© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/03 11. Juli 2003 |
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Nachspiel zur Krise-Debatte Angelika Willig Nach der Tragödie kommt in den antiken Theatern das Satyrspiel. Die Forum-Serie "Wege aus der Krise", die seit dem 28. März in der jungen freiheit erscheint, verlief so ernst und düster, wie es dem Thema angemessen ist. Darf man zum Schluß auch etwas Ironie verbreiten? Sicher nicht über die behandelten Themen - Alter, Krankheit, Armut entziehen sich dem Witz hartnäckig. Doch über sich selbst und die eigene Anmaßung, diesen Problemen eine Lösung entgegenzusetzen, darf gespottet werden. Denn an Patentlösungen glauben wir alle nicht mehr. Daß die Politiker alle schwachsinnig und korrupt sind, die führenden Medien bloß politisch korrekten Mief verbreiten und die Bevölkerung - soweit überhaupt noch des Deutschen mächtig - nur Brot und Spiele verlangt, ahnten wir bereits. Doch diesmal sind auch die gefragt, die sich bislang vornehm zurückhielten, also die konservative Intelligenz. Schon rückt der Augenblick heran, wo die Lage so verzweifelt sein wird, daß der Bundestag sich offiziell an uns wendet, um sich nach einer Lösung zu erkundigen. Mancher könnte enttäuscht sein, daß die Beiträge nichts völlig Neues bringen. Doch daraus spricht nur, wie sich konservative Forderungen inzwischen überall verbreitet haben. In ehemals linken Fernsehmagazinen ruft man nach Autorität, Strenge und höheren Strafen. Es erscheinen Bücher über Erziehung, die Vorbilder braucht, und sogar der Skandalregisseur Frank Castorf verkündet: "Religion ist ein Lebensanker." Man könnte schon befürchten, daß die geistig-moralische Wende ohne die langjährigen Streiter stattfindet, die sich so oft für etwas auslachen lassen mußten, was heute schon fast wieder schick ist. Doch das wäre voreilig. Eine Auflockerung des Konsens der 68er, die das Feld langsam räumen, ist noch kein Neuanfang. Denn viel zu stark wirkt die anerzogene und angewöhnte Bequemlichkeit, die jede richtige Einsicht zunichte macht. Das größte Problem ist nicht, die Notwendigkeiten zu erkennen, sondern sie durchzusetzen. Darüber sind sich auch unsere Autoren im klaren. Ulrich Penski schlägt eine Länderreform vor, also eine deutliche Verkleinerung der Zahl der Bundesländer. Doch gerade diese Reform wird sich wahrscheinlich noch schwerer durchsetzen lassen als die Abschiebung aller illegalen Ausländer, denn am föderalistischen Aufwand verdienen Personen, die hierzulande doch noch ein bißchen mehr zu sagen haben als hysterische Gutmenschen aus Kirche und Universität. Zudem würde die Abwicklung eines Bundeslandes wiederum einen deutlichen Aufwand erfordern. In Kabel-1 lief neulich der alte Spielfilm "Flug des Phönix" mit Steward Granger (schon etwas angegraut) und Hardy Krüger (wie frisch aus dem Ei geschlüpft). Mitten in der Wüste muß ein kleines Flugzeug mit acht Männern notlanden. Dort gibt es nichts - kein Wasser, keine Nahrung, keine Straße und keine Hoffnung, jemals gefunden zu werden. Das ist eine Krise, wie sie Konservative lieben: der Mensch im Kampf mit den übermächtigen Naturgewalten. Das haben wir 10.000 Jahre lang gehabt und uns dabei wacker geschlagen. Ab und zu allerdings streikt die Technik, und man muß sich auf seine alten Kräfte besinnen. "Flug des Phönix" bietet auch nationale Hochgefühle. Ausgerechnet ein Deutscher ist es, Hardy Krüger, der den rettenden Einfall hat, das Flugzeug wieder flottzumachen. Er gibt sich als Konstrukteur zu erkennen und erteilt fachkundige Befehle an die durch Durst und Hitze bereits ausgelaugte Mannschaft. Es kommt Murren auf: "Warum habt ihr denn nicht den Krieg gewonnen, wenn ihr so tüchtig seid?" Das geht dem deutschen Zuschauer herunter wie Öl. Etwas Hochstapelei: der deutsche Ingenieur ist in Wahrheit nur Spezialist für kleine Flugzeugmodelle. Doch in der Not frißt der Teufel Fliegen. Zufrieden geht man ins Bett: Warum kann unsere Krise nicht so sein? Seien wir froh, daß sie nicht so ist, denn solche echten Krisen gehen meist schlecht aus und bringen dann mehr Unannehmlichkeiten als eine erhöhte Zuzahlung bei der Krankenkasse. Andererseits ist es wahr, daß eine existentielle Krise leichter zu bewältigen ist als chronisches Leiden - vorausgesetzt, die existentielle Krise wird überlebt. Da man das aber nie weiß, verbieten sich politische Abenteuer in Richtung "Aufstand". Dann lieber das Siechtum, das wir so gut von unseren Sozialsystemen kennen. Einer müßte den Mut haben, einfach alles Soziale zu streichen, alle Parteien und Gewerkschaften zu verbieten und aus allen internationalen Bündnissen auszutreten - und dann sehen, was passiert. Würden die Leute auf der Straße verhungern wie in Kalkutta? Würden die Amerikaner einmarschieren? Würden die Rundfunkanstalten zumachen? In Rom gab es die Diktatur auf Zeit für politische Krisensituationen, und nicht in einem Fall ist diese Einrichtung außer Kontrolle geraten. Bei den Pavianen funktioniert der Wechsel zwischen Disziplin und Selbstverwirklichung ganz reibungslos. Ist die Lage gut, wirken die Affen verspielt, foppen sich gegenseitig und ziehen Grimassen, eine richtige Spaßgesellschaft. Doch kaum tritt eine Gefahr auf, wenden sich alle blitzartig dem Leittier zu und warten auf Anweisungen. Dieser "Krisenreflex" könnte für uns beispielgebend sein - nur bleibt die Frage, woran die Paviane das Leittier und seine überragenden Fähigkeiten erkennen. Der wunde Punkt liegt eindeutig beim Gemeinschaftsbegriff. Der historische Zeitpunkt, an dem wir uns gerade befinden, gibt das Soziale und Ökonomische als herrschendes Thema vor. Das paßt dem Konservativen zwar nicht, weil er sich seit 200 Jahren weigert, das Thema wichtig zu finden, aber wenn er mitreden will, muß er es akzeptieren. Auch unsere Autoren haben sich weitgehend danach gerichtet. Arno Surminski, Eberhard Straub und Roland Baader tun das explizit, Ulrich Beer und Klaus Motschmann relativieren das Wirtschaftliche durch ein dahintersteckendes religiöses Motiv, die übrigen beschwören eher indirekt den Zusammenhang bzw. Widerspruch zwischen Geist und Geld. Der Beitrag zur "Stärke der Schwachen" versucht, die grundlegende Spannung zwischen dem Nationalen und dem Sozialen aufzuzeigen, die in jeder konservativen Äußerung zur Wirtschaftspolitik steckt. Allerdings muß man dazu nicht mit Nietzsche argumentieren. Es ist ganz einfach: Der Konservative ist grundsätzlich für den Kampf ums Dasein und das Recht des Stärkeren, daher müßte er eine wirtschaftsliberale Position befürworten. Allerdings hört seine darwinistische Orientierung an den Landesgrenzen auf, oder böswillig gesprochen, seine Sichtweise ist durch diese Grenzen beschränkt. Daher mischen sich in dem Beitrag von Björn Schumacher wieder einmal die Argumente der Wirtschaft für eine streng selektive Zuwanderung mit der idealistischen Sehnsucht nach einer "geschlossenen Kultur". Wie oberflächlich diese Sehnsucht ist, zeigt sich aber bei jeder rechten Veranstaltung spätestens "nach dem dritten Bier", wenn die Aneignung schlecht genutzter Territorien durch fähigere Artgenossen - in der Verhaltensbiologie "Revierkämpfe" genannt - in der Geschichte allgemeine Zustimmung findet. Wer Migration prinzipiell ablehnt, müßte sich schleunigst nach Afrika begeben, denn dort sind wir alle einmal hergekommen. Unter den verärgerten Wählern gibt es einige, die am liebsten die ganze Wirtschaftskrise den Ausländern oder in einer eleganteren Version den ausländischen Konzernen und der Globalisierung in die Schuhe schieben wollen. Dabei ist umgekehrt der deutsche Wohlstand, den wir einige Jahrzehnte in vollen Zügen genießen durften, nicht zuletzt auch auf die Ausländer und die Globalisierung zurückzuführen. Wir haben teure Autos und Maschinen ausgeführt und dafür schön kassiert, selbst aber billige Lebensmittel und Textilien im Ausland gekauft und die Dienstleistungen im Inland von billigen Gastarbeitern machen lassen. Irgendwann mußte sich das wunderbare System gegen uns kehren, weil jeder mal dran ist und nicht immer nur einer. Gebildete nennen das "ausgleichende Gerechtigkeit". Das Nationale und das Soziale gehören also zusammen - allerdings in beiden Richtungen. Wer national denkt, muß sich auch für die Volksgemeinschaft im Inneren einsetzen, wenigstens so weit, daß kein soziales Elend entsteht und damit ein Herd von Unruhen. Aber wer soziale Ziele anstrebt, muß sie auch territorial oder sonstwie eindeutig begrenzen - weil sonst genau das passiert, was den vielen humanitär Engagierten inzwischen passiert ist - sie haben ein Faß ohne Boden aufgemacht, und wer jetzt darunter leidet, sind nicht die reichen Deutschen, sondern die deutschen Armen. Gegen die linken Sozialromantiker haben die rechten Sozialromantiker tatsächlich die viel besseren Argumente. Einige benachteiligte Jugendliche aus den strukturschwachen Gebieten sind daher nationalistisch mobilisiert worden, und es könnten mehr werden, wenn im nächsten Herbst tatsächlich nur dreißig Prozent eine Lehrstelle bekommen. Doch angenommen, man wollte diese nationalen Ansätze aufgreifen und ins Produktive wenden - mit welchen Argumenten sollte man die jungen Leute ansprechen? Da reicht es nicht, wenn Eberhard Straub mit vielen zutreffenden Worten die soziale Marktwirtschaft und ihre Errungenschaften verteidigt. Die Jungs wollen Knete sehen. Teils mit Abscheu, teils mit einer heimlichen Hoffnung werden Arbeitsdienst und Autobahnbau ins Spiel gebracht, aber warum hat man nie den Lehrer gefragt, woher dafür eigentlich das Geld kam? Eine Maut-Gebühr für durchreisende Italiener kann es wohl kaum gewesen sein. In der "Feuerzangenbowle" gibt es einen Physiklehrer aus dem Rheinland, der jede Erklärung mit den Worten beginnt: "Da stelle mer uns janz dumm." Ein pädagogisch genialer Zug. Bei der Volkswirtschaft könnte das "Dummstellen" damit beginnen, daß man sich das Geld ganz wegdenkt. Was würde passieren? Ganz einfach: Die Tauschwirtschaft würde wieder eintreten. Die eigene Arbeitsleistung wird im Tausch gegen Güter und Leistungen erbracht, über die andere verfügen. So wird klar, was die Ursache der sogenannten Arbeitslosigkeit ist. In Form von Sozialleistungen und überhöhten Löhnen teilt man Güter aus, für die es keinen Gegenwert gibt. Deren Empfänger haben für das, was sie genießen wollen, weder genügend bezahlt noch genug geleistet. Und so fehlt an allen Ecken und Enden "das Geld". Was eigentlich fehlt, ist eine Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, die den materiellen Ansprüchen äquivalent ist. Je mehr unproduktive Verbraucher mitgeschleppt werden und je mehr diese am Wohlstand partizipieren, desto weniger Geld ist da, sei es in staatlichen Einrichtungen oder in der Privatwirtschaft. Es fehlt also in Wirklichkeit nicht an Arbeit, sondern an Leistung, um den Wohlstand aufrechtzuerhalten. Daß Kapital sozusagen geronnene Arbeit ist, stammt zwar von Marx, ist aber trotzdem richtig. Die ganz klare Stärke konservativer Intelligenz ist die Zustandsbeschreibung und mehr noch die eindeutige Wertung dieses Zustandes. Darin durfte der Leser von "Wege der Krise" drei Monate lang schwelgen. Besonders der Beitrag von Doris Neujahr ist angetan, um das Geschäft zu durchschauen, das Wahl für Wahl zwischen den Parteien und ihren Kunden abläuft, Sozialversprechen gegen Wählerstimme. Was soll man dagegen machen? Eine weitere Partei gründen, die - wenn überhaupt - auch nur auf diesem Weg an die Macht kommen kann? Ein Getränkeautomat spuckt nun mal keine Zigaretten aus, da mag man rütteln wie Schröder am Kanzleramt. Dies wissend, setzt sich auch keiner unserer Autoren für eine Neugründung ein. Erst recht nicht dafür, in den alten Parteien - inklusive der Bonsai-Landschaft - Kräfte einzusetzen. Vielmehr herrscht eine bemerkenswerte Hoffnung auf die "Stimme der Vernunft". Nicht daß wir an sie nicht glaubten. Nur muß die Vernunft, je weniger Machtträger sie hinter sich hat, desto mehr Überzeugung hervorrufen. Hätte jemand ein schlüssiges Konzept, wie sich die Verzichtleistungen im nötigen Umfang - einem viel größeren, als bisher diskutiert wird - durchsetzen lassen, so würde sich die Partei schon finden. Nicht die Macht lenkt die Zukunft, sondern der Geist. Das Problem ist nur, daß es ein solches Konzept nicht gibt. Der Appell an die Vernunft reicht nicht, um den Bürger dazu zu bringen, freiwillig etwas abzugeben, damit Rentner und Sozialhilfeempfänger nicht darben müssen. Mit solchen Bitten preßt man vielleicht aus den Reichen ein paar Euro heraus. Die überwiegende Mehrzahl aber hat gar nichts zu verschenken. Kaum geht man daran, dem Bundesbürger ein Stückchen seines weltbekannten Wohlstandes zu nehmen, zeigt sich, daß dieser Wohlstand gar nicht so groß ist. Die verbreitete Verschuldung ist inzwischen bekannt. Die meisten verschulden sich aber nicht, weil sie spielsüchtig sind, jeden Tag ins Bordell gehen oder sich alles kaufen, was ihnen einfällt. Das fremdfinanzierte Eigenheim ist bloß Folge unbezahlbarer Mieten, vor allem für Familien mit zwei und mehr Kindern. Auch die Reduzierung medizinischer Leistungen auf das "Notwendige" ist nur auf den ersten Blick überzeugend. Denn da fängt die Frage schon an, ob sich Unvermögende künftig die letzten Lebensjahre von Brei ernähren sollen, oder was letztlich teurer ist, eine allgemeine Krebsvorsorge oder ein paar Krebskranke mehr. Das Schlimme am Wohlstand ist, daß das Existenzminimum darin immer höher wird. Bis auf Auto und Urlaubsreise gibt es nichts, auf das der Normalverdiener bei entsprechender Einsicht verzichten könnte. Wenn der Sozialabbau so betrieben wird, wie es nötig ist, um diesen Staat zu sanieren, dann verarmen größere Teile der Bevölkerung so, daß Fernsehen und Einkaufen bei Lidl zum einzig finanzierbaren Vergnügen wird. Wenn der brutale Abbau nicht stattfindet, dann bricht das System zusammen - mit etwa den gleichen Auswirkungen. "Die Wirtschaft ist unser Schicksal", erklärte bereits der Liberale Walther Rathenau. Zynisch gesehen, brauchen wir uns also gar keine Gedanken zu machen. Es kommt doch, wie es kommen muß, und nicht besser. Es ist eine wohltuende Nüchternheit eingezogen, eine geradezu klassische Haltung - womit wir wieder bei der Tragödie wären. Sie funktioniert ja nur bei einer gewissen "Fallhöhe"; Sinnlosigkeit und Entehrung treiben den Fürsten zur Verzweiflung, im Call-Center ist es das tägliche Brot. So gibt es auch Nationen, die es viel schlechter haben als wir und sich kaum darüber aufregen. Das gilt nicht nur für Brasilien oder den Kongo, sondern auch für weite Schichten in den USA. Sie sind längst zur Komödie gewechselt wie der Streikposten im Kampf um die 35-Stunden-Woche, der seinen Kollegen fragt: "Warum fordern wir nicht gleich die volle Arbeitslosigkeit?"
Dr. Angelika Willig, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Lateinische Philologie in Freiburg und München. |