bleibt dennoch aus. Was für eine Ironie der Geschichte.

Mit der Rosenholz-Kartei hätte sich die Stasi also quasi selbst ans Messer geliefert?

Bilke: Das ist nicht so verwunderlich, schließlich hat sie sich auch hinsichtlich der Wende selbst matt gesetzt. Die Gier, Daten zu sammeln, führte zu einem solchen Stau an Informationen, daß sie mit der Auswertung der Daten um Jahre in Verzug geriet. Als sich 1989 die Wende ankündigte, steckte die Stasi quasi noch im Jahr 1985. 1993 wäre die Stasi wohl soweit gewesen, 1993 hätte sie sozusagen den Mauerfall 1989 durchaus verhindern können, doch da war er eben schon vorbei.

Zu den 11.000 Spitzeln im Westen kommen etwa 40.000 in Mitteldeutschland. Dieser Zahl stehen aber bislang nur rund 200 Verurteilungen mit lediglich knapp 70 Urteilen über zwei Jahren gegenüber. In etwa 1.200 Fällen wurde das Verfahren eingestellt. Man könnte meinen, so schlimm kann es in der DDR nicht gewesen sein.

Bilke: Das ist das Fatale, die Signalwirkung. Nennen Sie mir nur einen prominenten DDR-Führer, der sitzt. Sagen Sie bloß nicht Krenz, der liegt nämlich nur - er ist Freigänger und muß nur über Nacht in den Knast. Mielke, Stoph, Honecker, alle sind sie ungeschoren davongekommen. Man muß nach den Erfahrungen mit der verfehlten Aufarbeitung der Zeit zwischen 1933 und 1945 leider konstatieren, daß die Aufarbeitung der DDR-Diktatur gescheitert ist. Man kann nur hoffen, daß eine spätere Generation auf Grundlage der Rosenholz-Dateien ihre Eltern und Großeltern einmal dafür zur Rede stellen wird.

 

Dr. Jörg Bernhard Bilke 1937 in Berlin geboren, wurde der Mainzer Germanistikstudent 1961 bei einem Besuch in Leipzig verhaftet, weil er in einer westdeutschen Studentenzeitung eine Artikelserie über die DDR geschrieben hatte. Nach drei Jahren Haft wurde er freigekauft. Der DDR widmete er sich über Jahrzehnte hinweg, unter anderem arbeitete er für die Ostakademie Lüneburg und den Ostdeutschen Kulturrat.

 

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