© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/03 11. Juli 2003 |
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Kolumne Wiedervereinigt Rolf Stolz Karl Liebknecht, eine der mutigsten und unbestechlichsten Gestalten in unserer an Empörten reichen und an Empörern armen Geschichte, stand allein, als er im Reichstag die Kriegskredite ablehnte - aus politischer Überzeugung, aber auch aus der prophetischen Ahnung, daß alle Finanzmittel die Katastrophe des vor 1914 eingekreisten und nach 1914 im Mehrfrontenkrieg aufgeriebenen Deutschlands nicht verhindern, sondern ihr Ausmaß nur noch vergrößern konnten. Zwar wiederholt die Geschichte sich eher nicht - dennoch ist die Erinnerung hilfreich, wenn in diesen Tagen im deutschen Bundestag nur ein einziger Abgeordneter es wagte, sich bei der Abstimmung über die Aufnahme Polens in die EU der mehrheitlichen Verblendung, Feigheit und Minimalmoral zu verweigern. All die Menschenrechtsapostel und Freiheitsrhetoriker, die in Berlin von der "Wiedervereinigung Europas" faselten, erinnerten sich nicht einen Augenblick an den einstimmigen Beschluß des Bundestages vom 23. Juni 1994: "Vertreibung jeder Art ist international zu ächten und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden. Wer vertrieben wurde, hat Anspruch auf die Anerkennung seiner Rechte." 1994 meinten die Abgeordneten Bosnien und noch fernere Länder - aber genau dasselbe Prinzip muß ja Anwendung finden auf ein Land wie Polen, das 1916 mit deutscher Hilfe keimhaft wiedererstand, 1918-1920 Hunderttausende Deutsche aus Posen, Westpreußen und Ostoberschlesien vertrieb, bis 1939 Deutsche (und neben jüdischen Deutschen auch alle anderen Juden) zunehmend drangsalierte, das Massaker des "Bromberger Blutsonntags" verübte und so Hitler Vorwand und Vorbild für seine Verbrechen am polnischen Volk lieferte. So wie die Deutschen in ihrer übergroßen Mehrheit den Judenmord, der als Bürger- und Bruderkrieg von Deutschen gegen Deutsche begann, genausowenig verdrängen wie die Massaker an polnischen und russischen Zivilisten, muß in Polen und Tschechien fast sechzig Jahre nach den mörderischen Vertreibungen eine historische Wende durchgesetzt werden, müssen die Völker sich ihrer geschichtlichen Verantwortung für Einsicht, Umkehr und Sühne stellen. Landraub darf sich nicht lohnen, Massenmord noch weniger - auch dann nicht, wenn einige der Räuber und Mörder zeitweise selbst Opfer von Raub und Mord waren. Nur ein Polen, das sich den eigenen Verbrechen stellt, das in schonungsloser Ehrlichkeit die Vergangenheit bewältigt und tätige Reue übt, gehört zu Europa.
Rolf Stolz ist Mitbegründer der Grünen. Heute lebt er als Publizist in Köln. |