© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/03 18. Juli 2003

 
Appell an die Nation
Warum die Erinnerung an den 20. Juli in Deutschland so unbequem ist
Eberhard Straub

Mit dem 20. Juli haben die Deutschen ihre besonderen Schwierigkeiten. Die Kreise der Verschwörer galten nach dem Krieg doch als sehr gemischt und unübersichtlich. Zu den Verschwörern gehörten Offiziere, Junker, also die Vertreter des preußischen Militarismus, wie es nicht nur unter den Siegern hieß. Zu den Verschwöreren gehörten ebenfalls Proletarier. Sie schritten Seit' an Seit' mit ihren angeblichen Zwingherrn. Das machte sie im nachhinein verdächtig. Handelte es sich doch um Kommunisten, und die wissen nach bürgerlich-westlicher Übereinkunft nichts von Freiheit und Menschenwürde. Es gab viele Bürger unter den Opfern des 20. Juli. Doch nach den Umschulungen waren das recht zweifelhafte Gestalten, nationalistisch und gar nicht konsequent marktwirtschaftlich ausgerichtet.

Wohin man schaute: ein peinliches Erbe. Die allergrößte Verlegenheit bereitete die Unbefangenheit, mit der in all den Kreisen von der Nation geredet wurde, von Deutschland als einer sittlich-geistigen Größe, die ungeachtet aller Verbrechen alle Untergänge überdauert. Stauffenberg starb mit dem Ausruf: "Es lebe unser heiliges Deutschland!" Hölderlinsches Pathos schien nach 1945 nicht mehr angebracht. Die Westdeutschen bildeten sich sofort zu Abendländlern, die ganz Fortschrittlichen unter ihnen drängten schon in eine transatlantische Zivilisation. In der Ost-Zone, der späteren DDR, hatte man hingegen keine Furcht vor Nationalismus. Das neue Deutschland sollte zurückfinden zu seiner entwürdigten Schönheit. Davon sprach Johannes R. Becher, der noch in der Moskauer Emigration dazu aufforderte: "Laßt uns alle singen 'Deutschland, hoch in Ehren!' / wenn getilgt ist Deutschlands tiefste Schmach".

Der Nationalismus der Kommunisten diskriminierte endgültig die durch Niederlage wie Schuld und Verstrickung belasteten Vorstellungen vom Vaterland und der Nation im westlichen Trizonesien, der späteren BRD. Wer beschrieb, wie deutscher Nationalismus untrennbar mit Aggressivität und Totalitarismus zusammenhinge, brauchte nur nach "drüben" zu weisen. Dort unterdrückten "rote Preußen" die Freiheit und verwehrten es dem Menschen, dem anderen als Menschen zu begegnen. "Homo hominis homo", das war die westdeutsche Devise, die wirtschaftlich-geschäftliche Emsigkeit nicht hemmte. Vor leichtsinniger Nachgiebigkeit gegenüber national begründetem kommunistischen Werben mußte gar nicht allzu nachdrücklich gewarnt werden.

Im Schatten der Wohlstandseichen bei gutgehenden Geschäften wollten sich die Westdeutschen von der Geschichte und ihren Unwägbarkeiten erholen. Adenauer und seine Nachfolger unterstützten sie in dieser politischen Bedürfnislosigkeit. Sie fürchteten das Chaos, das im deutschen Gemüt lauere. Sie fürchteten die Deutschen, die vor sich selbst geschützt werden müßten. Sie sollten, gänzlich europäisiert, in der atlantischen Wertegemeinschaft und in der globalisierten Gemeinschaft fröhlicher Endverbraucher zum Prototypen des für alles offenen und durch nichts zu bestimmenden neuen Menschen werden, den das postnationale Zeitalter benötigt.

Bei solchen Hoffnungen sind Erinnerungen an den 20. Juli nicht sonderlich willkommen. Sie könnten nur Irritationen verstärken, die Deutschen zuweilen Momente des Unbehagens verschaffen. Die Nation gibt es. Deren Zahl wächst ununterbrochen. Die USA verstehen sich gar als die unentbehrliche Nation, die überall für Ordnung in ihrem Sinne sorgen darf. Wenn den Deutschen die amerikanische Umtriebigkeit ein wenig unheimlich wird, dann rufen sie nach der Autorität der Vereinten Nationen.

Die Verschwörer vom 20. Juli dachten an Europa als Gemeinschaft der Nationen. Sie setzten voraus, daß jede ihre Besonderheiten je nach der Geschichte besitzt und bewahren will auch bei innigster Koordinierung der wechselnden Interessen. Denn Interessen können nur ausgeglichen werden, wenn sie als solche, und in der Politik eben als nationale vorgetragen werden.

Allmählich werden Deutsche unsicher in einer Welt, die sich so gar nicht nach ihrem Willen und ihrer Vorstellung zu einer postnationalen wandeln will. Sie haben die Wiedervereinigung mit der DDR als großes Erziehungsprogramm der Verwestlichung und der Europäisierung "durchgeführt". Die Europäer nahmen daran keinen Anteil. Sie betrachten die Wiedervereinigung als eine deutsche Angelegenheit. Europa hat sich mit der abermalige Existenz einer deutschen Nation längst abgefunden. In einem Europa der Nationen entspricht eine deutsche Nation der Regel. Alles andere wäre eine beunruhigende Anomalie. Nur die Deutschen brauchen noch einige Zeit, sich daran zu gewöhnen. Das Hochwasser der Elbe hat im vergangenen Jahr die katastrophensüchtigen Deutschen davon überzeugt, ein Volk, eine Handlungsgemeinschaft zu sein, sogar eine Kulturgemeinschaft. Denn Dresden war darüber mit seinen bedrohten Kunstschätzen gleichsam zum Inbegriff deutscher Kultur geworden.

Doch schon vorher hatte der Eifer nachgelassen, in "Dunkeldeutschland" ununterbrochen nach Dunkelheiten zu suchen. Nachdem fast zehn Jahre die Deutschen der ehemaligen DDR umerzogen worden waren, ergreift jetzt sogar ihre westlichen Therapeuten eine Neugier. Die DDR wird jetzt auch von den Westdeutschen als Teil einer deutschen Gesamtgeschichte angesehen. Die Erinnerungen zum 17. Juni 1953 haben das gezeigt. Die zaghaften Versuche, sich wieder der Kriegs-und Nachkriegszeit anzunähern, dem Bombenkrieg, der Flucht und Vertreibung, bestätigen, daß die Deutschen die Rückbindung an ihre konkrete Geschichte als ein dramatisches Gesamtgeschehen suchen.

Im nächsten Jahr soll ein Film über den Grafen Stauffenberg an den 20. Juli erinnern. Geschichtsbilder werden heute über Bilder verändert oder überhaupt gewonnen. Immerhin ist es ein Symptom, daß der 20. Juli als Thema aufgegriffen wird. Ein Symptom dafür, daß die Deutschen sich an ihre Vergangenheit als einer nationalen herantasten, einer nationalen mitten in der europäischen Geschichte. Offensichtlich möchten die Deutschen wissen, was sie außer Schuld und Versagen auch noch vereint und zusammenhält. Nicht zuletzt daran wollten Stauffenberg und seine Gefährten 1944 die Deutschen erinnern, in der bitteren Erwartung der Teilung und Besatzung. Der Kalte Krieg ist ausgestanden. So besteht nun auch die Möglichkeit, sich von ideologischen Vorurteilen zu befreien und in allen Widerstandskämpfern den Patrioten zu erkennen, der je auf seine Weise an ein neues Deutschland dachte, an die Nation, die wieder mit sich in Übereinstimmung gerät.


 
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